Das Evangelium nach Lukas
Kapitel 10
Nachdem die Jünger in dieser Weise belehrt worden waren, dehnte der Herr das Zeugnis in Verbindung mit Seiner Gegenwart auf der Erde weiter aus, indem Er siebzig andere Jünger bestimmte und aussandte, zu je zwei vor Seinem Angesicht her. Sein Wort von der großen Ernte und den wenigen Arbeitern scheint Er nach Matthäus 9,37.38 bei anderer Gelegenheit ausgesprochen zu haben. Dort findet das Gebet in der Aussendung der Zwölf eine Antwort, hier in der Aussendung der Siebzig.
Die Anweisungen, die der Herr den Siebzig erteilte, sind denen ähnlich, die Er den Zwölfen gab. Sie sollten schlicht auftreten, für sich nichts suchen und sich in allen Bedürfnissen von Ihm abhängig fühlen. Außerdem warnte Er sie vor wachsendem Widerstand seitens des Volkes. Er sagte ihnen, daß sie wie Lämmer unter Wölfen sein würden, in der Tat ein sehr eindringliches Gleichnis. Doch trotz der Ablehnung sollten sie sehr klar verkündigen, daß das Reich Gottes nahe zu dem Volk gekommen sei.
Diese Siebzig nahmen nicht den besonderen Platz der Zwölf ein, dennoch repräsentierten sie völlig den Herrn, wie aus Vers 16 deutlich hervorgeht. Dieser Vers stellt denselben Grundsatz auf wie Vers 48 des vorhergehenden Kapitels. Doch so demütig diese Siebzig sein mochten, was sie ausrichteten, hing weitgehend von der Haltung der Menschen gegenüber der Botschaft ab. Kapernaum und andere Städte jener Tage, die dieses Zeugnis empfingen, würden eine weit höhere Verantwortung haben; das Zeugnis zu verwerfen bedeutete, ein schwereres Gericht auf sich zu ziehen als andere Städte, die eine solche Botschaft nie erreicht hatte.
Was während des Dienstes der Siebzig geschah, wird im einzelnen nicht berichtet. Die frühere Arbeit der Zwölf war in nur einem Vers zusammengefaßt worden (9,6). Wir weisen darauf hin, weil Lukas von Gott erwählt war, die Taten der Jünger in der Apostelgeschichte niederzuschreiben; doch das geschah erst nach der Ausgießung des Heiligen Geistes. Bevor der Geist gegeben war, hatte ihr Werk eine weit geringere Bedeutung. Das Licht, das aus ihrem Dienst leuchten mochte, verblaßte angesichts des vollkommenen Lichts, das ihr Meister ausstrahlte. In Vers 17 kehren sie von der Aussendung zurück.
Sie sind voller Freude, vor allem darüber, was am meisten Aufsehen erregt hatte, daß ihnen im Namen des Meisters sogar die Dämonen untertan waren. Das war wirklich eine gewaltige Erfahrung und ein Beweis dafür, daß Satan letztlich aus dem Himmel hinausgeworfen werden wird. Die Anspielung in Vers 18 bezieht sich, wie wir glauben, nicht auf den ursprünglichen Fall Satans, sondern auf seine endgültige Entmachtung, wie sie in Offenbarung 12,3-9 vorhergesagt ist. Die Zeitform der Vergangenheit wird in prophetischen Aussprüchen oft gebraucht, um zukünftige Ereignisse zu beschreiben. Das ist auch der Fall in den aus der Offenbarung angeführten Versen; Jesaja 53,3-9 ist ein weiteres Beispiel. So bestätigte der Herr die Vollmacht, die Er ihnen zu der Zeit verliehen und die sie über alle Macht des Feindes ausgeübt hatten. Doch gleichzeitig wies Er auf etwas hin, das über alle auf der Erde verliehene Macht weit hinausging.
