Einführende Vorträge zum Markusevangelium
Kapitel 5
Das nächste Kapitel beginnt mit einem äußerst bedeutsamen Ereignis in Verbindung mit dem Dienst. Hier wird von einem einzigen Besessenen erzählt, was die Einzelheiten nur umso eindrucksvoller macht. Wie wir anderswo sehen, waren es tatsächlich zwei. Das Matthäusevangelium (Kap. 8) spricht nicht nur in diesem Fall, sondern auch anderswo von zwei Personen. Ich nehme an, dass das mit seinem Gegenstand übereinstimmt. Es war ein anerkannter Grundsatz im Gesetz, dass aus dem Mund zweier oder dreier Zeugen jede Sache bestätigt werden sollte (z. B. 5. Mo 17,6). Und derjenige unter den Evangelisten, der sozusagen mit der Botschaft an die Beschneidung bekleidet war und mit Bezug auf die Beschneidung sprach, gibt das erforderliche Zeugnis zur Orientierung derer in Israel, die Ohren hatten zu hören. Nichts dieser Art stand vor Markus. Er schrieb nicht, um insbesondere jüdischen Heiligen und jüdischen Schwierigkeiten zu begegnen, sondern vielmehr für andere Menschen, die nicht so eingegrenzt waren. Stattdessen muss er ihnen von Zeit zu Zeit jüdische Besonderheiten erklären. Er hat offensichtlich die ganze Menschheit so weit wie die Welt im Blickfeld und stellt, wie wir wohl zu Recht annehmen dürfen, den bemerkenswerteren der beiden Besessenen heraus. Auch sollen hier nicht die Schicksale Israels in den letzten Tagen geschildert werden. Ich leugne allerdings nicht, dass wir hier eine symbolische Anspielung auf das finden, was bei Matthäus völlig herausgestellt wird. Aber ich nehme an, dass das besondere Thema dieses Kapitels darin besteht, die sittlichen Wirkungen des Dienstes Christi, die hier mit Macht vor die Seele gestellt werden, zu verfolgen. Wir haben deshalb den schlimmstmöglichen Fall vor uns. Es handelte sich weder um einen Aussätzigen noch um einen Gelähmten, ja, noch nicht einmal einfach um einen Mann mit einem unreinen Geist. Es ist die sorgfältige Beschreibung eines Falles, der entsetzlicher ist als jeder andere, den wir sonst wo in den Evangelien finden. Und niemand beschreibt ihn mit solcher Kraft und eindringlicher Natürlichkeit oder, anders ausgedrückt, so ausführlich wie unser Evangelist.
„Als er aus dem Schiff gestiegen war, begegnete ihm alsbald aus den Grüften ein Mensch mit einem unreinen Geiste, der seine Wohnung in den Grabstätten hatte; und selbst mit Ketten konnte keiner ihn binden.“ Alle menschlichen Mittel erwiesen nur die überlegene Macht des Feindes. „Selbst mit Ketten konnte keiner ihn binden, da er oft mit Fußfesseln und mit Ketten gebunden gewesen, und die Ketten von ihm in Stücke zerrissen und die Fußfesseln zerrieben worden waren; und niemand vermochte ihn zu bändigen.“ Welch ein Bild des traurigsten Elends, dem Gefährten von Verwüstung und Tod! „Und allezeit, Nacht und Tag, war er in den Grabstätten und auf den Bergen und schrie und zerschlug sich mit Steinen.“ Auf ihn drückte auch die äußerste Entwürdigung, und zwar die Grausamkeit einer Entwürdigung, wie sie Satan über den Menschen bringt, den er hasst. „Als er aber Jesum von ferne sah, lief er und warf sich vor ihm nieder; und mit lauter Stimme schreiend, sagt er: Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesu, Sohn Gottes, des Höchsten? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht! Denn er sagte zu ihm: Fahre aus, du unreiner Geist, aus dem Menschen. Und er fragte ihn: Was ist dein Name? Und er spricht zu ihm: Legion ist mein Name, denn wir sind viele.“ Man merkt leicht, wie auch hier wieder derselbe Charakterzug hervortritt, den wir vorher schon einmal gesehen haben: Die eigenartige Identifikation des bösen Geistes mit dem Menschen. Manchmal scheint es sich nur um eine Person zu handeln, manchmal um eine vervielfältigte Persönlichkeit. „Er bat ihn sehr, dass er sie nicht aus der Gegend fortschicken möchte.“ Folglich schickte der Herr die unreinen Geister in die Schweine, die dadurch vernichtet wurden.
