Das Evangelium nach Lukas
Kapitel 13
Gerade in diesem Augenblick erwähnten einige der Anwesenden den Fall der unglücklichen galiläischen Männer, die durch Pilatus die Todesstrafe erlitten hatten. Sie hatten den Eindruck, daß diese besonders schlimme Sünder gewesen waren. Der Herr legte es auf die Gewissen Seiner Zuhörer, daß ihre eigene Schuld ebenso groß wäre und daß sie gleicherweise umkommen würden. Er führte noch den Fall der achtzehn Menschen an, auf die der Turm zu Siloam gefallen war und sie getötet hatte. Nach allgemeiner Ansicht waren das außergewöhnliche Ereignisse, die auf einen außergewöhnlich bösen Zustand der Betroffenen schließen ließen. Doch die Menschen, die Ihm zuhörten, begingen eine noch schlimmere Bosheit, wenn sie ihre günstige Gelegenheit nicht erkannten; und indem sie Ihn verwarfen, würden sie nicht entrinnen. So warnte Er sie vor der Vergeltung, die sie zu erwarten hatten.
Der Grund zu dieser Vergeltung ergibt sich aus dem Gleichnis vom Feigenbaum (Verse 6-10). Gott hatte in jeder Hinsicht ein Recht darauf, von dem Volk Frucht zu erwarten. Er suchte sie, aber fand keine. Dann geschah über ein Jahr hin ein Dienst für diesen Baum statt irgendeiner Forderung an ihn. Jesus war unter ihnen und diente ihnen in der Gnade Gottes, ohne mit den Forderungen des Gesetzes auf sie einzudringen. Wenn das ohne Wirkung blieb, dann mußte der Fluch eintreffen. Um diesen Punkt geht es nun bei allen Unterweisungen ab dem Ende des 12. Kapitels; diese Kapitel gehen nahtlos ineinander über.
Nun folgt eine wunderschöne Begebenheit (Verse 10-17), in der bildlich vorgestellt wird, was die Gnade dort, wo sie angenommen wird, ausrichten wird. Obwohl die arme Frau zusammengekrümmt und hilflos war, besuchte sie den Gottesdienst in der Synagoge. Ihr körperlicher Zustand war ein passendes Bild von der geistlichen Not vieler Menschen. Sie waren voller geistlicher Schwachheit und empfanden das Gesetz als ein bedrückendes Joch, so sehr, daß sie unter seiner Last zusammengekrümmt waren, unfähig, sich selbst aufzurichten und nach oben zu blicken.
Diese Frau war eine Tochter Abrahams“, d.h. ein echtes Kind des Glaubens (siehe Galater 3,7). Doch Satan hatte seine Hand in diesem traurigen Zustand und nutzte ihre Schwachheit aus. Zudem achtete der Synagogenvorsteher auf die Beachtung des Zeremonialgesetzes, um die Heilung zu verhindern. Doch der Herr schob all das beiseite. Durch Sein Wort und Seine persönliche Berührung führte Er ihr sofortige Befreiung herbei. Es gibt viele, die sagen könnten: „Bei mir war es das Gesetz und Schwachheit und hoffnungslose Gebundenheit und die Macht Satans, bis Christus in der Macht Seiner Gnade eingriff, und was für ein Wechsel trat dann ein!“ Befreiungen wie diese beschämen die Widersacher und erfüllen viele mit großer Freude. Es sind tatsächlich „herrliche Dinge, die durch ihn geschahen“.
In diesem Augenblick zeigte der Herr auf, daß selbst die Einführung der Gnade und der Macht des Reiches noch nicht einen unbedingt vollkommenen Zustand herbeiführen würde. Die Gleichnisse vom Senfkom und vom Sauerteig, die wir hier finden, machen klar, daß das starke Wachstum und die fortschreitende Ausdehnung der äußeren Form des Reiches zugleich von unerwünschten Elementen und sogar von Verderbtheit begleitet sein würden.
