Einführende Vorträge zum Johannesevangelium
Kapitel 4
Das 4. Kapitel zeigt uns den Herrn unter Samaritern, mit denen die Juden keinen Umgang pflegten, außerhalb Jerusalems – fern vom Volk der Verheißung. Das war eine Folge pharisäischer Eifersucht. Jesus saß ermüdet von der Reise an der Quelle des Jakobsbrunnen bei Sichar. Welch ein Bild von Verwerfung und Erniedrigung! Es war jedoch nicht vollständig. Auf der einen Seite hat Gott uns schon die Herrlichkeit des Sohnes und die Gnade, mit der Er erfüllt war, vorgestellt. Jetzt strahlen auf der anderen Seite diese Charakterzüge umso wunderbarer auf, wenn wir erkennen, wie Er sich mit einer sündigen und entehrten Frau aus Samaria beschäftigt. Hier fand eine Begegnung zwischen solch einer Person und dem Sohn – wahrer Gott und ewiges Leben – statt. Die Gnade beginnt das Gespräch; die Herrlichkeit neigt sich herab. „Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken“ (V. 7). Es erschien ihr befremdend, dass ein Jude sich so herabließ. Wie erstaunt wäre sie erst gewesen, wenn sie in Ihm den Sohn Gottes erkannt hätte! „Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du die Gabe Gottes kenntest, und wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so würdest du ihn gebeten haben, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben“ (V. 10). Unendliche Gnade! Unendliche Wahrheit! Wie offenbaren sie sich hier von seinen Lippen einer Frau, welche die Verkörperung der Sünde, des Elends, der Blindheit und der Entehrung war! Doch die Gnade stellte nicht die Frage, wer sie war. Es ging darum, wer Er war, der sie gewinnen und segnen wollte, indem Er damit praktisch und ausführlich Gott und den Vater offenbarte. Sicherlich saß Er dort als ein müder Mann getrennt vom Judentum. Doch Er war Gott, der Gott aller Gnade, der sich herabließ, um einen Trunk Wasser zu bitten, weil Er ihr die reichste und dauerhafteste Gabe geben wollte. Wasser, das Er gibt, vertreibt, wenn man einmal davon getrunken hat, allen Durst. Ja, es wird in dem, der getrunken hat, zu einer Wasserquelle, die ins ewige Leben quillt. Auf diese Weise wird der Heilige Geist, den der Sohn in seiner Erniedrigung nach dem Willen Gottes – und nicht nach dem Gesetz, sondern als Gabe der Gnade im Evangelium – mitteilt, kennzeichnend dargestellt. Die Frau war zwar interessiert und verlangend; sie sah jedoch in seinen Worten nur eine Wohltat für dieses Leben, durch die sich die Schwierigkeiten auf der Erde erleichtern ließen. Das bot Jesus die Gelegenheit, um uns die Lektion zu lehren, dass zuerst das Gewissen erreicht und ein Bewusstsein der Sünde hervorgerufen werden muss, bevor die Gnade verstanden wird und Frucht hervorbringt. Davon lesen wir in den Versen 16 bis 19. Der Herr breitete das Leben der Frau vor ihr aus, und sie bekannte, dass Gott selbst in seinen Worten zu ihr sprach. „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist“ (V. 19). Sie wich Ihm mit einer Frage über die Religion aus. Einerseits wollte sie etwas darüber erfahren, was sie beunruhigte und verwirrte, andererseits einer solchen Untersuchung ihrer Wege und ihres Herzens entgehen. Der Herr enthielt ihr indessen in seiner Gnade nichts von der Offenbarung Gottes vor, nämlich dass die irdische Anbetung verworfen sei und dass man den Vater anbeten müsse und keinen Unbekannten. Während Er das Vorrecht der Juden keineswegs leugnete, verkündete Er nichtsdestoweniger: „Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter. Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten“ (V. 23–24). Damit war der entscheidende Punkt erreicht, denn die Frau sagte: „Ich weiß, dass der Messias kommt, welcher Christus genannt wird; wenn jener kommt, wird er uns alles verkündigen“ (V. 25). Jesus antwortete: „Ich bin's, der mit dir redet“ (V. 26). Darüber kamen die Jünger zurück. Die Frau ging in die Stadt, wobei sie ihren Wasserkrug stehen ließ. Dafür nahm sie die unaussprechliche Gabe Gottes mit. Ihr Zeugnis trug den Eindruck dessen, was bisher in ihre Seele eingedrungen war und zur rechten Zeit den Weg für all die anderen Wahrheiten bereiten würde. „Kommet, sehet einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was irgend ich getan habe; dieser ist doch nicht etwa der Christus?“ (V. 29). „Jeder, der da glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren“ (1. Joh 5, 1). Sie erkannte schon viel; dennoch war es nur ein kleiner Teil seiner Herrlichkeit. Aber er war ihr wirklicher Besitz; und dem, der hat, wird gegeben werden (Mt 13, 12).
