Das Evangelium nach Lukas
Kapitel 7
Lukas hat soeben die Erwählung der zwölf Apostel durch den Herrn berichtet und ebenso die Belehrungen, die Er ihnen gab, insbesondere daß ein Geist der Gnade sie kennzeichnen und Wirklichkeit bei ihnen gefunden werden sollte. Wir sehen, daß Er sie nicht sogleich zu ihrem Auftrag aussandte, sondern sie noch in Seiner Begleitung zurückhielt, damit sie weiterhin von Ihm selbst lernen möchten, sowohl aus Seinen Worten als auch durch Seine Taten. Die Aussendung zum Dienst geschieht nicht vor Beginn des neunten Kapitels.
Wir haben schon bemerkt, wie dieses Evangelium vornehmlich die Gnade entfaltet. Dieses Kapitel führt, wie wir sehen werden, dieses Thema weiter fort, indem es uns eindrucksvoll den ganzen Umfang der Gnade erkennen läßt. Ihre Segnungen gehen aus zu den Heiden, zu den Toten, zu den Ausgestoßenen.
Weiterhin tritt sehr deutlich ans Licht, wie die Gnade empfangen wird - nämlich durch Reue und Glauben.
Der erste Fall berichtet von dem Heiden. Der Hauptmann zeigte, daß er seinen Platz unter denen anerkannte, die „entfremdet dem Bürgerrecht Israels und Fremdlinge betreffs der Bündnisse der Verheißung“ (Eph 2,12) waren, indem er Älteste der Juden sandte, um Fürsprache für ihn einzulegen. Diese Ältesten waren auf dem besten Weg, die Gnade zu verderben, indem sie, entsprechend ihrer Erziehung unter dem Gesetz, den Hauptmann als der Hilfe würdig bezeichneten. Seine Würde bestand ihres Erachtens in seinem freundlichen Verhalten ihnen gegenüber! Das war ganz typisch für jüdisches Denken. Statt zu sehen, daß ihr eigenes Gesetz sie verurteilte, betrachteten sie es als eine ihnen verliehene Auszeichnung. So wurden sie ichbezogen. Sie machten sich selbst und das Verhalten ihnen gegenüber zum Prüfstein für andere. Nach ihren Maßstäben war dieser Heide ein würdiger Mensch.
Dagegen hatte der Hauptmann selbst in dieser Hinsicht keine Illusionen. Er bekannte sich als unwürdig und gab dadurch einen Geist der Reue zu erkennen. Gleichzeitig bekundete er einen bemerkenswerten Glauben an die Gnade und Macht des Herrn. In der militärischen Organisation Roms hatte er eine Stellung von niederer Autorität inne, doch verfügte er über absolute Macht innerhalb seines eigenen kleinen Bereichs. Er sah den Herrn dafür an, daß Er Autorität in einem weit größeren Herrschaftsgebiet ausübte, und deshalb vertraute er darauf, daß nur eines Seiner Worte all seiner Not entsprechen würde. Unsere Sprache sollte der seinen gleichen. Es genügt völlig, daß Er nur „ein Wort spricht', mehr brauchen wir nicht. Der Glaube, der Ihn einfach bei Seinem Wort nimmt, ohne Rücksicht auf Urteile, Gefühle oder Erfahrungen, ist „großer Glaube“, so beurteilt ihn der Herr. Wir sehen darüber hinaus, wie eng Glaube und Buße verbunden sind. Sie gehen Hand in Hand.
Nach dieser Begebenheit kommen wir zu dem toten Menschen, der von Nain aus zu Grab getragen wird. Hier ist kein Glaube zu sehen, nur das Mitgefühl und das Handeln des Herrn erfüllen die Szene. Gnade und Vollmacht treten gleichwertig und völlig aufeinander abgestimmt hervor. Göttliches Mitleid leuchtet aus den Worten: „Weine nicht!“, die Er der trauernden Mutter zuspricht. Dann wurde Seine Autorität gespürt, als Er die Bahre anrührte und der ganze Leichenzug in dem Augenblick stillstand. Und Sein Machtwort brachte den Jüngling zum Leben zurück.
