Das Evangelium nach Lukas
Kapitel 6
Zu Beginn dieses Kapitels sehen wir, daß die Pharisäer und Schriftgelehrten versuchen, die Handlungsweise der Jünger und dann auch die gnadenvolle Macht des Herrn innerhalb der Grenzen des jüdischen Sabbats einzuschränken, entsprechend ihren eigenen, über die Belehrung des Gesetzes hinausgehenden Gewohnheiten. Dies illustriert Seine Belehrung am Schluß von Kapitel 5; der „Schlauch“ des jüdischen Sabbats zerreißt, und ihnen zum Trotz strömt die Gnade aus.
Der Ausdruck „am zweit-ersten Sabbat“ bezieht sich, wie wir glauben, auf 3. Mose 23,9–14 und soll uns zeigen, daß die“Webegarbe“ bereits dargebracht worden war, und deshalb gab es keinen Einwand gegen das Verhalten der Jünger außerhalb der den Pharisäern eigenen strengen Sabbatbräuche. Die Antwort des Herrn stellt zwei Punkte heraus: erstens Seine Stellung, zweitens Seine Person.
Seine Stellung entsprach jener Davids, als er in das Haus Gottes ging und die Schaubrote nahm. David war Gottes gesalbter König und dennoch verworfen, und es war nicht nach Gottes Absicht, daß Sein Gesalbter und dessen Begleiter darben sollten, damit geringfügige formelle Gesetzesvorschriften aufrechterhalten würden. Das ganze israelische System war durch die Zurückweisung des Königs untauglich geworden; daher war es nicht die Zeit, besondere Einzelheiten des Gesetzes in den Mittelpunkt der Gedanken zu stellen. So auch hier: die Pharisäer kümmerten sich um Nebensächlichkeiten, während sie Christus verwarfen.
Vers 5 legt den Nachdruck auf Seine Person. Der Mensch, wie er ursprünglich erschaffen war, sollte Herr über die irdische Schöpfung sein. Der Sohn des Menschen ist Herr über eine weitaus größere Sphäre. Der Sabbat konnte Ihn nicht begrenzen, vielmehr stand er zu Seiner Verfügung. Wer ist denn der Sohn des Menschen? Das eben wußten die Pharisäer nicht, doch der Herr enthüllte Seine Größe durch Seinen Anspruch.
Die Begebenheit des Mannes mit der verdorrten Hand folgt in den Versen 6–11. Hier brach erneut die Sabbatfrage auf, und die Pharisäer würden ihre Einwände formeller Art durchgedrückt haben, um die Ausübung der Barmherzigkeit an diesem Tag ganz zu verbieten. Wir sehen hier, wie der Herr nicht Seine Stellung und auch nicht Seine Person, aber Seine Macht behauptet. Er hatte die Macht, in Gnade zu heilen, und diese Macht übte Er aus, ob es ihnen gefiel oder nicht. Er nahm ihre Herausforderung an, ließ den Mann bis zur Mitte herzutreten und heilte ihn vor den Augen aller. Die Fürsten der Philister versuchten Simson mit „sieben frischen Stricken“ zu binden, es war vergeblich. Die Führer Israels versuchten Stricke aus den Sabbatbestimmungen zu drehen, um damit die gnädigen Hände Jesu zu binden, es war ebenso umsonst.
Da sie ihr Ziel verfehlten, wurden sie von Wut erfüllt und berieten, wie sie Ihn umbrächten. Angesichts ihres wachsenden Hasses suchte Jesus die Einsamkeit der Gemeinschaft mit Gott auf. Im letzten Kapitel sahen wir, daß Er sich zum Gebet zurückzog, als die Volksmengen Ihn drängten und alles günstig für Ihn stand. Jetzt, wo die dunklen Wolken der Anfeindung Ihn einzuhüllen scheinen, tut Er dasselbe. In allen Umständen war das Gebet die Zuflucht dieses vollkommenen Menschen.