Er sagte zu ihnen: „Freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind.“ Es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie in diesem Augenblick das Wunder dieser Aussage nicht zu schätzen wußten. Später werden sie es gewußt haben, und wir sollten es wertschätzen, seitdem es auch auf uns zutrifft. Das Bild ist einfach. Unsere Namen sind in der Stadt oder dem Bezirk verzeichnet, wo wir ansässig sind. In Wirklichkeit sagte der Herr zu diesen Männern: Ihr habt himmlisches Bürgerrecht, und das ist Ursache, sich zu freuen, mehr als über die Macht, die euch auf der Erde übertragen worden ist. Das Lukasevangelium vermittelt uns besonders den Übergang vom Gesetz zur Gnade und von der Erde zum Himmel, und da ist dieser Vers eine hervorragende Wegmarkierung. Es ist hier eine erste Andeutung der Wahrheit, die in Philipper 3,20 völlig ans Licht tritt: „Unser Bürgertum ist in den Himmeln.“
In jener Stunde - der Stunde, in der die Siebzig hocherfreut waren - frohlockte auch Jesus selbst. Er sah nicht nur den kommenden Fall Satans mit der sich daraus ergebenden Vereitelung all seiner bösen Pläne, sondern das Handeln des Vaters zur Verwirklichung all Seiner Pläne. Diesen herrlichen Plänen lag zugrunde, daß Er selbst vollkommen offenbart und bekannt sein wird, und diese Offenbarung soll vielmehr „Unmündigen“ als den Weisen und Klugen dieser Welt zuteil werden.
Der Sohn war Mensch geworden, damit Er als solcher Menschen den Vater offenbaren könnte. Und das nicht allein, Er ist selbst der Erbe aller Dinge. Der abhängige Mensch auf der Erde wußte, daß der Vater Ihm alles übergeben hatte. Überdies war eben die Tatsache, daß Er Mensch geworden war, ein Ereignis, das allem menschlichen Verstehen trotzt. Er wurde Mensch, damit der Vater erkannt werden könnte. Als Mensch ist Er der Erbe aller Dinge, doch möge kein Mensch vorgeben, das Geheimnis, das eine solch unendliche Herablassung umhüllen muß, ergründen zu können. Wenn wir uns selbst für so weise und klug halten, das versuchen zu können, so wird es zu unserem eigenen Verderben gereichen. Aber wenn wir in der Tat Unmündige sind, werden wir das Geheimnis mit demütiger, unterwürfiger Gesinnung annehmen und uns an allem, was Er vom Vater und Seinen Ratschlüssen offenbart hat, erfreuen.
Nachdem Er so über Seinen eigenen Auftrag und die Gnade, die bedeutungslose „Unmündige“ aufnahm, frohlockt hatte, wandte sich der Herr an die Jünger, um ihnen die Größe ihrer gegenwärtigen Vorrechte zu zeigen. Sie sahen Dinge, auf die bereits gottesfürchtige Menschen in vergangenen Zeiten zu sehen begehrt hatten. Sie sahen und hörten Dinge, die mit der Offenbarung des Vaters auf der Erde zu tun hatten. Und ein Werk geschah vor ihren Augen, das zur Berufung eines Volkes für den Himmel führen würde. All dies wurde im Augenblick nur den Jüngern anvertraut.
Öffentlich gab es nichts als Konflikte. Die Frage des Gesetzgelehrten, die in Vers 25 berichtet wird, war scheinbar aufrichtig, wurde in Wirklichkeit aber mit einem bösen Hintergedanken gestellt. Er fragte, was er tun müßte, und der Herr, der sein Motiv erkannte, knüpfte an sein Tun an. Es war das Gesetz, das vom Menschen forderte, daß er etwas tat, deshalb die Frage des Herrn. Indem der Mann sagte, daß die höchste Forderung des Gesetzes im Gebot der Liebe bestand, zuerst der Liebe zu Gott und dann auch zum Nächsten, hatte er recht geantwortet. Jesus konnte ihm schlicht sagen: Tue dies, und du wirst leben“ -nicht: „Du wirst ewiges Leben haben“, sondern nur „leben“. Für die Erde gibt es kein Leben, außer wenn das Gesetz gehalten wird.
Der Gesetzgelehrte hatte den Herrn versuchen wollen, und jetzt sah er sich von seiner eigenen Antwort gefangen. In dem Wunsch, sich zu rechtfertigen, fragte er, wer sein Nächster wäre. Er wollte wohl damit sagen, daß, wenn solche da seien, die Ihm auch genügend zusagten, er keine Schwierigkeit hätte, sie zu lieben. Dieser Frage begegnete der Herr mit dem Gleichnis von dem Samariter, und dem Gesetzgelehrten selbst blieb übrig zu beurteilen, wer der Nächste war. Wiederum antwortete er richtig trotz der Abneigung, die der Jude gegenüber dem Samariter fühlte. Indem er so urteilte, beantwortete er seine eigene Frage, und war verpflichtet, einerseits so zu handeln wie der Samariter, zum anderen den Samariter zu lieben wie sich selbst.
