Einführende Vorträge zum Johannesevangelium
Kapitel 5
In Kapitel 5 sehen wir zunächst Christus im Gegensatz zum Gesetz. Der Mensch erwies sich unter dem Gesetz als kraftlos; und je größer die Not, desto geringer war die Fähigkeit, sich solcher barmherziger Akte übernatürlichen Eingreifens zu bedienen, die Gott von Zeit zu Zeit auch unter dem System des Gesetzes gewährte. Derselbe Gott, der sich sogar unter den Heiden nicht unbezeugt ließ, indem Er Gutes tat und vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gab (Apg 14, 17), versäumte nicht, bei dem niedrigen Zustand der Juden hin und wieder durch Kräfte der Vorsehung zu wirken. So lud Er die Kranken zu dem bewegten Wasser von Bethesda ein und heilte den ersten, der in das Wasser sprang, von seiner jeweiligen Krankheit. In den fünf Säulenhallen dieses Teiches lagen damals eine große Anzahl Kranker, Blinder, Lahmer und Dürrer, die auf die Bewegung des Wassers warteten. Doch unter ihnen befand sich ein Mann, der seit achtunddreißig Jahren kraftlos war. Jesus sah den Mann, und da Er wusste, wie lange dieser schon krank war, fachte Er sein Verlangen nach Heilung an und offenbarte die Mutlosigkeit des Unglaubens. Wie genau kennzeichnete jener einen Menschen unter Gesetz! Kein Sünder kann Heilung durch das Gesetz erreichen. Das Gesetz macht die Krankheit nur umso offenkundiger, falls es die Symptome nicht sogar noch verstärkt. Es bewirkt keine Befreiung, sondern legt den Menschen in Ketten und bringt ihn ins Gefängnis, in Finsternis und unter das Verdammungsurteil. So bleibt er als Kranker oder Übertreter zurück – unfähig, die Entfaltung der Güte Gottes zu nutzen. Gott lässt sich niemals unbezeugt. Er hatte es unter den Nationen und erst recht in Israel gezeigt. Doch als einzige Wirkung offenbart das Gesetz, dass ein Mensch unter ihm keinen Nutzen aus dem Heilmittel ziehen kann.
Jesus hingegen sprach einfach das Wort: „Stehe auf, nimm dein Bett auf und wandle!“ (V. 8). Das Ergebnis folgte sofort. Es war Sabbat. Die Juden, die weder helfen konnten, noch Mitleid mit ihrem Volksgenossen in seiner lang anhaltenden Kraftlosigkeit und seiner Enttäuschung hatten, waren aufgebracht, als sie ihn am Sabbat heil und gesund sein Bett tragen sahen. Sie mussten jedoch erfahren, dass sein göttlicher Arzt ihn nicht nur geheilt, sondern ihm auch diesen Auftrag erteilt hatte. Sofort versuchte ihre Bosheit die wohltuende Macht Gottes in diesem Fall herabzuwürdigen, weil sie sich einbildeten, dass dem siebten Tag Unrecht geschehen sei.
Hatten die Juden nicht Recht, wenn sie dachten, dass das Siegel des ersten Bundes durch das wohlüberlegte Wort und die Vollmacht Jesu gebrochen war? Er hätte den Mann auch heilen können ohne die geringste äußere Handlung, die ihren Eifer für das Gesetz schockieren musste. Er hatte dem Mann ausdrücklich gesagt, dass er nicht nur aufstehen, sondern auch sein Bett aufnehmen und wandeln sollte. Darin lag Absicht. Über ihr ganzes jüdisches System wurde das Urteil des Todes ausgesprochen; und sie fühlten es. Der Geheilte konnte den Juden nicht den Namen seines Wohltäters nennen. Doch Jesus fand ihn im Tempel und sagte: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, auf dass dir nichts Ärgeres widerfahre“ (V. 14). Der Mann ging weg und erzählte den Juden, dass es Jesus war; und darum verfolgten sie Ihn, weil Er am Sabbat geheilt hatte.
Doch eine noch schwerwiegendere Angelegenheit wurde nun verhandelt. Jesus antwortete ihnen: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke. Darum nun suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten“ (V. 17–18); denn Er fügte den viel größeren Anstoß hinzu, dass Er sich selbst Gott gleich machte, indem Er sagte, dass Gott sein Vater sei.
So mussten sie sich sowohl mit seiner Person als auch mit seinem Werk auseinander setzen. Keine Frage konnte von größerer Bedeutung sein. Falls Er die Wahrheit sagte, waren sie Lästerer. Wie schön ist jedoch die Gnade angesichts ihres Hasses und ihrer stolzen Selbstgefälligkeit! „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke.“ Sie hatten keine gemeinsamen Gedanken, Gefühle und Wege mit dem Vater und dem Sohn. Hielten die Juden eifrig den Sabbat? Vater und Sohn waren am Werk. Wie konnten Licht und Liebe auf einem Schauplatz von Sünde, Finsternis und Elend ausruhen?
