Einführende Vorträge zum Lukasevangelium
Kapitel 3
Im 3. Kapitel wird eine neue Szene eröffnet. „Im fünfzehnten Jahre der Regierung des Kaisers Tiberius,“ (denn die Menschen vergehen rasch, und die Spur, welche die Großen der Erde in ihrem Lauf hinterlassen, ist nur oberflächlich), „als Pontius Pilatus Landpfleger von Judäa war, und Herodes Vierfürst von Galiläa, und sein Bruder Philippus Vierfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis, und Lysanias Vierfürst von Abilene, unter dem Hohenpriestertum von Annas und Kajaphas, geschah das Wort Gottes zu Johannes, dem Sohne Zacharias', in der Wüste“ (V. 1–2). Was für ein seltsamer Stand der Dinge! Die Obergewalt über die Welt ist in andere Hände übergegangen. Wir sehen den Edomiter als Fürst. Was für ein politisches Durcheinander im Land, aber auch was für ein religiöses Babel! Wie wird hier jede göttliche Ordnung verlassen! Wer hat jemals vorher von zwei Hohenpriester gehört? So war es, als Christus offenbart werden sollte. Annas und Kajaphas waren die Hohenpriester. Keine Veränderungen in der Welt, keine Erniedrigung des Volkes Gottes, keine befremdende Amtsgemeinschaft von Priestern und keine Aufteilung des Landes durch Fremde konnten die Absichten der Gnade aufhalten. Im Gegenteil, sie liebt es, Menschen und Dinge in ihrem schlechtesten Zustand aufzugreifen und zu zeigen, was Gott für den Bedürftigen ist. So erscheint Johannes der Täufer hier in einem bestimmten Charakter – anders als wir ihn bei Matthäus und Markus gefunden haben, und wie er zum Thema des Lukasevangeliums passt. „Er kam in die ganze Umgegend des Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ (V. 3). Wir sehen die bemerkenswerte Größe seines Zeugnisses. „Jedes Tal“, sagte er, „wird ausgefüllt und jeder Berg und Hügel erniedrigt werden.“ (V. 5). Ein solches Zitat bringt ihn tatsächlich in Verbindung mit den Nationen und nicht allein mit den Juden oder jüdischen Zielen. „Alles Fleisch“, ist deshalb hinzugefügt, „wird das Heil Gottes sehen“ (V. 6).
Ganz offensichtlich zeigen diese Ausdrücke, dass die Gnade Gottes ihren Einflussbereich vergrößert hat. Das erkennen wir auch in der Art, wie Johannes der Täufer spricht. Beachte, wie er mit der Volksmenge umgeht, wenn er sie anredet! Hier lesen wir nicht wie im Matthäusevangelium, dass er die Pharisäer und Sadduzäer, die zu seiner Taufe kommen, zurechtweist (Mt 3). Der Evangelist berichtet stattdessen von Johannes' Worten an jede Menschengruppe, indem er die Volksmenge ernstlich warnt. Sie waren genauso wie die Menschen zu Zeiten der Propheten; sie waren keineswegs besser. Der Mensch war weit von Gott entfernt; er war ein Sünder. Was konnten ihnen ihre religiösen Vorrechte ohne Buße und Glauben nützen? In welche Verderbnis waren sie durch ihren Unglauben nicht gebracht worden? „Otternbrut!“, sagte er, „wer hat euch gewiesen, dem kommenden Zorn zu entfliehen? Bringet nun der Buße würdige Früchte; und beginnet nicht bei euch selbst zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater“ (V. 7–8). Dieser Satz erklärt außerdem die Besonderheiten in seiner Predigt an die verschiedenen Volksgruppen, die vor ihn traten, und die praktischen Hinweise auf die Pflichten einer jeden von ihnen. Ich denke, es ist auch für uns wichtig, diese Redeweise im Gedächtnis zu behalten, denn Gott denkt an die Seelen. Und immer wenn wir in wirklicher moralischer Disziplin nach seinen Gedanken handeln, dann beschäftigen wir uns mit den Menschen, so wie sie sind, in den Umständen ihres täglichen Lebens. Zöllner, Soldaten, das Volk – alle hörten genau die für sie passenden Worte. Die Evangeliumsverkündigung setzt die Buße als unveränderlichen Begleitumstand voraus. Es ist jedoch wichtig, im Gedächtnis zu behalten, dass zwar alle in die Irre gegangen sind, dabei aber jeder seinen eigenen Weg verfolgt hat (Jes 53, 6).
