Einführende Vorträge zum Lukasevangelium
Kapitel 2
Kapitel 2 verfolgt dieselben großen Wahrheiten – nur finden wir hier noch mehr. Schon die Anfangsverse stellen sie vor uns. Gott war gut zu Israel und entfaltete seine Treue nicht nach dem Gesetz, sondern nach seinen Verheißungen. Wie befand sich das Volk damals in Knechtschaft! Feindliche Heiden hatten die Oberherrschaft. Das letzte große, von Daniel vorhergesagte Weltreich übte seine Macht aus. „Es geschah aber in jenen Tagen, dass eine Verordnung vom Kaiser Augustus ausging, den ganzen Erdkreis einzuschreiben. Die Einschreibung selbst geschah erst, als Kyrenius Landpfleger von Syrien war. Und alle gingen hin, um sich einschreiben zu lassen, ein jeder in seine eigene Stadt“ (V. 1–3). Das waren die Gedanken der Welt, der kaiserlichen Macht jener Tage – die Pläne des großen römischen Tieres oder Weltreiches. Einerseits gab es eine Anordnung des Kaisers, andererseits hatte Gott gnädige Absichten. Der Kaiser mochte seinen Stolz befriedigen und die ganze Welt nach der übertriebenen Art menschlichen Ehrgeizes und in Selbstgefälligkeit sein Eigentum nennen. Aber Gott wollte jetzt zeigen, wer Er war – und was für ein Gegensatz! Durch diese Handlung kaiserlicher Macht betrat der Sohn Gottes, durch die Vorsehung geführt, die Welt an dem vorhergesagten Ort Bethlehem. Die Art und Weise, wie Er in diese Welt eintrat, wird hier ganz anders dargestellt als im ersten Evangelium (Mt 2). Dort wird noch nachdrücklicher auf Bethlehem hingewiesen und die Prophetie zitiert, um nachzuweisen, dass es nur dort geschehen konnte. Diese Information konnten sogar die Schriftgelehrten den Magiern geben, die gekommen waren, um dem Kind zu huldigen. Hier finden wir nichts dieser Art. Der Sohn Gottes wird noch nicht einmal in einer Herberge gefunden, sondern in einer Krippe, wohin Ihn die armen Eltern des Heilands gelegt hatten. Alle Einzelheiten sprechen von einer wirklich menschlichen Geburt und einem wirklichen Menschen. Dennoch war Er Christus, der Herr – der Zeuge der rettenden, heilenden, vergebenden und segnenden Gnade Gottes. Nicht nur sein Kreuz, sondern auch seine Geburt wurden hinsichtlich des Ortes und der Umstände ganz offensichtlich zubereitet. Das ist jedoch nicht alles. Wir sehen nicht die Magier aus dem Osten mit ihren königlichen Gaben, ihrem Gold, ihrem Weihrauch und ihrer Myrrhe, die zu Füßen des kindlichen Königs der Juden niedergelegt werden. Stattdessen hören wir – und das halte ich sittlich gesehen für noch schöner – die Worte eines Engels. Und plötzlich priesen mit dem Engel die himmlischen Chöre (denn der Himmel ist nicht weit entfernt) Gott, während die Hirten auf der Erde ihre Herden in demütiger Pflichterfüllung weideten.
Es ist unmöglich, diese Einzelheiten umzustellen, ohne alles zu verderben. Man kann nicht die Szene mit den Magiern in das Lukasevangelium verpflanzen; und die Schilderung der Hirten, die in der Nacht von der Gnade Gottes besucht wurden, passt nicht in das Matthäusevangelium. Welch einen Blick lässt uns das letzte Ereignis in das Herz Gottes tun! Wie klar erkennbar ist vom Anfang des Evangeliums an, dass den Armen die gute Botschaft verkündet werden sollte! Wie vollkommen steht dieses in Übereinstimmung mit dem Ziel unseres Evangeliums! Und wir dürfen wirklich dasselbe behaupten von der Gnade, die Paulus predigte. (Dabei spreche ich allerdings nicht von der Herrlichkeit, welche dieser gesehen hatte und lehrte.) Das behinderte indessen keineswegs ein Zeugnis an Israel. Trotz der mannigfachen jüdischen Zeichen und Merkmale machen die Einführung der heidnischen Macht und die sittlichen Umstände der ganzen Angelegenheit klar, dass es hier um mehr geht als um Israel und Seinen König. Nichtsdestoweniger begegnet uns hier das vollständigste Zeugnis der Gnade an Israel. Das finden wir schon in den Worten: „Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die für das ganze Volk sein wird“ 1 (V. 10). Dieser Satz sieht nicht über Israel hinaus. Diese Ansicht wird schon durch den Zusammenhang bestätigt, auch wenn man kein Wort der griechischen Sprache versteht, die natürlich das bestätigt, was ich hier vorbringe. Im nächsten Vers lesen wir: „Denn euch ist heute, in Davids Stadt, ein Erretter geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Ganz offensichtlich wird Er nach den Worten des Engels strikt als derjenige eingeführt, der in seiner Person alle Verheißungen an Israel erfüllen sollte.