Da ist jemand, der spricht, und der Tote gehorcht Ihm. „Ich sage dir, stehe auf!“ Wer ist dieser „Ich“? Wir mögen diese Frage wohl stellen. Die Volksmenge stellte sie jedenfalls und kam zu dem Schluß, daß Gott einen großen Propheten in ihrer Mitte erweckt hatte. Die Kunde von diesem Ereignis erreichte sogar Johannes den Täufer im Gefängnis. Gerade diese eine Frage, wer Er denn schließlich sei, bewegte um diese Zeit die Gedanken des Johannes. Da traf es passend zusammen, wenn er jetzt zwei Jünger zu Jesus sandte.
Die Verse 19-35 scheinen eine Art Einschaltung zu sein, die uns zeigt, daß die Entfaltung von Macht, die in Gnade ausgeübt wird, und nicht in äußerem Gepränge, eben der Beweis für die Gegenwart des Messias ist. Den Boten des Johannes war es gestattet, reichliche Beweise dieser gnadenvollen Macht zu sehen. Sie sahen, wovon Jesaja 61,1 sagte, daß Er sie erbringen würde. Damit war ausreichend bewiesen, wer Er war.
Als Er sich dann an das Volk wandte, nachdem die Boten des Johannes gegangen waren, zeigte Er auf, daß Sein Vorläufer Johannes nicht nur keine unbedeutende Persönlichkeit gewesen war, sondern daß er auch nicht prächtig und luxuriös aufgetreten war. Seine ganze Sendung hatte in völligem Einklang gestanden mit dem Wesen dessen, den er ankündigte, der unendlich groß und dennoch in Gnade und Niedrigkeit gekommen war. Er bezeichnete Johannes als einen so großen Propheten, daß kein anderer größer war. Das machte natürlich sofort klar, daß, wenn das Volk von Christus selbst als „einem großen Propheten“ sprach, sie weit hinter der Wahrheit über Ihn zurückblieben.
Was Johannes und seine Größe betraf, so würde doch der Geringste in dem kommenden Reich Gottes größer als er sein - nicht in moralischer Hinsicht, aber in der Stellung, die er einnehmen würde. In moralischer Weise war Johannes in der Tat sehr groß, und sein Zeugnis war von einer solchen Bedeutung, daß das Geschick der Menschen sich in ihrer Haltung ihm gegenüber entschied. Die Zöllner und Sünder nahmen es an, und indem sie dadurch Gott rechtfertigten, wurden sie zu guter Letzt zu Christus geführt. Die Pharisäer und Gesetzgelehrten verwarfen dieses Zeugnis, und so verwarfen sie später auch Christus. Vers 28 können wir nur verstehen, wenn wir zwischen der moralischen Größe, die von dem Charakter eines Menschen abhängt, und jener Größe unterscheiden, die der Stellung entspringt, in die Gott uns zu berufen gefallen mag und die in den verschiedenen Haushaltungen unterschiedlich ist.
Der Herr beschreibt nun durch ein treffendes, kurzes Gleichnis den Charakter des Ihn umgebenden ungläubigen Geschlechts. Sie glichen launischen Kindern, denen nichts recht zu machen war. Weder Munteres noch Ernstes konnte sie gewinnen. So wollten sich die Juden nicht unter das herzerforschende Zeugnis des Johannes beugen, noch mochten sie sich über den gnadenvollen Dienst Jesu freuen. Den einen prangerten sie an als von einem Dämon besessen, den anderen tadelten sie fälschlicherweise. Doch es gab auch solche, die die göttliche Weisheit in beiden Zeugnissen erkannten, und sie waren die wahren Kinder der Weisheit.
In der Begebenheit, die dieses Kapitel abschließt, wird all das noch einmal eindrucksvoll veranschaulicht. Simon, der Pharisäer, war unter den Kritikern, die an allem etwas auszusetzen hatten, obwohl er Jesus zu einem Mahl in seinem Haus eingeladen hatte. Die stadtbekannte Sünderin war unter denen, die Jesus rechtfertigten, und dadurch erwies sie sich als ein echtes Kind der Weisheit und wurde auch selbst gerechtfertigt.
Mit dem Kummer und der Zerknirschung dieser Frau konnte der stolze Pharisäer nichts anfangen. Mit sich selbst zufrieden, tadelte er Jesus und unterstellte Ihm Empfindungen, die er selbst gegen eine solche Person gehegt haben würde. Die Folge davon war die sichere Annahme, daß Jesus überhaupt kein Prophet war. Vers 16 hat uns gezeigt, daß zumindest das gewöhnliche Volk Ihn für einen Propheten hielt, und zwar für einen großen. Soweit war Simon nicht gekommen. Jene hatten einen Schimmer von Licht wahrgenommen, er war völlig blind, denn nichts blendet auf der Erde einen Menschen mehr als eine falsche Religion. Gleichwohl gab der Herr dem Simon umgehend ein Beispiel Seiner machtvollen prophetischen Gewalt.