Die Jünger wunderten sich, dass Er mit der Frau redete. Wie wenig begriffen sie, was damals gesagt wurde und geschehen war! „Rabbi, iss“, baten sie. „Er aber sprach zu ihnen: Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennet.“ Sie verstanden seine Worte genauso wenig wie seine Gnade. Wie bei der Samariterin gingen ihre Gedanken nicht über die Dinge dieses Lebens hinaus. Jesus erklärte daher: „Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe. Saget ihr nicht: Es sind noch vier Monate, und die Ernte kommt? Siehe, ich sage euch: Hebet eure Augen auf und schauet die Felder an, denn sie sind schon weiß zur Ernte. Der da erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben, auf dass beide, der da sät und der da erntet, zugleich sich freuen. Denn hierin ist der Spruch wahr: Ein anderer ist es, der da sät, und ein anderer, der da erntet. Ich habe euch gesandt zu ernten, woran ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet, und ihr seid in ihre Arbeit eingetreten“ (V. 31–38).
So ist der verworfene Christus nicht nur identisch mit dem gekreuzigten Sohn des Menschen und dem von Gott gegebenen Sohn Gottes nach Kapitel 3, sondern auch selbst ein göttlicher Geber in Gemeinschaft mit dem Vater. In der Kraft des Heiligen Geistes, der den Gläubigen mitgeteilt wird, ist Er für sie die Quelle der Anbetung ihres Gottes und Vaters in Geist und Wahrheit. (Allerdings soll damit nach Hebräer 1 der Sohn nicht von der Anbetung ausgeschlossen werden). So muss es sein; denn Gott ist geoffenbart worden; und der Vater sucht in Gnade wahre Anbeter, seien es Samariter oder Juden, um Ihn anzubeten. Hier sehen wir demnach nicht so sehr das Mittel, durch welches Leben geschenkt wird, sondern vielmehr die Offenbarung der vollen Segnung der Gnade und der Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn durch den Heiligen Geist, in welchem wir gesegnet sind. Daher gibt hier der Sohn entsprechend der Gnade Gottes des Vaters den Heiligen Geist – ewiges Leben in der Kraft des Geistes. Das ist nicht einfach die neue Geburt, die ein Heiliger empfangen hat und empfangen muss, um jederzeit zu Gott lebendige Beziehungen aufrechtzuerhalten. In Umständen, welche die Gedanken und Wege Gottes unmissverständlich darstellen, verfolgt die reine und schrankenlose Gnade jetzt ihren unabhängigen Lauf passend zur Liebe und persönlichen Herrlichkeit Christi. Denn wenn der Sohn Gottes genau genommen aus dem Judentum, wie man wohl sagen darf, hinausgeworfen worden war, Samaria besuchte und sich herabließ, mit einer der unwürdigsten Frauen aus einem unwürdigen Volk zu reden, dann konnte das keine einfache Wiederholung dessen sein, was andere vor Ihm getan hatten. Nicht Jakob saß da, sondern der Sohn Gottes in uneingeschränkter Gnade; und so machte Er der samaritischen Frau, und nicht den Lehrern Israels, jene wunderbare Mitteilung, die uns in beispielloser Tiefe und Schönheit die wahre Quelle und Kraft und den Charakter jener Anbetung entfaltet, die nicht nur die schismatische (abtrünnige) und rebellische Religion Samarias, sondern auch das Judentum in seinem besten Zustand aufhebt. Offensichtlich sprach Er von der Anbetung in ihrer christlichen Fülle, nachdem Gott geoffenbart und der Vater in Gnade bekannt ist. Die Anbetung wird unter zweierlei Gesichtspunkten betrachtet: Zum einen ihrer sittlichen Natur nach, zum anderen als Freude der Gemeinschaft. Zunächst einmal sollen wir, wenn überhaupt, in Geist und Wahrheit anbeten. Das ist unerlässlich, denn Gott ist ein Geist. Zum Zweiten sehen wir ein Überfließen der Güte, indem der Vater Kinder sammelt, um sie zu Anbetern zu machen. Der Vater sucht Anbeter. Welche Liebe! Kurz gesagt: Wir erkennen die Reichtümer der Gnade Gottes entsprechend der Herrlichkeit des Sohnes und in der Kraft des Heiligen Geistes. Indem der Herr die Arbeit aller früheren Arbeiter voll anerkannte, stand vor Ihm die