Aber hier finden wir nicht nur die Befreiung, wie im Matthäusevangelium, sondern auch das sittliche Ergebnis an den Seelen. Die Landesbewohner kamen. Wir sehen jetzt das Zeugnis von den Auswirkungen des Dienstes. Sie kamen zu Jesus und sahen den, der vom Teufel besessen war und die Legion hatte, bekleidet und vernünftig dasitzen, und sie fürchteten sich. Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, was mit dem Besessenen geschehen war, und die Sache mit den Schweinen. Beachte ihren Unglauben! Der Mensch zeigte, dass er sich weniger aus Jesus machte als aus Satan und den Schweinen. „Als er [Jesus] in das Schiff stieg, bat ihn der Besessene, dass er bei ihm sein dürfe.“ Das ist der natürliche Trieb eines erneuerten Herzens und gilt für jeden Heiligen Gottes. Es gibt keinen Gläubigen, wie schwach er auch sein mag, der dieses Verlangen nicht kennt, es sei denn, die liebliche Einfalt des Glaubens wurde verloren oder möglicherweise durch böse Lehre – zum Beispiel, indem man sich unter das Gesetz stellt – erstickt; dann folgt immer Furcht und Schrecken. Aber wenn ein Mensch nicht durch die falsche Anwendung des Gesetzes oder andere falsche Lehren vergiftet ist, dann besteht der erste Wunsch dessen, der die Liebe Jesu erkennt, darin, bei Ihm zu sein. Das ist einer der Gründe, warum von allen Gläubigen gesagt wird, dass sie sein Erscheinen lieben (2. Tim 4, 8). Aber die errettete Seele will nicht nur bei Ihm sein, sondern auch, dass seine Herrlichkeit überall verwirklicht werde. Sie weiß sehr gut, dass Er, der für das Herz so kostbar ist, bloß anderen bekannt gemacht werden und vor der Welt offenbart werden muss, um die Macht des Segens, die allein einer Welt wie dieser helfen kann, einzuführen.
Aber in dem Fall vor uns erlaubte der Herr es ihm nicht. Er zeigte, dass noch ein Werk ausgeführt werden musste, so wahrhaftig und richtig und angemessen diese Gefühle der Gnade in dem Herzen des befreiten Mannes auch sein mochten. Befreite sollen selbst Befreier werden! Das sind der wohltätige Charakter und das Ziel des Dienstes Jesu. Wenn Jesus sein Werk ausführte und wenn Er die Macht Satans, die niemand sonst angreifen konnte, brach, dann geschah das nicht allein deshalb, damit der Befreite mit seinem Herzen bei Ihm war und hinfort mit Ihm den Weg ging. Im Prinzip kann es nicht anders sein, und es entspricht auch seiner Liebe, dass derjenige, der von Gott darüber belehrt ist, wer Jesus ist, bei Ihm sein will. Aber Jesus tat nicht das, was Ihm gefiel, sondern kam, um Gott hier auf der Erde zu dienen. So lag denn auch der Bereich des Dienstes für den befreiten Besessenen dort, wo er anderen erzählen konnte, welch große Dinge für ihn getan worden waren. Deshalb begegnete der Heiland ihm mit den Worten: „Gehe hin nach deinem Hause zu den Deinigen.“
Beachten wir es gut, liebe Geschwister! Wir vergessen leicht diesen ausdrücklichen Befehl. Es heißt nicht: „Gehe hin zur Welt!“ oder: „Gehe hin zu aller Schöpfung!“, sondern: „Gehe hin nach deinem Hause zu den Deinigen!“ Wie kommt es, dass man oft soviel Schwierigkeiten hat, zu seinen Angehörigen zu reden? Warum sind manche, die vor Fremden so kühn auftreten, so schüchtern vor ihren Hausgenossen, Verwandten und Freunden? Diese Vorbehalte reden oft eine Sprache, die wir wohl beachten sollten. Wir schrecken vor den Vergleichen zurück, die unsere Angehörigen so leicht und mit Bestimmtheit machen werden. Sie prüfen unsere Worte, wie klar, gut und lieblich sie auch sein mögen, daran, was sie in so reichem Maß in unserem täglichen Leben feststellen können. Ein inkonsequenter Wandel macht uns vor unseren Angehörigen zumindest zu einem Feigling. Es wäre gut, wenn er dann dazu führt, uns vor allen zu demütigen. Echte Niedriggesinntheit verbunden mit Treue vor Gott gibt uns nicht nur Mut vor Fremden, sondern auch vor unseren Angehörigen. Aber