Wir hören jedoch auch sein Zeugnis über den Messias. „Als aber das Volk in Erwartung war, und alle in ihren Herzen wegen Johannes überlegten, ob er nicht etwa der Christus sei, antwortete Johannes allen und sprach: Ich zwar taufe euch mit Wasser; es kommt aber, der stärker ist als ich, dessen ich nicht würdig bin, ihm den Riemen seiner Sandalen zu lösen; er wird euch mit Heiligem Geiste und Feuer taufen; dessen Worfschaufel in seiner Hand ist, und er wird seine Tenne durch und durch reinigen und den Weizen in seine Scheune sammeln; die Spreu aber wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer. Indem er nun auch mit vielem anderen ermahnte, verkündigte er dem Volke gute Botschaft“ (V. 15–18). Hier begegnen wir einer treffenden Veranschaulichung der Schreibweise des Lukas. Nachdem er Johannes eingeführt hat, beendet er seine Geschichte, bevor er sich der Person des Herrn Jesus zuwendet. Deshalb fügt er hinzu: „Herodes aber, der Vierfürst, weil er ... von ihm gestraft wurde, fügte allem auch dies hinzu, dass er Johannes ins Gefängnis einschloss“ (V. 19–20). Offensichtlich hält Lukas in diesen Versen keinesfalls die historische Reihenfolge ein. Das ist nichts Besonderes. Wer antike oder moderne Geschichtsschreiber kennt, weiß, dass sie ebenso handeln. Diese Schreibweise ist weit verbreitet und oft nicht zu vermeiden. Natürlich berichten nicht alle so, genauso wenig alle Evangelisten. Doch in jener Weise verfahren viele Historiker, die zu den genauesten gezählt werden. Sie gruppieren die Ereignisse nicht wie ein reiner Chronist in ein Jahresregister, was zugegebenermaßen eine geist- und kunstlose Art der Informationsvermittlung darstellt. Sie ziehen es stattdessen vor, den Stoff zu ordnen, um die verborgenen Anlässe der geschilderten Tatsachen und ihre Folgen, auch wenn man diese noch nicht erwartet, schon vorzeitig herauszustellen. Kurz gesagt: Sie wünschen nur, dass all das, was sie für bedeutungsvoll halten, in nachdrücklichster und kraftvollster Weise dargelegt wird. So möchte auch Lukas, nachdem er Johannes eingeführt hat, den folgenden Bericht über unseren Herrn nicht unterbrechen. Erst später lesen wir wieder von Johannes, wenn die Sendung seiner Boten zur Veranschaulichung eines anderen Themas dienen muss (Kap. 7). Diese kurze Zusammenfassung über das treue Verhalten des Täufers mit seinen Folgen vom Anfang bis zum Ende seines Dienstes kann nicht missverstanden werden. Die schwerpunktmäßige Anordnung von Charakterzügen ist so typisch für Lukas, dass er die Taufe unseres Herrn durch Johannes unmittelbar nach dem Hinweis auf des Letzteren Gefangennahme schildert. Die chronologische Folge muss offensichtlich wichtigeren Absichten weichen.