Beschuldigten sie Jesus der Selbsterhöhung? Keine Anklage konnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Er konnte, Er wollte sich nicht verleugnen, denn Er war der Sohn, das Wort und Gott. Doch Er hatte den Platz eines Menschen, eines Knechtes, eingenommen. Folglich antwortete Er: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selbst tun, außer was er den Vater tun sieht; denn was irgend er tut, das tut auch der Sohn gleicherweise. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er selbst tut, und er wird ihm größere Werke als diese zeigen, auf dass ihr euch verwundert. Denn gleichwie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, also macht auch der Sohn lebendig, welche er will. Denn der Vater richtet auch niemand, sondern das ganze Gericht hat er dem Sohne gegeben, auf dass alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben übergegangen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dass die Stunde kommt und jetzt ist, da die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die sie gehört haben, werden leben. Denn gleichwie der Vater Leben in sich selbst hat, also hat er auch dem Sohne gegeben, Leben zu haben in sich selbst; und er hat ihm Gewalt gegeben, auch Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist. Wundert euch darüber nicht, denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören, und hervorkommen werden: die das Gute getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber das Böse verübt haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (V. 19–29).
Offensichtlich stellte der Herr das Leben in Ihm selbst als das wahre Bedürfnis des Menschen, der nicht nur kraftlos, sondern sogar tot ist, dar. Das Gesetz sowie Hilfsmittel und Anordnungen konnten der Not nicht begegnen – kein Teich, kein Engel – nichts als der Sohn in Gnade, der Sohn, welcher lebendig macht. Selbst eine Heilung in seinen Regierungswegen konnte in „Ärgerem“ enden durch die Sünde (V. 14). Der Mensch, so wie er ist, benötigt Leben aus dem Tod; und dieses gibt der Vater im Sohn. Wer den Sohn leugnet, hat den Vater nicht. Wer den Sohn anerkennt, hat auch den Vater. Das ist die Wahrheit. Die Juden besaßen das Gesetz und hassten die Wahrheit. War die einzige Folge ihrer Verwerfung des Sohnes, dass ihnen diese unendliche Segnung des Lebens in Ihm verloren ging? Nein! Der Vater hat das ganze Gericht dem Sohn übergeben. Er will, dass alle den Sohn ehren, wie sie Ihn ehren.
Wenn in der Person des Sohnes das Leben ist, dann war es gewiss nicht die Absicht Gottes, dass bezüglich einer so bedeutsamen Angelegenheit wie seiner Sendung die geringste Ungewissheit bestehen blieb. Er wollte, dass jede Seele zweifelsfrei wusste, wie sie für Zeit und Ewigkeit stand. Es gibt dafür nur einen unfehlbaren Test: Der Sohn Gottes – Gottes Zeugnis über Ihn. Darum wird anscheinend der 24. Vers hinzugefügt. Es geht nicht um das Gesetz, sondern um das Hören des Wortes Christi und den Glauben an den, der Ihn gesandt hat. Wer dies tut, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht; er ist aus dem Tod in das Leben übergegangen. Der Herr war seit Ewigkeiten das Wort und Gott, sowie der eingeborene Sohn im Schoß des Vaters; Er war aber auch der Sohn Gottes als in diese Welt geboren. War dies in ihren Augen falsch und eine Lästerung? Sie konnten nicht leugnen, dass Er ein Mensch – der Sohn des Menschen – war. Nein, das konnten sie nicht. Darum leugneten sie in ihren Überlegungen, dass Er Gott war. Sie mussten also lernen, dass Er als Sohn des Menschen (wegen dieser menschlichen Natur verachteten sie Ihn und leugneten sie seine wesensmäßige persönliche Herrlichkeit) richten wird. Dieses Gericht wird keine vorübergehende Heimsuchung sein, wie Gott sie durch Engel oder Menschen in vergangenen Zeiten ausgeübt hatte. Das ganze Gericht – sowohl über die Lebenden als auch die Toten – ist dem Sohn überlassen, weil Er des Menschen Sohn ist. So verteidigt Gott die beschimpften Rechte seines Sohnes; und die Schwere des Gerichts wird der Größe der Herrlichkeit entsprechen, die verachtet wurde.