hier geht es wohl einfach nur darum: Der Herr wollte die Botschaft der Gnade ausbreiten und sandte den Geheilten deshalb mit dieser Botschaft zu seinen Angehörigen. Denn ganz gewiss waren sie diejenigen, die in seinem Fall die schreckliche und schamlos erniedrigende Macht Satans am besten kennengelernt hatten. Seine Vertrauten waren natürlich am stärksten von seinem Schicksal betroffen; und deshalb gab es, ohne Zweifel, gute Gründe für diese Sendung. Es ist auch für uns gut, dies im Gedächtnis zu behalten. Es heißt nicht, dass ein Erretteter nur zu seinen Angehörigen gehen soll. Aber es bleibt immer wahr und richtig, dass das Geheimnis der Gnade in unseren Herzen uns zu unseren Angehörigen schickt, damit jene, welche unsere Torheiten und Sünden kennen, alles erfahren und von dem mächtigen Heiland hören, den wir gefunden haben. „Gehe hin nach deinem Hause zu den Deinigen und verkünde ihnen, wie viel der Herr an dir getan, und wie er sich deiner erbarmt hat. Und er ging hin und fing an, in der Dekapolis auszurufen, wie viel Jesus an ihm getan hatte.“
Wie lieblich ist diese Gleichsetzung von „Jesus“ mit „der Herr“. „Wie viel der Herr an dir getan ... hat.“ Der Heiland sprach diese Worte, wie ich glaube, in ganz allgemeiner Weise aus, ohne besonders auf seine Person anzuspielen. Auf der anderen Seite bezweifle ich nicht, dass der Mann völlig richtig handelte. Wie oft, wenn es wie ein Mangel an buchstäblicher Genauigkeit aussieht, indem man den Ausdruck „der Herr“ als „Jesus“ interpretiert, werden in Wirklichkeit die Gedanken Gottes viel besser ausgedrückt. Reine Buchstabentreue hätte sklavisch an den Buchstaben der Worte Jesu festgehalten. Aber wie viel tiefer und dabei mehr zur Verherrlichung Gottes war es, dass der Mann unter allem das große Geheimnis der Gottseligkeit (1. Tim 3, 16) – der Herr im Gewand des Dieners – erkannte! Der, dem es da gefiel, die Gestalt eines Knechtes anzunehmen, war nichtsdestoweniger der Herr. „Er ging hin und fing an ... auszurufen, wie viel Jesus an ihm getan hatte.“
Es folgt dann der Bericht von dem jüdischen Synagogenvorsteher, der Jesus zu Füßen fiel und Ihn dringend bat, seine sterbende Tochter zu heilen. Da ich mich mit diesem Ereignis schon woanders beschäftigt habe, brauche ich jetzt nur wenig zu sagen. Der Herr ging mit ihm und veranschaulichte dadurch seinen besonderen Dienst in Israel. Dieses Werk ging bis zur Wirklichkeit des Todes hinab. Denn tatsächlich befand Israel sich dort. Aber der Hirte Israels konnte aus den Toten auferwecken. Darin scheint mir die Bedeutung des Ereignisses vor uns zu liegen. Es handelte sich also nicht einfach um einen allgemeinen Eingriff in den Machtbereich Satans, der die Gelegenheit und die Rechtfertigung, wenn man so sagen darf, lieferte, um siegreich die frohe Botschaft vom Reich Gottes und seiner Güte gegen den Menschen auszubreiten. Das galt natürlich auch für den Dienst des Herrn, als Er sich auf der Erde, dem Herrschaftsbereich Satans, aufhielt. Seine Versuchungen in der Wüste erwiesen Ihn stärker als der Starke (Mk 3, 27). Darum raubte Er Satans Hausrat, befreite seine armen Opfer und machte diese zu Fängern dessen, der sie gefangen gehalten hatte. Hier sehen wir, wie sein Herz sich keineswegs von Israel abwandte, sondern seinen Notschrei herbeisehnte. Kaum war Jairus' Bitte ausgesprochen, so machte Er sich auf, um sie zu beantworten. Er allein konnte die Tochter Zion aus ihrem Todesschlaf wecken. Aber – welch unaussprechliche Gnade! – auf dem Weg dahin, war Er für jeden offen. In dem Gedränge, durch das Er hindurch musste, war eine blutflüssige Frau. Es war ein verzweifelter Fall; denn sie hatte vieles erlitten und viele Ärzte vergeblich aufgesucht (Lk 8, 43ff). Das ist das unglückliche Los des Menschen fern von Gott. Menschliche Hilfe nützt nichts. Welcher Mensch, der damit vertraut ist, wie