Es ist ferner bedeutsam, daß Er nach dieser Nacht des Gebets jene zwölf Männer auswählte, die als Apostel ausgesandt werden sollten. Unter den Zwölfen war Judas Iskariot, und es mag uns rätselhaft erscheinen, warum er unter ihnen war. Doch der Herr erwählte ihn, und deshalb war seine Erwählung richtig. Ihm unterlief kein Fehler, nachdem Er die Nacht gebetet hatte.
Von Vers 17 ab bis zum Ende des Kapitels haben wir einen Bericht über die Belehrung, die Er Seinen Jüngern gab, und besonders diesen zwölf Männern. Ein allgemeiner Überblick Seiner Reden läßt sich zusammenfassen, wenn wir sagen, daß Er ihnen den Charakter erläuterte, den die von Ihm verkündete Gnade Gottes in ihnen hervorbringen würde. Seine Ansprache ähnelt sehr der Bergpredigt in Matthäus 5–7, doch die Gelegenheit scheint eine andere gewesen zu sein. Ohne Zweifel hat der Herr einander ähnliche Ausführungen wiederholt zu wechselnden Volksmengen gesprochen.
Bei dieser Gelegenheit wandte der Herr sich an Seine Jünger persönlich. In Matthäus beschrieb Er eine gewisse Klasse, indem Er sagt, daß ihrer das Reich ist. Hier sagt Er: „Euer ist das Reich“. So stellt Er jene Klasse den Jüngern gleich. Seine Jünger waren die Armen, die Hungernden, die Weinenden, die Gehaßten und Geschmähten. Eine solche Beschreibung läßt erkennen, daß Er Seine eigene Verwerfung als eine völlig eindeutige Sache behandelte, und die folgenden Verse (24–26) zeigen, daß Er das Volk in zwei Klassen aufteilte. Es gab solche, die Er mit sich selbst einsmachte, die Seine Betrübnis teilten, und es gab andere, die von der Welt waren und ihren vergänglichen Freuden lebten. Über die eine Klasse sprach Er Glückseligkeit aus, über die andere ein Wehe. War das nicht ein unerträglicher Widerspruch? Die Traurigen und Verworfenen sind die Gesegneten, die Glücklichen und beim Volk Beliebten stehen unter Gericht. Doch die einen folgen den Fußstapfen des Sohnes des Menschen und leiden um Seinetwillen, die anderen gehen auf dem Weg der falschen Propheten.
Nachdem Er so den Segen über die Jünger ausgesprochen hatte, gibt Er ihnen Weisungen, bei deren Befolgung sie Seinen eigenen Geist der Gnade widerspiegeln würden. Er sendet sie im Augenblick noch nicht eigentlich aus, aber Er unterweist sie im Blick auf ihr Ausgehen, um Ihn darzustellen und Seinen Interessen zu dienen. Der Geist der Gnade bekundet sich besonders in den Versen 27–38. Die Liebe, die ausgehen und sogar einen Feind umarmen kann, ist nicht menschlich, sondern göttlich, während irgendein Sünder sehr wohl jemanden, der ihn liebt, auch zu lieben vermag. Der Jünger Jesu ist berufen zu lieben, zu segnen, zu geben-, anderseits darf er nicht richten und nicht verurteilen. Das bedeutet nicht, daß ein Jünger nicht befähigt ist, zu unterscheiden und ein gesundes Urteil abzugeben, aber es bedeutet, daß bei ihm nie ein tadelsüchtiger Geist, der anderen Leuten voreilig falsche Motive unterstellt und sie somit richtet, gefunden werden sollte.
