Das Evangelium nach Lukas
Kapitel 5
Im vorhergehenden Kapitel sahen wir, wie der Herr Jesus in der Kraft des Geistes hervortrat, um die Gnade Gottes zu verkündigen, und dabei sogleich die Ablehnung des Menschen erfuhr. Wir sahen, daß Er, davon unberührt, dennoch Seinen Weg der Gnade fortsetzte. Dieses Kapitel nun liefert uns eine Reihe lieblicher Bilder, die veranschaulichen, was die Gnade in den einzelnen Fällen ihren Empfängern zu tun vermag. Vier Männer treten vor uns - Petrus, der Aussätzige, der Gelähmte, Levi - jeder von ihnen hat sein besonderes Kennzeichen. Ihre Reihenfolge ist nicht streng historisch, sondern nach moralischen Merkmalen angeordnet.
Matthäus und Markus erzählen uns beide, wie der Herr die vier Fischer zu Seinen Nachfolgern berief, doch nur Lukas berichtet uns über den wunderbaren Fischzug, der auf Petrus einen so tiefen Eindruck machte. Der Herr hatte sein Boot benutzt, wollte aber nicht sein Schuldner sein, und die Gnade schüttete eine reiche Belohnung auf ihn aus.
Er war von dem Erfolg des Fischzugs um so mehr betroffen, da mühevolle Arbeit während der Nacht nichts eingebracht hatte. Aber jetzt gab es nicht nur Überfluß, sondern noch darüber hinaus. Wo sie ein Übermaß an nutzloser Arbeit geleistet hatten, da sahen sie jetzt ein Ergebnis, das ihre Anstrengungen in den Schatten stellte. Sie waren nicht in der Lage, das aufzunehmen, was die Gnade darreichte.
Zweimal fuhr das Boot des Petrus auf den See hinaus, einmal zur Nachtzeit, wo man mit einem guten Fang rechnen konnte, und einmal bei Tag, wo solche Aussicht nicht gegeben war. Die Gegend war dieselbe bei beiden Gelegenheiten, so auch die Männer und ihre Ausrüstung. Was war denn anders? Eins war anders, nur eins. Christus war in das Schiff gestiegen. Petrus hatte offene Augen, um diese Tatsache wahrzunehmen, und offensichtlich bewirkte sie, daß er den Heiland vor sich von göttlichem Licht verklärt sah. Er erkannte sich selbst in der Gegenwart Gottes, obwohl Er in der Fülle der Gnade gegenwärtig war, und das bewirkte, daß Petrus in seinem Herzen von seiner eigenen Sündigkeit überführt wurde.
Das ist das erste, was die Gnade zuwege bringt - Überführung von Sünde. Sie bewirkt dies in weit tieferem Maß, als das Gesetz jemals vermochte, und doch zieht sie dabei an. Darin liegt der wunderbare Gegensatz. Das Gesetz Moses weckte bei seiner Verkündung am Sinai ein Gefühl der Untauglichkeit seitens des Volkes; es stieß sie zurück und schickte sie weit fort von dem brennenden Berg. Die Gnade in der Person Jesu überführte Petrus so völlig, daß er bekannte, ganz und gar sündig zu sein, und doch, indem er sich selbst zu den Füßen Jesu niederwarf, kam er dem Heiland so nahe, wie er überhaupt konnte.
Die nächste überaus passende Begebenheit hat mit einem Menschen zu tun, der nicht gerade voller Sünde, aber doch voller Aussatz war, der ein Bild der Sünde ist. Er war so vom Aussatz gezeichnet, daß er sich wie ein Ausgestoßener vorkam, der auf die freundliche Zuwendung des Herrn kaum noch rechnen konnte. Seiner Macht traute er wohl alles zu, doch an Seiner Gnade zweifelte er. So näherte er sich mit den Worten „Wenn du willst indem er seine völlige Erkrankung und auch seine Zweifel zu erkennen gab. Die Gnade des Herrn erhob sich augenblicklich zu ihrer vollen Höhe. Alle Kraft lag in Seinem Wort, doch streckte Er Seine Hand aus und berührte ihn, so als ob Er aus seinem Geist den letzten eingenisteten Zweifel für immer wegwische, um ihm völliges Wohlbefinden zu schenken.