es in der Welt zugeht, wird nicht sofort die Richtigkeit des Bildes und die Machtlosigkeit des Menschen angesichts des tiefsten Mangels anerkennen? Aber das war gerade die Gelegenheit für Den, der sogar als Diener auf der Erde in Seiner Liebe die Macht Gottes ausübte. Jesus war der wahre und nie versagende Diener Gottes. Und die Frau, anstatt dass sie vom Menschen, so wie er ist, weiter Hilfe suchte und dabei mehr und mehr durch die Bemühungen, ihr zu helfen, erlitt, berührte ungesehen in dem Gedränge die Kleider Jesu. „Denn sie sprach: Wenn ich nur seine Kleider anrühre, so werde ich geheilt werden. Und alsbald vertrocknete der Quell ihres Blutes, und sie merkte am Leibe, dass sie von der Plage geheilt war.“ Doch das Abstellen ihrer Leiden wäre für Jesus zu wenig gewesen; denn Er ist ein vollkommener Heiland. Deshalb erwies Er sich nicht nur als ein Heiland für den Leib, der schon so lange gelitten hatte, sondern auch für die Zuneigungen und den Frieden der Seele. Sie erhielt eine größere Segnung, als sie gesucht hatte. Er stillte nicht nur den Blutfluss, sondern füllte auch ihr zitterndes Herz anstelle der Furcht, die sie zuvor beherrscht hatte, mit Zuversicht. Es wäre in sittlicher Hinsicht nicht richtig gewesen, wenn sie sich mit dem Gedanken entfernt hätte, dass sie von Jesus etwas Kraft gestohlen habe. Er verbannte also nachdrücklich jede Furcht aus ihrem Herzen und sagte zu ihr: „Tochter, dein Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage.“ Das bedeutet: Er besiegelte ihr mit seinem Mund den Segen, welchen sich ihre Hand sonst sozusagen heimlich erschlichen hätte.
Am Ende des Kapitels befand sich unser Herr in der Gegenwart des Todes. Aber Er erlaubte nicht, dass der Tod in Seiner Gegenwart blieb. „Das Kind“, sagte Er (und wie wahr waren seine Worte!), „ist nicht gestorben, sondern es schläft.“ Auch der Heilige Geist spricht davon, dass tote Gläubige schlafen. „Also wird auch Gott die durch Jesum Entschlafenen mit ihm bringen“ (1. Thess. 4,14). Israel wird hier symbolisch den Gedanken Gottes entsprechend gesehen. Der Unglaube mochte weinen und klagen und alle Art von Unruhe hervorrufen – und hatte trotzdem nicht die richtigen Gefühle; denn zur gleichen Zeit konnte er Jesus spöttisch auslachen. Aber der Herr erlaubte niemand als nur den Auserwählten – Petrus, Jakobus und Johannes – zusammen mit den Eltern zu dem Mädchen hineinzugehen. „Und als er eingetreten war, spricht er zu ihnen: Was lärmet und weinet ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn.“ Nachdem Er alle anderen hinausgetrieben hatte, nahm Er das Mädchen bei der Hand. Und unverzüglich erhob es sich auf sein Wort hin und ging umher. „Und sie erstaunten mit großem Erstaunen. Und er gebot ihnen dringend, dass niemand dies erführe, und hieß, ihr zu essen geben.“ Warum forderte der Herr Jesus im Markusevangelium mehr als in den anderen dieses Schweigen? Ich denke, weil es das Evangelium des Dienstes ist. Ja, wahrlich, liebe Brüder, der Dienst sollte weder durch diejenigen, die damit betraut sind, noch durch ihre Freunde ausposaunt werden. Alles, was von Gott kommt und für Gott getan wird, kann man ruhig seine eigene Geschichte erzählen lassen. Der wahre Gegenstand des heiligen Dienstes ist das, was Gott gibt und tut, und nicht das, was der Mensch sagt. Beachten wir hier auch, wie der Herr – vollkommen in allem – nicht nur das Werk ausführte, sondern auch liebevoll für das Kind sorgte! Wir müssen auch auf die rücksichtsvolle Güte des Herrn achten, indem Er „hieß, ihr zu essen zu geben.“ Jesus nahm an allen Dingen, selbst denen, die nur gering erschienen, Anteil. Deshalb dachte Er daran, dass das Mädchen sich in jener Starre des Todes befunden hatte und erschöpft war. Auf welche Weise wir auch immer diese Erfahrung machen – ist es nicht groß für unsere Herzen, wie Jesus für uns sorgt?