Diese Belehrungen waren solchen, die zur Nachfolge Christi schon während Seines Erdenlebens berufen waren, genau angemessen. Doch sie gelten sinngemäß genauso für die, die Ihm während Seiner Abwesenheit im Himmel zu folgen berufen sind. Dies ist der Tag der Gnade, an dem das Evangelium der Gnade verkündigt wird. Deshalb ist es von der allergrößten Wichtigkeit, daß der Geist der Gnade uns kennzeichnet. Ach, wie oft hat unser Betragen die Sache, mit der wir identifiziert wurden, Lügen gestraft. Viel gnadenvolle Wortverkündigung kann durch ein wenig ungnädiges praktisches Verhalten des Predigers oder seiner Freunde zunichte gemacht werden. Wenn wir Liebe offenbaren, erweisen wir uns als wahre Kinder Gottes – des Gottes, der „gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ ist.
Es ist nicht so leicht, eine rechte Reihenfolge der Belehrungen in den Versen 39–49 zu entdecken, aber sie besteht zweifellos. Diese Jünger sollten binnen kurzem als Apostel ausgesandt werden. Deshalb mußten sie selbst sehende Menschen sein. Wenn sie aber sehen sollten, mußten sie unterwiesen sein; und deswegen mußten sie den demütigen Platz zu den Füßen ihres Meisters einnehmen. Sie waren nicht über Ihm, Er war über ihnen, und das ihnen gesteckte Ziel war, Ihm gleich zu werden. Wenn ihre „Ausbildung“ abgeschlossen war, würden sie sein, wie Er ist.
Um diesen Abschluß zu erreichen, ist ein Geist des Selbstgerichts zu pflegen. Unsere natürliche Neigung geht dahin, andere zu verurteilen und ihre kleinsten Fehler wahrzunehmen. Wenn wir uns selbst richten, mögen wir einige sehr gravierende Fehler entdecken. Erst ein durch den Glauben bewirktes tiefgreifendes Selbstgericht befähigt uns, anderen zu helfen.
Von Vers 43 ab geht es um das äußere Bekenntnis der Jüngerschaft. Der Herr mag dabei besonders an Judas gedacht haben. Unter solchen, die den Platz Seiner Jünger einnahmen, könnte „ein böser Mensch“ gefunden werden, ebenso wie „ein guter Mensch“. An ihren Früchten sollen sie erkannt werden, sowohl im Reden wie im Handeln. Die Natur offenbart sich in der Frucht. Wir können in die Geheimnisse der Natur nicht eindringen, weder bei einem Baum noch bei einem Menschen, aber von der Frucht her können wir leicht und richtig auf das innere Wesen schließen.
Das führt uns zu der Einsicht, daß ein bloßes Bekenntnis nicht zählt. Menschen mögen Jesus wiederholt ihren Herrn nennen, aber wenn da kein Gehorsam gegenüber Seinem Wort ist, dann gibt es auch keine Jüngerschaft, die Er anerkennen kann. Jene Art von Fundament, das Prüfungen nicht zu erschüttern vermögen, wird nur durch Gehorsam gelegt. Das bloße Hören Seines Wortes ohne Gehorsam mag ein Gebäude erstellen, das wie ein echtes aussieht, aber am Tag der Prüfung wird es zusammenstürzen.
Mögen wir uns alle unter die erforschenden Kraft Seines Wortes stellen. Der treueste Gläubige bedarf es, sich ihr auszusetzen, und nicht einer von uns kann ihr entrinnen. Dabei geht es um die ganze Wahrheit. Nichts besitzen wir wirklich und fest, dem wir uns nicht im Gehorsam des Glaubens unterworfen haben – wohlverstanden: GEHORSAM des Glaubens, nicht nur dessen Zustimmung. Dann, und nur dann, werden wir darauf gegründet, und das in einer Weise, daß unser Glaubensgrund dem „Felsen“ vergleichbar ist.
Ohne jeden Zweifel legen diese Worte unseres Herrn das Geheimnis so manchen tragischen Zusammenbruchs wahrer Gläubiger offen, soweit es ihr Zeugnis angeht-, wie auch Zusammenbruch und Preisgabe des Bekenntnisses der Jüngerschaft seitens derer, die es ohne Wirklichkeit beansprucht hatten.
Wir sind dem Herrn Wirklichkeit schuldig, und das vor allem anderen.