Die Belehrung dieses Gleichnisses geht jedoch über die bloße Beantwortung der Frage des Gesetzgelehrten hinaus. In der Handlungsweise des Samariters können wir ein Bild der Gnade sehen, die das Kommen des Herrn kennzeichnete. Der Priester und der Levit, Vertreter des gesetzlichen Systems, gingen auf der anderen Seite vorüber. Das Gesetz war nicht dazu bestimmt, Sündern zu helfen, noch weniger, sie zu retten. Wäre der halbtote Mann in ihren Armen gestorben, würden beide, Priester und Levit, sich verunreinigt haben und für ihren Dienst eine Zeitlang untauglich gewesen sein. Wie der Samariter, so war auch Jesus ein Verworfener, und doch war Er der Diener der Gnade und der Errettung. Wenn wir in Vers 20 den Übergang von der Erde zum Himmel angedeutet fanden, so wird in diesem Gleichnis der Übergang vom Gesetz zur Gnade sichtbar.
Von dieser Einsicht aus ist auch klar, daß der Herr Jesus der wahre und beste Nächste war, den der Mensch jemals hatte - der wirklich vollkommene Nächste. Er war auch Gott, vollkommen offenbart und gekannt. In Ihm waren Gott und der Nächste vereinigt, und indem die Menschen Ihn haßten und verwarfen, hatten sie im selben Augenblick und hoffnungslos das Gesetz in beiden Anklagepunkten gebrochen.
Aber nicht alle verwarfen Ihn, einige nahmen Ihn auf. Und so folgen am Schluß dieses Kapitels und im ersten Teil des nächsten sehr erfreuliche Hinweise über die Art und Weise, wie solche mit Ihm in Verbindung kommen. Da ist die Kraft Seines Wortes und das Gebet und die künftige Gabe des Heiligen Geistes.
Maria hatte die Kraft Seines Wortes entdeckt. Es öffnete ihr ein Tor, um in die Gedanken Gottes einzugehen; sie setzte sich deshalb zu Seinen Füßen und lauschte. Martha schien bei der Erfüllung ihres Dienstes nur an ihre Pflicht zu denken, die durchaus auf ihr lag. Ihr Problem lag darin, daß sie danach trachtete, viel zu tun, und sie wünschte der Aufgabe in einer ganz besonderen Form gerecht zu werden. Das „beschäftigte sie“ oder „zog sie ab“. Ihre „Ablenkung“ ging so weit, daß ihre Art zu sprechen nicht nur ihre Schwester, sondern den Herrn anklagte. Sie empfand, Maria vernachlässige ihre Pflicht und den Herrn störe ihr Versäumnis nicht. Martha veranschaulicht Ablenkung, und Maria Gemeinschaft.
Marthas Ablenkung war die Folge davon, daß sie zuviel Arbeit (eine Sache die an sich ganz gut ist) in Händen hatte. Sie wurde besorgt und beunruhigt um viele Dinge und verfehlte doch das eine, das nottut. Ihrer Schwester war aufgegangen, daß alles, was sie für den Herrn tun konnte, nichts war, verglichen mit dem, was der Herr ihr mitzuteilen hatte. Daß wir Sein Wort empfangen, ist die eine notwendige Sache, denn daraus entspringt aller Dienst, den Er annehmen kann. Das ist das gute Teil, das nicht weggenommen werden wird.
Wir glauben, daß viel von der Schwachheit der heutigen Christen durch dieses eine Wort erklärt werden kann - Ablenkung. So viele Dinge aus allen Richtungen, oft völlig harmlos in sich selbst, werden uns dargeboten, daß wir von der einen wichtigen Sache abgelenkt werden. Wir mögen dadurch nicht immer besorgt und beunruhigt werden, wir brauchen nur davon fasziniert und damit beschäftigt zu sein. In beiden Fällen ist das Ergebnis dasselbe: wir verfehlen das eine. Und dann sind wir tatsächlich die Verlierer.