Vers 22 unseres Kapitels bedeutet, historisch betrachtet, einen deutlichen Einschnitt. Wir sehen den Herrn jetzt auf Seiner Reise nach Jerusalem, und wie Er in den Städten und Dörfern, durch die Er kommt, lehrt. Und obwohl das so ist, stellen wir keine wesentliche Veränderung in Seinen Belehrungen fest. Die Frage in Vers 23 entsprang anscheinend einer gewissen Neugierde, und in Seiner Entgegnung spricht der Herr Worte der Unterweisung und Warnung, die mit dem zu tun haben, was wir kurz vorher finden. Wenn die Entfaltung der Gnade des Reiches einen solchen Mischzustand hervorbringen würde, wie ihn die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig veranschaulichen, dann mußte der schmale Weg des Lebens unbedingt aufrichtig und ernsthaft gesucht werden.
Das Wort „Ringet danach...“ in Vers 24 bezeichnet nicht irgendeine Art von Tätigkeit, sondern entschiedenen Eifer, der die Züge des Kampfes annimmt. Es ist gleichsam, als ob Er sagte: „Kämpft darum, durch die enge Pforte einzugehen, solange die Möglichkeit dazu besteht.“ Viele suchen einen weiteren Eingang durch die Erfüllung von Zeremonien, auf die Vers 26 hinweist. Nur was persönlich und geistlich ist, das nützt. Es gibt keinen wirklichen Eingang außer über den schmalen Weg der Buße. So legt der Herr hier erneut die Nutzlosigkeit einer lediglich äußeren Religion dar. Es kommt auf die innere Wirklichkeit an.
Die Gleichnisse der Verse 18-21 zeigen uns, daß das Reich in seiner gegenwärtigen Form eine Mischung sein würde, die sich aber in seiner künftigen Form nicht wiederfindet, wie Vers 28 zeigt. Dann werden die Patriarchen in diesem Reich gefunden werden und bloße Zeremonialisten werden hinausgeworfen sein. Vers 29 spielt an auf die Berufung der Heiden, die bevorstand, denn die Gnade war im Begriff in mächtigen Wirkungen in die weite Welt auszuströmen. Die Gnade kann sich nicht - wie wir schon früher in diesem Evangelium gesehen haben - auf jüdische Grenzen und Formen beschränken. Sie ist wie neuer Wein, der Schläuche zerbricht. Historisch gesehen, kam der Jude zuerst, aber angesichts der Gnade hinderte ihn seine tief eingewurzelte Gesetzlichkeit oft, so daß er als letzter hinzukam. Der Heide, der in dieser Hinsicht unbehindert war, tritt an die erste Stelle, wenn es um die Gnade geht.
Das Kapitel schließt mit einer sehr ernsten Bemerkung. Diesmal ist es nicht der Jude, sondern Herodes, der zum Gericht erscheint. Er verbarg seine Feindseligkeit mit der Schlauheit eines Fuchses, doch Jesus durchschaute ihn ganz und gar. Und Er wußte wohl, daß Sein eigenes Leben, das von Barrnherzigkeit gegenüber dem Menschen gekennzeichnet war, durch Tod und Auferstehung vollendet werden sollte. Der Haß des Herodes war da nur eine geringfügige Sache. Ausschlaggebend war die Verwerfung des Christus und aller Gnade, die in Ihm war, durch Jerusalem. Gott hatte das Volk dieser Stadt durch Seine Propheten angesprochen, und jetzt suchte Er es durch Seinen Sohn zu sammeln. Das hier gebrauchte Bild ist sehr schön. Die Propheten hatten sie, nachdem sie das Gesetz gebrochen hatten, zu ihren Verpflichtungen zurückgerufen und zugleich die Ankunft des Messias vorhergesagt. Nun war Er in der Fülle der Gnade gekommen, und Seine Flügel hätten sie beschützen können. Leider war alles vergeblich.
Jerusalem rühmte sich des schönen Hauses in seiner Mitte. Früher hatte der Herr Jesus es „das Haus meines Vaters“ genannt; jetzt anerkennt Er es nicht mehr und spricht von „eurem Haus“. Er überläßt es ihnen öde und leer. Jerusalem hatte seine günstige Gelegenheit versäumt. Bald würde es seinen Messias nicht mehr sehen, bis der Ruf aus Psalm 118,26 gehört würde, der „von dem Hause Jehovas“ ausgehen wird. Dieser Ruf wird auf den Lippen des Volkes dieser Stadt nicht vernommen werden, bis der Tag Seiner zweiten Ankunft anbricht.