Hier sehen wir nun, daß Gnade Reinigung bewirkt, eine Reinigung, die das Gesetz nicht zustande brachte, obwohl es eine Anerkennung durch die Priester vorsah für Reinigungsfälle, in denen die Kraft Gottes zu irgendwelcher Zeit gewirkt hatte. Hier war die Kraft Gottes in der Fülle der Gnade am Werk, ein lieblicher Anblick in der Tat! Wir wundern uns nicht, daß große Volksmengen zusammenkamen, um zuzuhören und geheilt zu werden, wie Vers 15 berichtet.
Übersehen wir Vers 16 nicht. Jesus hat den Platz des Menschen in der Abhängigkeit von Gott eingenommen, indem Er durch die Kraft des Geistes handelte. Gnade war freigebig von Ihm ausgeströmt, und jetzt nimmt Er sich Zeit zur Gemeinschaft mit Gott im Gebet, zurückgezogen von den Menschen, um danach wieder den menschlichen Bedürfnissen zu begegnen.
Als nächstes kommt der Fall eines Menschen, der gelähmt war und sich in einem Zustand äußerster Hilflosigkeit befand. Über seinen Glauben wird nichts gesagt, obwohl die Männer, die ihn brachten, einen erstaunlichen und kraftvollen Glauben bewiesen, den der Herr reichlich belohnte. Die anwesenden Pharisäer und Gesetzgelehrten bilden gleichsam den dunklen Hintergrund des Bildes. Auch bei ihnen bestand Not und Mangel, und des Herrn Kraft war da, um sie zu heilen, da die Gnade ihre unerschöpflichen Hilfsquellen unentgeltlich und allen anbot. Doch sie waren da, um zu geben und nicht zu empfangen. Sie übten Kritik, die sich aber als falsch erwies. Sie stießen ihre kritischen Bemerkungen hervor, und dabei verfehlten sie den Segen.
Der Mann erlangte den Segen - ihm wurde Kraft verliehen. Das war es, was er brauchte. Denn der ganz und gar sündige
Mensch bedarf nicht nur der Reinigung von seinen Sünden, sondern auch der Kraft über seine Sünde, und solche Kraft braucht er in Verbindung mit Vergebung. Es scheint bei diesem Mann offensichtlich, daß seine Lähmung eine Folge seiner Sünde war, und der Herr behandelte die Wurzel der Plage, bevor Er sich mit ihrer Auswirkung beschäftigte. Das ist der Weg, den die Gnade immer geht, sie verfährt nie auf eine oberflächliche Weise. Die kritisierenden Pharisäer konnten weder den Körper des Mannes aus den Fesseln seiner Lähmung noch seine Seele von der Schuld seiner Sünde befreien. Jesus konnte beides tun. Er erwies Seine Macht und vollbrachte das Wunder der Vergebung, das sich der menschlichen Beobachtung entzog, indem Er vor ihren Augen zugleich das Wunder der Heilung ausführte.
Die Pharisäer hatten ganz recht, wenn sie glaubten, daß niemand außer Gott Sünden vergeben kann. Als sie nun hörten, daß der Herr die Vergebung aussprach, nannten sie Ihn einen Lästerer. Wir aber folgern daraus, daß Er Gott ist. Jeder von uns hat hier klare Stellung zu beziehen, und welch ein Glück für uns, wenn wir die richtige Entscheidung schon getroffen haben. Die Heilung, die der Mann empfing, war Gott entsprechend. Er erhob sich als ein starker Mann, und war in der Lage, sofort sein Bett aufzunehmen und nach seinem Haus zu gehen. So verherrlichte er Gott, und die Zuschauer waren ergriffen und taten dasselbe. Wo die Gnade sich entfaltet, führt sie immer zur Ehre Gottes.