Die Engel gehen noch weiter, indem sie sagen: „Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen“ (V. 14). Dies ist genau genommen nicht Gottes Wohlgefallen zugunsten der Menschen. Das Wort drückt das Wohlgefallen an den Menschen aus. Es sagt auch nicht an dem Menschen, als gälte es nur von Christus; obwohl es natürlich auf Ihn im höchsten Grad zutraf. Denn der Sohn Gottes wurde nach Hebräer 2 nicht ein Engel, sondern ein wirklicher Mensch. Er beschäftigte sich auch nicht mit den Angelegenheiten der Engel; sein Interesse betraf die Menschen. Wir sehen hier indessen noch viel mehr. Gott erfreut sich jetzt an dem Menschen, nachdem sein Sohn Mensch geworden war, und bezeugt es durch diese erstaunliche Wahrheit. Er findet allerdings auch Wohlgefallen an den Menschen, weil die Menschwerdung seines Sohnes der unmittelbare persönliche Schritt auf dem Weg war, seine Gerechtigkeit in der Rechtfertigung des sündigen Menschen durch das Kreuz und die Auferstehung Christi, die jetzt nahe bevorstanden, einzuführen. Kraft dieser Ihm allezeit wohlgefälligen Person und der Wirksamkeit seines Werkes der Erlösung kann Er dasselbe Wohlgefallen an denen finden, die einst schuldige Sünder waren, nun aber die Gegenstände seiner immerwährenden Gnade sind. In dem Ereignis vor uns standen jedoch auf jeden Fall jene gesegnete Person, durch welche der ganze Segen bewirkt und mitgeteilt wurde, und ihre Umstände vor seinen Augen. Mit dem Ausdruck „den Umständen jener Person“ meine ich natürlich die Tatsache, dass der Sohn Gottes Mensch geworden war. Das war in sich selbst kein geringer Beweis von dem Wohlgefallen Gottes an den Menschen – und ein sicheres Pfand.
Später wird gezeigt, wie Jesus beschnitten wurde. Das Opfer, welches diese Handlung begleitete, offenbarte noch mehr von den irdischen Umständen seiner Eltern, nämlich ihre tiefe Armut (3. Mo 12).
Danach folgt die ergreifende Szene im Tempel, wo der greise Simeon das Kind auf seine Arme nimmt; denn „es war ihm von dem Heiligen Geist ein göttlicher Ausspruch geworden, dass er den Tod nicht sehen solle, ehe er den Christus des Herrn gesehen habe“ (V. 26). So kommt er, durch den Geist geführt, genau in diesem Augenblick zum Tempel. „Und als die Eltern das Kindlein Jesus hereinbrachten, um betreffs seiner nach der Gewohnheit des Gesetzes zu tun, da nahm auch er es auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Nun, Herr, entlässt du deinen Knecht, nach deinem Worte, in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen“ (V. 27–30). Augenscheinlich handelt es sich nicht um einen sozusagen offiziellen Ausdruck. Das Werk war ja noch nicht ausgeführt. Doch zweifellos war in Christus wirklich das Heil Gottes gekommen. Es ist eine passende Bezeichnung (und eine zutreffende Wahrheit!) seitens des Reisebegleiters dessen, der als grundlegenden Gegenstand die „Gerechtigkeit Gottes“ verkündigte. Der Heilige Geist konnte jetzt noch nicht von „Gottes Gerechtigkeit“ sprechen, aber von „Gottes Heil“. Es war die Person des Heilandes in der Sicht des prophetischen Geistes, der zur passenden Zeit alles in Bezug auf Gott und den Menschen zurechtbringen wird. „Meine Augen haben dein Heil gesehen, welches du bereitet hast vor dem Angesicht aller Völker: ein Licht zur Offenbarung der Nationen und zur Herrlichkeit deines Volkes Israel“ (V. 30–32). Ich betrachte dies nicht als eine Beschreibung des Tausendjährigen Reiches. Dort wird die Reihenfolge eindeutig umgekehrt sein, denn Gott wird Israel unzweifelhaft den ersten Platz zuteilen und den Nationen den zweiten. Der Heilige Geist gibt Simeon einen etwas weitergehenden Blick als das prophetische Zeugnis des Alten Testaments. Der Säugling Christus war, wie er sagt, ein Licht zur Offenbarung der Nationen und zur Herrlichkeit seines Volkes Israel. Die Offenbarung der Nationen, die sehr bald folgen sollte, war ein Ergebnis der Verwerfung Christi. Die Nationen waren in alttestamentlichen Zeiten verborgen und wurden in den Wegen Gottes nicht beachtet. Auch während des Tausendjährigen Reiches werden sie im Vergleich zu Israel einen untergeordneten Platz einnehmen. Doch jetzt sind sie, im Gegensatz dazu, in den Vordergrund gestellt; die Herrlichkeit des Volkes Israel wird erst an jenem Tag folgen. In letzterem sehen wir tatsächlich den Zustand im Tausendjährigen Reich. Aber das Licht zur Offenbarung der Nationen entspricht in vollem Maß dem bemerkenswerten Platz, den die Nationen nach dem Herausschneiden der jüdischen Zweige aus dem Ölbaum (Röm 11, 17) eingenommen haben. Ich denke, dies wird durch spätere Erklärungen bestätigt.