So ernst entfaltete der sanftmütige Herr Jesus diese beiden Wahrheiten. In Ihm war Leben für diesen Schauplatz des Todes; und jenes muss durch Glauben empfangen werden, damit es aus Gnaden sei. Auf diese Weise wird seine Ehre allein in denen gewahrt, die Gottes Zeugnis über Ihn, den Sohn Gottes, glauben. Diesen gibt Er Leben, ewiges Leben, und Befreiung vom Gericht. Dabei handelt Er sowohl in Gemeinschaft mit dem Vater als auch in eigener Unumschränktheit. Der Sohn gibt genauso Leben wie der Vater, und zwar nicht nur entsprechend dem Willen des Vaters, sondern auch nach seinem eigenen Willen. Nichtsdestoweniger hatte der Sohn den Platz eines Abgesandten, den Platz der Unterordnung auf der Erde, eingenommen und konnte sagen: „Mein Vater ist größer als ich“ (Joh 14, 28). Er akzeptierte diesen Platz völlig und mit all seinen Folgen. Doch seine Feinde mochten sich hüten, diese Erniedrigung zu missbrauchen. Gibt man zu, dass Er der Sohn des Menschen ist, dann muss man auch anerkennen, dass Ihm als solcher das ganze Gericht übergeben ist und dass Er richten wird. So muss jeder auf die eine oder andere Weise den Sohn ehren. Der Vater richtet nicht, sondern hat das ganze Gericht in die Hände des Sohnes gegeben, weil Er der Sohn des Menschen ist. Die Zeit war noch nicht da, in öffentlicher Macht diese zukünftigen – ja, damals schon offen gelegten – Wahrheiten zu bekunden. Jetzt ging es um Glauben oder Unglauben. Hörten die Toten, denn als solche werden die Menschen betrachtet (und nicht als lebendig unter dem Gesetz) – hörten sie die Stimme des Sohnes Gottes? Dann würden sie leben. Obwohl der Sohn – jenes ewige Leben, das bei dem Vater war – Mensch wurde, hat der Vater Ihm doch als ein solcher das Recht gegeben, Leben in sich selbst zu haben und Gericht auszuüben, weil Er der Sohn des Menschen ist. Die Alternative für den Menschen ist das Gericht. Für Gott ist letzteres das Mittel, die Herrlichkeit des Sohnes zu verwirklichen. Das geschieht in jener Natur, die der Sohn angenommen hat und in der – und wegen der – die Menschen, blind für ihre eigene höchste Würde, Ihn zu verachten wagten. Zwei Auferstehungen, die eine zum Leben, die andere zum Gericht, sollen sowohl den Glauben als auch den Unglauben offenbaren – oder vielmehr die Gläubigen und jene, die den Sohn ablehnen. Daher brauchten seine Zuhörer sich über das, was Er damals sagte und tat, nicht zu verwundern; denn eine Stunde wird kommen, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und herauskommen. Die Gutes getan haben, auferstehen zum Leben, die Bösen zum Gericht. Die Auferstehung wird alles offenbar machen. In der jetzigen Zeit wird die große Frage entschieden. Jetzt nimmt ein Mensch entweder Christus an oder er verwirft Ihn. Die Annahme Christi bringt ihm ewiges Leben; und Christus wird durch ihn geehrt. Anderenfalls bleibt das Gericht und erzwingt die Ehre Christi. Doch das bedeutet ewiges Verderben für jenen Menschen. Die Auferstehung liefert den Beweis – besser gesagt, die zweifache Auferstehung, denn es gibt nicht nur eine, sondern zwei Auferstehungen. Die Auferstehung des Lebens enthüllt, wie wenig jene, die dem Bericht über Gottes Sohn geglaubt haben, zu Schanden werden. Die Auferstehung zum Gericht wird solchen, die den Herrn verachteten, nur zu deutlich seine Ehre und ihre eigene Sünde und Schande zeigen.
Unser Kapitel zeigt also in einzigartiger Fülle die Herrlichkeit des Herrn Jesus, und zwar sowohl in Bezug auf seine Gottheit als auch seine Menschheit. Passend dazu endet es mit den verschiedenen und bemerkenswerten Zeugnissen, die Gott uns gegeben hat, damit wir ohne Entschuldigung seien. Seine Herrlichkeit war so strahlend, ihre Aufrechterhaltung dem Vater so wichtig, ihre Annahme so gesegnet und die Gefahr ihres Verlustes so schrecklich, dass Gott die reichhaltigsten und klarsten Zeugnisse gewährte. Er richtet nie ohne hinreichende Warnung. Folglich gibt es ein vierfaches Zeugnis über Jesus: Die Aussagen Johannes' des Täufers, die Werke des Herrn, die Stimme des Vaters vom Himmel und zuletzt das geschriebene Wort, das die Juden in Händen hielten. Letzterem weist der Herr die größte Bedeutung zu. Dieses Zeugnis unterscheidet sich von den anderen durch seinen bleibenden Charakter. Die Bibel ist immer bei den Menschen – oder sollte es zumindest sein. Es ist keine Botschaft von kurzzeitiger Bedeutung oder ein Zeichen, das wieder verschwindet, sobald es gesehen wurde. Als Mittel der Überzeugung nimmt es nach den Gedanken des Herrn notwendigerweise den ersten Platz ein, so wenig die Menschen heute auch daran denken. Das Endergebnis zeigt, dass die wirkliche Ursache und Quelle der Feindschaft der Wille des Menschen ist. „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf dass ihr Leben habet“ (V. 40). Es lag nicht am Zeugnis. Ihr Wille suchte jedoch die gegenwärtige Ehre und zeigte sich feindlich gegen die Herrlichkeit des einzigen Gottes. Sie würden dem Antichrist zur Beute fallen. Inzwischen verklagte Mose sie, auf den sie vertrauten, ohne ihm zu glauben; anderenfalls würden sie Christus geglaubt haben, von dem Mose geschrieben hatte.