An vierter Stelle begegnen wir Levi, und er illustriert die Tatsache, daß die Gnade dem Herzen einen neuen, anziehenden Gegenstand gibt. Als Jesus ihn berief, war er gerade bei der angenehmen Beschäftigung, Geld zu kassieren. Aber sein Geist und sein Herz wurden augenblicklich von dem Geld abgelenkt, und er folgte dem Herrn nach, mit dem Ergebnis, daß er als nächstes den Vorgang umkehrte und, nach Psalm 112,9, nunmehr ausstreute und den Armen gab. Levi lud eine große Gesellschaft von Zöllnem und anderen zu einem Mahl. Er zeigte damit an, wie unverzüglich seine Überlegungen mit dem neu gefundenen Herrn übereinstimmten, und daß der Geist der Gnade auch ihn erfaßt hatte. Doch der wahre Gegenstand des Festes war Christus, denn so heißt es: „Levi machte ihm ein großes Mahl in seinem Hause.“ Die Pharisäer standen diesem Geist der Gnade völlig ablehnend gegenüber, doch ihre Einwendungen dienten lediglich dem Zweck, den Herrn zu dem bedeutsamen Ausspruch zu veranlassen: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße.“
Alles, was wir gesagt haben, läßt sich wie folgt zusammenfassen: Gnade überführt von der Sünde, dann reinigt sie von der Sünde, verleiht Kraft und gestaltet den Empfänger um zur Ähnlichkeit mit dem, der ihr Ausdruck ist. Christus wurde für Levi die Person, die ihn völlig in Beschlag nahm, und wir können sehen, wie er sich dem Geist seines Meisters öffnete.
Ab Vers 33 und weiter in Kapitel 6 tritt ein anderes Merkmal der Gnade deutlich hervor. Sie führt aus der Knechtschaft zur Freiheit. Die Pharisäer waren der Gnade abgeneigt, hielten sich aber streng an Fasten, Gebete und andere Zeremonien, die das Gesetz vorschrieb. Das Gesetz erzeugt Knechtschaft, aber die Gnade bringt Freiheit. Der Galaterbrief gibt darüber eine gründliche Belehrung. Diese Wahrheit, wie sie dort erklärt wird, konnte nicht voll erkannt werden, bis Christus gestorben und auferstanden und der Geist ausgegossen worden war. Doch hier finden wir schon, daß der Herr von den Dingen, die bald in hellem Licht erstrahlen sollten, zu sprechen beginnt. Seine Sprache ist gleichnishaft oder illustrierend, doch die Bedeutung ist klar. Als der wahre Messias war Er „der Bräutigam“, und Seine Gegenwart ließ die von den Pharisäern angesprochenen Einschränkungen für Seine Jünger nicht zu.
Ferner führte sie etwas Neues ein. In Ihm fing die Gnade Gottes an zu leuchten. Sie war gleich dem Stoffstück eines neuen Kleides, das man nicht als einen Flicken nahm, um ihn auf das alte Kleid des Gesetzes zu setzen. Das neue Gewebe wird das alte unter Spannung bringen, so daß es reißen wird. Es gibt keine Anpassung des neuen an das alte. Das Mißverhältnis läßt sich nicht beheben.
Nach einem Wechsel des Bildes wird die Gnade in ihrer Ausgedehntheit mit der Wirkung neuen Weines verglichen. Die vom Gesetz vorgeschriebenen Bräuche und Verhaltensformen erinnern an die brüchige Starrheit alter Schläuche. Wenn man versucht, das eine in das andere einzuschließen, verdirbt sicher beides. Neue Gefäße müssen gefunden werden, die die neue Kraft umfassen.
In dieser eindrucksvollen Weise machte der Herr deutlich, daß die Gnade Gottes, die in Ihm erschienen war, ihre eigenen neuen Bedingungen schaffen würde. „Satzungen des Fleisches“, die in Israel unter dem Gesetz bestanden, waren ihnen lediglich „auferlegt bis auf die Zeit der Zurechtbringung“ (Hebr 9,10). Gleichzeitig bezeugte Er ihnen, daß die Menschen natürlicherweise dem Gesetz vor der Gnade den Vorzug geben würden -der alte Wein paßte ihnen besser als der neue. Das erklärt sich aus der Tatsache, daß bei der Anordnung des Gesetzes vorausgesetzt wurde, daß der Mensch in der Lage sei, es zu halten; während die Gnade auf der eindeutigen Grundlage angeboten wird, daß der Mensch ein hoffnungslos verlorenes Geschöpf ist.