Simeon maßte sich nicht an, das Kind zu segnen. Indessen, als er die Eltern segnete, sagte er zu Maria: „Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel“ (V. 34). Offensichtlich hatte der Heilige Geist ihn über das Abschneiden des Messias und die Folge davon belehrt. „Dieser ist gesetzt ... zu einem Zeichen, dem widersprochen wird; (aber auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen).“ Dieses Wort erfüllte sich in den Gefühlen der Maria am Kreuz des Herrn Jesus. Doch es folgt noch mehr. Die Schande Christi wirkt als ein sittlicher Test, wie es hier gesagt wird, „damit die Überlegungen vieler Herzen offenbar werden“ (V. 35). Darf ich da nicht fragen: Wo finden wir eine solche Sprache außer im Lukasevangelium? Zeige mir, wenn du es kannst, einen anderen Evangelisten, zu dem diese Ausdrucksweise passen könnte!
Ich möchte eure Aufmerksamkeit nicht allein auf diese Worte als ganz besonders kennzeichnend für unser Evangelium lenken. Nimm auf der einen Seite die gewaltige Gnade Gottes, wie sie sich in Christus offenbart hat! Auf der anderen Seite betrachte die Handlungsweise mit den Menschenherzen als sittliches Ergebnis des Kreuzes! Dies sind die beiden Hauptunterscheidungsmerkmale, durch welche die Schriften des Lukas sich auszeichnen. 2 Folglich sehen wir auch, wie der Ton der Gnade, der zuerst im Herzen des Simeon erklang sowie in denen, welche mit dem Herrn Jesus bei seiner Geburt unmittelbar verbunden waren, sich weit ausdehnte; denn die Freude konnte nicht erstickt oder verborgen werden. So musste die gute Botschaft von einem zum anderen weiterströmen, und Gott sorgte dafür, dass die Prophetin Anna herzutrat. Wir finden hier nämlich nicht nur ein Wiederaufleben der Engelbesuche, sondern auch des prophetischen Geistes in Israel. „Und es war eine Prophetin Anna, eine Tochter Phanuels, aus dem Stamme Aser. Diese war in ihren Tagen weit vorgerückt“ (V. 36). Sie hatte lange im Glauben gewartet und war, wie immer, nicht enttäuscht worden. „Sie war eine Witwe von vierundachtzig Jahren, die nicht von dem Tempel wich, indem sie Nacht und Tag mit Fasten und Flehen diente. Und sie trat zu derselben Stunde herzu“ (V. 37–38). Wie gut ist der Herr, indem Er auf diese Weise alle Umstände ordnete und die Herzen zubereitete! „Sie trat zu derselben Stunde herzu, lobte den Herrn und redete von ihm zu allen, welche auf Erlösung warteten in Jerusalem.“
Dies ist immer noch nicht alles, was uns der Heilige Geist hier vorstellt. Das Kapitel schließt nämlich mit einem Bild von unserem Heiland, das in bewunderungswürdiger Weise mit unserem Evangelium, und keinem anderen, harmoniert. Denn zu welchem Evangelium würde es passen, von unserem Herrn als einem Heranwachsenden zu sprechen und uns eine moralische Skizze dieser wunderbaren Person zu geben, die jetzt nicht mehr der Säugling von Bethlehem ist, sondern ein Knabe von zwölf Jahren im demütigen Umgang mit Maria und Josef? Er wurde in Erfüllung der Bestimmungen des Gesetzes der Ordnung gemäß mit Seinen Eltern am großen Fest in Jerusalem angetroffen. Doch Er war dort als Einer, dem das Wort Gottes überaus kostbar war und der mehr Verständnis hatte als seine Lehrer. Bei Ihm wuchs, als Mensch gesehen, nicht nur der Leib. Er entwickelte sich auch in den anderen Beziehungen, in denen Er Mensch geworden war, indem Er sich immer mehr entfaltete; und