grenzenlose Ausbreitung der Gnade, die reiche Ernte, welche seine Apostel bald ernten sollten. Damit stellte Er in treffender Voraussicht die Frucht in Herrlichkeit vor. Inzwischen sollte die Stunde für christliche Anbetung anbrechen; dabei war sie dem Grundsatz nach in seiner Person schon da. Während der Herr das Heil als aus den Juden bestätigte, bewies Er doch, dass diese Wahrheit für Samariter und einen jeden gilt, der aufgrund seines Wortes glaubt. Ohne Zeichen, Wunder oder übernatürliche Taten hörten die Bewohner in diesem Dorf Samarias Jesus zu und erkannten und anerkannten Ihn als den wahren Heiland der Welt. Das war den Juden mit all ihren Vorrechten fremd. Sie wussten, was sie anbeteten; aber sie beteten nicht den Vater an – und zudem nicht „wahrhaftig“. Solche Töne, solche Wirklichkeiten waren niemals vorher in Israel gehört oder gesehen worden. Wie wurden jene Leute im verachteten Samaria in diesen zwei Tagen mit dem Sohn Gottes unter ihnen erfreut! Es musste so sein; denn niemand hatte ein Anrecht darauf. Die Gnade übertrifft alle Erwartungen oder Gedanken des Menschen, insbesondere wenn dieser eine Folge religiöser Zeremonien gewohnt ist. Christus wartete nicht bis zur Erfüllung jener Zeit, in der die alten Dinge verschwinden und alles neu gemacht wird. Seine Liebe und Person waren Berechtigung genug, um dem Einfältigen für eine Weile den Schleier zu lüften. Er führte die Herzen, welche Ihn angenommen hatten, in den bewussten Genuss der göttlichen Gnade und Desjenigen, Der sie ihnen geoffenbart hatte. Das geschah natürlich nur vorläufig. Dennoch war es für sie eine tiefe Wirklichkeit, als die Gnade in der Person des Sohnes, dem Heiland der Welt, unter ihnen war. Er füllte ihre einst finsteren Herzen mit Licht und Freude.
Das Ende des Kapitels zeigt uns den Herrn wieder in Galiläa. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen dem früheren Ereignis in Kana, der Hochzeit (Kap. 2), und diesem. Die Verwandlung des Wassers in Wein weist eindeutig symbolisch auf das Tausendjährige Reich hin. Die Heilung des Sohns eines königlichen Beamten, der krank war und im Sterben lag, ist ein Zeugnis von dem, was der Herr damals tatsächlich unter den Verachteten in Israel tat. In den übrigen, den sogenannten synoptischen Evangelien finden wir den Herrn seinen Dienst gewöhnlich in Galiläa erfüllen. Johannes gibt uns diese Verbindung zu den anderen Evangelien, obwohl das Ereignis nur bei ihm geschildert wird. Unser Evangelist weist ausschließlich durch diesen kurzen Bericht auf den Besuch des Herrn in Galiläa hin; und dieses Wunder war der besondere Gegenstand, mit dem sich Johannes unter der Leitung des Heiligen Geistes hier beschäftigen sollte. So wie in der früheren Begebenheit die Handlung des Herrn in Galiläa ein Sinnbild auf die Zukunft darstellte, so soll dieses Wunder wohl seinen damaligen Weg der Gnade in jenem verachteten Landesteil kennzeichnen. Er tadelte die Erwartung von Zeichen und Wunder. Trotzdem wurde der Tod aufgehalten. Des Herrn körperliche Anwesenheit war nicht nötig; sein Wort war genug. Beim Vergleich dieser Heilung mit der von dem Knecht des Hauptmanns in Matthäus 8 und Lukas 7 zeigen sich die Unterschiede wenigstens genauso groß wie die Gemeinsamkeiten. Einige alte und moderne Ausleger haben beide Wunder miteinander vermengt. Genauso verfuhren sie auch bei den Salbungen Jesu durch Maria und der Sünderin von Lukas 7.
Eine der Besonderheiten unseres Evangeliums besteht darin, dass wir den Herrn von Zeit zu Zeit – ja, eigentlich, überwiegend – in Jerusalem oder seiner Umgebung finden. Dies ist umso auffälliger, wenn wir berücksichtigen, dass, wie wir gesehen haben, die Welt und Israel Ihn verworfen haben und darum von Anfang an selbst verworfen sind. Seine Herrlichkeit sollte geoffenbart werden. Entsprechend werden die Ereignisse geschildert; Ort und Volk sind dabei von geringer Bedeutung.