Als Nächstes folgt die Taufe derjenigen, die bei Johannes ihre Zuflucht nahmen, und vor allem die Taufe Christi. „Und er selbst, Jesus, begann ungefähr dreißig Jahre alt zu werden, und war, wie man meinte, ein Sohn des Joseph“ (V. 23). Auf den ersten Blick erscheint die Einfügung eines Stammbaums an dieser Stelle ungewöhnlich. Aber die Schrift ist immer richtig; und die Weisheit wird gerechtfertigt von ihren Kindern (Mt 11, 19). Eine wichtige Wahrheit wird hier gezeigt; er steht daher völlig zu Recht an dieser Stelle. Die jüdische Szene ist zu Ende. Der Herr war dem gerechten Überrest in dem, was Er für Israel war, ausreichend vorgestellt worden. Gottes Gnade und Treue gegen seine Verheißungen hatten ihm ein bewundernswertes Zeugnis abgelegt, und zwar umso mehr, weil es angesichts des letzten großen Reiches, des römischen, geschah. Wir erblickten den Priester, wie er seine Aufgabe im Heiligtum erfüllte. Dann sahen wir die Besuche des Engels bei Zacharias, bei Maria und bei den Hirten. Wir hörten von dem großen prophetischen Zeichen, indem Immanuel von der Jungfrau geboren wurde; und zuletzt erkannten wir den Herold, der größer war als jeder Prophet, Johannes den Täufer, den Vorläufer des Christus. Alles war umsonst. Das Volk war eine Otternbrut, wie Johannes selbst bekunden musste. Auf der Seite Christi befand sich jedoch die unaussprechliche Gnade für jeden, der den Ruf des Johannes beachtete, auch wenn es nur von einer äußerst geringen Wirksamkeit des göttlichen Lebens in der Seele zeugte. Die Bezeugung der Wahrheit Gottes gegen sich selbst und die Anerkennung, dass er ein Sünder war, zog das Herz Jesu zu ihm. In Ihm war keine Sünde, nicht die geringste Spur davon. Er stand auch in keinster Weise mit ihr in Verbindung. Nichtsdestoweniger war Jesus bei denen, die sich zur Taufe des Johannes begaben. Sie war von Gott. Kein Zwang der Sünde führte Ihn dorthin, sondern im Gegenteil die Gnade, die reine Frucht göttlicher Gnade in Ihm. Er, der nichts zu bekennen und zu bereuen hatte, war der wahre Ausdruck der Gnade Gottes. Er wollte nicht von denen getrennt sein, in denen es die geringste Antwort auf die Gnade Gottes gab. Jesus führte jetzt noch nicht ein Volk aus Israel oder Einzelne aus der Menschheit heraus, um sie mit sich in Verbindung zu bringen. Stattdessen verband Er sich mit denen, welche die Wirklichkeit ihres sittlichen Zustandes in den Augen Gottes durch die Taufe anerkannten. Er wollte in dieser Handlung bei ihnen sein, obwohl Er in Person diese Anerkennung nicht nötig hatte. In seiner Gnade wollte Er ihr Gefährte sein. Wir dürfen uns darauf verlassen, dass der ganze Lebenslauf des Herrn Jesus mit dieser Wahrheit in Verbindung steht. Welche Veränderungen auch immer vor oder während seines Todes stattfanden, sie verdeutlichen nur zunehmend diesen gewaltigen und fruchtbringenden Grundsatz.
Wer war dieser getaufte Mann, über dem sich, als Er betete, der Himmel öffnete, auf den der Heilige Geist herabkam und zu dem eine Stimme aus dem Himmel sagte: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden“? (V. 22). Es war ein Mensch, dessen Spuren der inspirierende Heilige Geist hier bis zum Anfang folgt: „Ein Sohn ... des Adam, des Gottes.“ (V. 23ff.). Er musste wie Adam erprobt werden – nein, Adam wurde niemals so versucht, denn der zweite Adam sollte dem Versucher nicht in einem Paradies, sondern in der Wüste begegnen. Es geschah in den Trümmern dieser Welt, am Schauplatz des Todes, über dem das Gericht Gottes hing. In diesen Umständen ging es nicht um Unschuld, sondern um göttliche Kraft in Heiligkeit, die vom Bösen umgeben war. Dort befand sich der Eine, welcher als Mensch völlig von Gott abhing und durch das Wort Gottes da lebte, wo es weder Nahrung noch Wasser gab. Solch ein Mann – und weit mehr! – war dieser Mensch Christus Jesus. Darum scheint mir das Geschlechtsregister Jesu genau da zu stehen, wo es im Lukasevangelium hingehört, ob wir das erkennen oder nicht. Bei Matthäus wäre seine Einfügung nach seiner Taufe sonderbar und unangemessen gewesen. Es hätte dort nicht hingepasst, weil ein Jude zu allererst wissen wollte, ob die Geburt Jesu entsprechend den Prophezeiungen des Alten Testaments erfolgt war. Für einen solchen war, wie wir sagen können, an erster Stelle wichtig, dass der Sohn, der gegeben, und das Kind, das geboren wurde, den Voraussagen von Jesaja 9, 6 und Micha 5, 1 entsprach. Im Lukasevangelium sehen wir den Herrn als Mensch und wie Er diese vollkommene Gnade im Menschen offenbar macht; Er war völlig ohne Sünde. Und doch wurde Er bei denen gefunden, die ihre Sünden bekannten. „Ein Sohn ... des Adam, des Gottes.“ Das heißt, Er bewies, obschon Mensch, dass Er Gottes Sohn war.