doch war Er stets vollkommen – wahrer Mensch und wahrer Gott. „Jesus nahm zu an Weisheit und an Größe, und an Gunst bei Gott und Menschen“ (V. 52). Wir lesen allerdings noch mehr, denn der inspirierte Schreiber teilt uns mit, wie Er von seinen Eltern getadelt wurde. Sie konnten nur wenig verstehen, was es für Ihn war, schon damals seine Speise in der Erfüllung des Willens Gottes zu finden (Joh 4, 34). Nachdem sie von Jerusalem abgereist waren, vermissten sie Ihn. Sie kehrten zurück und fanden Ihn in der Mitte der Gelehrten. Das schien für einen Jugendlichen ein heikler Platz zu sein. Aber wie schön war alles an Ihm! Wie angemessen! Er hörte ihnen zu, wie uns gesagt wird, und stellte ihnen Fragen. Sogar unser Heiland, der doch voll göttlicher Erkenntnis war, nahm jetzt noch nicht den Platz des Lehrens mit Autorität ein. Auch später lehrte Er niemals wie die Schriftgelehrten. Obwohl Er wusste, dass Er sowohl der Sohn als auch der Herr-Gott war, blieb Er doch das Kind Jesus. Und so wie es sich für Ihn, der sich herabgelassen hatte, ein Kind zu werden, schickte, erkennen wir bei Ihm in der Mitte der Älteren an Jahren, obwohl sie unendlich viel weniger wussten als Er, die lieblichste und anmutigste Demut. Er hörte ihnen zu und stellte Fragen. Was für eine Gnade lag in den Fragen Jesu! Welche unendliche Weisheit sehen wir da angesichts der Finsternis dieser gefeierten Lehrer! Doch wer von diesen eifersüchtigen Rabbis konnte das geringste Abweichen von dem feststellen, was schicklich war? Nicht nur das! Uns wird erzählt: „Seine Mutter sprach zu ihm: Kind, warum hast du uns also getan? siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Was ist es, dass ihr mich gesucht habt? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (V. 48–49). Das Geheimnis wird so schon früh enthüllt. Er brauchte auf nichts zu warten und benötigte keine Stimme vom Himmel, die Ihm sagte, dass Er der Sohn Gottes sei. Der Heilige Geist musste nicht erst auf Ihn herabsteigen, um Ihn von seiner Herrlichkeit und seiner Sendung zu überzeugen. Sowohl die Stimme als auch das Herniederkommen des Geistes wurden zweifellos später gesehen und gehört. Sie waren auch zur rechten Zeit und am richtigen Ort angebracht. Ich wiederhole jedoch, dass Er nichts benötigte, was Ihm die Gewissheit gab, dass Er der Sohn des Vaters ist. Er wusste es in seinem Innern ohne jede Offenbarung seitens anderer.
Zweifellos wurde Ihm später jene göttliche Gabe mitgeteilt, als der Heilige Geist den Menschen Christus Jesus versiegelte. „Diesen hat der Vater, Gott, versiegelt“ (Joh 6, 27), wird uns später gesagt. Doch wir müssen beachten, dass Er in diesem frühen Alter von zwölf Jahren das klare Bewusstsein hatte, dass Er der Sohn Gottes in einer Weise war, wie niemand anderes es war oder sein konnte. Gleichzeitig kehrte Er mit seinen Eltern zurück und gehorchte ihnen pflichtbewusst, als wäre Er nur ein tadelloses menschliches Kind – ihr Kind. Dabei war Er genauso wirklich der Sohn des Vaters wie der Sohn des Menschen. So „kam (Er) nach Nazareth, und er war ihnen untertan“ (V. 51). Er war eine göttliche Person, aber auch der vollkommene Mensch – vollkommen in jeder Beziehung, wie es für eine solche Person angemessen ist. Beide Wahrheiten werden hier gezeigt, und zwar nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Verwirklichung.
Fußnoten