Simon sprach nur „bei sich selbst“. Er dachte, dem Herrn fehle es an Urteilsvermögen gegenüber dieser Frau. Jesus zeigte ihm sogleich, daß Er seine Heuchelei durchschaute und seine geheimen Gedanken las, indem Er ihm das Gleichnis von den beiden Schuldnern vorlegte. Der eine Schuldner war zehnmal mehr in Verpflichtungen verstrickt als der andere, doch da sie beide kein Vermögen hatten, waren sie gleicherweise bankrott. Deshalb behandelte sie der Gläubiger auch gleich; er hatte vergebendes Erbarmen für beide. Dieses Gleichnis bezweckte, Simon zu der Einsicht zu bringen, daß, obwohl er weniger Sünden haben mochte als diese Frau, er doch ebenso vollkommen zahlungsunfähig war und er, genau wie sie, der vergebenden Barmherzigkeit bedurfte.
Nun lieben Schuldner gewöhnlicherweise nicht ihre Gläubiger, doch ein Gefühl für vergebende Gnade ruft Liebe hervor, und selbst Simon konnte in dieser Hinsicht richtig urteilen. Und dann war es leicht, diese Einsicht anzuwenden. Simon hatte damals übliche selbstverständliche Höflichkeiten dem Herrn absichtlich vorenthalten. Er bot Ihm weder Wasser für Seine Füße, noch einen Kuß des Willkommens, noch Öl für Sein Haupt. Er hatte den Herrn in einer Weise empfangen, die einer Beleidigung gleichkam. Aber die elende Frau hatte alle diese Versäumnisse reichlich nachgeholt. Dabei hatte er kein Schuldgefühl und keine Liebe für den, der in vergebender Gnade zu ihm kam. Sie empfand wahre und tiefe Reue, gepaart mit Glauben an Jesus und einer brennenden Liebe für Ihn.
So sehen wir, wie die Gnade zu den Entehrten ausfließt und wie Buße und Glauben Hand in Hand gehen. Sie sind gleich der Vorder- und Rückseite einer einzelnen Münze. Die Gnade, die diese Frau überströmte, ist um so eindrucksvoller, weil sie auf ihrer Seite einem rein geistlichen Bedürfnis begegnete. Sie kam nicht wegen körperlicher Leiden und Nöte, für die sie Heilung suchte. Ihre Übel waren geistlicher Art; ihre Bürde war die Last ihrer Sünden. Die Gnade verlieh ihr überreiche Vergebung, und dem Simon wurde deutlich gesagt, worum es ging.
Aber der Herr sprach nicht nur zu dem Pharisäer von der Vergebung ihrer Sünden, Er wandte sich in diesem Punkt auch ihr ganz persönlich zu. Welcher Balsam mußten ihrem beschwerten Geist die vier Worte bedeuten: „Deine Sünden sind vergeben.“ Die Gläubigen des AT brachten das angemessene Opfer für jede Übertretung oder Sünde, und dann wußten sie, daß diese einzelne Sünde vergeben war. Eine solch vollständige Freisprechung, wie die Worte Jesu sie dieser Frau gaben, kannten sie nicht. Die es miterlebten, mochten wohl fragen: „Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt?“ Hier war Gott in der Fülle der Gnade in dem demutsvollen Heiland gegenwärtig.
Er vergab nicht nur, Er gab der Frau die Sicherheit des Heils und erklärte auch, daß ihr Glaube das Mittel dazu gewesen war. Ohne dieses Wort hätte sie sich einbilden können, daß ihr Kummer und ihre Tränen ihr das Heil bewirkt hätten. Doch nein, es ist der Glaube, der die eigentliche Berührung mit dem Heiland herstellt, was zum Heil führt. Sie konnte tatsächlich „in Frieden hingehen“, denn nicht nur besaß sie Vergebung, die ihre ganze Vergangenheit zudeckte, sondern sie hatte das Heil erlangt, und das bedeutete eine Befreiung von dem Bösen, dessen Sklavin sie gewesen war. Das vollbringt die Gnade.