Einführende Vorträge zum Markusevangelium

Kapitel 2

Einführende Vorträge zum Markusevangelium

Am Ende des ersten Kapitels kommt der Aussätzige; und am Anfang des zweiten wird der Gelähmte herzugebracht. Diese beiden Heilungen fanden wir schon im Matthäusevangelium, und wir werden ihnen auch bei Lukas begegnen. Aber man bemerkt hier, dass die beiden Ereignisse direkt nebeneinander gestellt sind. Bei Matthäus ist das im Unterschied zum Lukasevangelium (Kap. 5) anders. Matthäus zeigt uns, wie wir schon sahen, den Aussätzigen am Anfang des achten Kapitels und den Gelähmten am Anfang von Kapitel 9. Markus, der die Begebenheiten einfach so schildert, wie sie geschahen, fügt nichts dazwischen ein. Sie ereigneten sich, wie ich annehme, kurz nacheinander. Und so werden sie uns hier vorgestellt. In dem einen Fall zeigt sich die Sünde in dem großen Bild der Verunreinigung, in dem anderen als Schuld, verbunden mit völliger Schwachheit. Der Mensch ist gänzlich unpassend für die Gegenwart Gottes und muss von seiner ekelhaften Unreinigkeit gereinigt werden. Das stellt uns der Aussatz vor. Der Mensch ist völlig unfähig, um hienieden zu wandeln, und muss Vergebung sowie Stärkung empfangen. Diese wichtige Wahrheit stellt sich in dem Gelähmten dar. Außerdem wird uns in einzigartiger Anschaulichkeit ein Bild von den Volksmengen, die sich vor der Tür des Hauses versammelten und zu denen der Herr, wie üblich, predigte, aufgezeichnet. Danach erhalten wir ein beeindruckendes Bild von dem Gelähmten, der von vier Personen  herzugetragen wurde. Alle diese Einzelheiten werden vor unsere Blicke gestellt. Aber wir finden noch mehr. Da sie wegen des Gedränges nicht in die Nähe Jesu kommen konnten, deckten sie das Dach ab und ließen den Mann vor den Augen des Herrn herab. Als Jesus ihren Glauben sah, sprach Er den Mann an, begegnete den ungläubigen, lästernden Gedanken der Schriftgelehrten, die anwesend waren, und entfaltete seine persönliche Herrlichkeit als Sohn des Menschen. Seine Herrlichkeit als Gott sehen wir mehr in der Heilung des Aussätzigen; denn es galt als Axiom 1, dass Gott allein einen Aussätzigen heilen konnte. „Bin ich Gott?“, musste der König von Israel zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt in Israels Geschichte anerkennen (2. Kön 5,7). Und genauso lautete auch das allgemeine Bekenntnis eines jeden Juden. Darum ging es bei der Heilung des Aussätzigen. Jeder Jude musste anerkennen, dass es Gott war, der entweder direkt oder durch einen Propheten gehandelt hatte, wenn ein Aussätziger geheilt wurde. Aber im Fall des Gelähmten machte unser Herr eine völlig andere Art von Autorität geltend, nämlich „dass der Sohn des  Menschen Gewalt hat, auf der Erde Sünden zu vergeben.“  Dann bewies Er seine Macht über die hoffnungsloseste Schwachheit des menschlichen Körpers als ein Zeugnis von seiner Autorität, hier auf der Erde Sünden zu vergeben. Es war der Sohn des Menschen auf der Erde, der diese Macht besaß. So bewies die eine Heilung, dass Gott vom Himmel herniedergekommen und wirklich in der Person dieses gesegneten Heilandes Mensch geworden war, ohne seine Gottheit aufzugeben. Das sehen wir in der Reinigung des Aussätzigen. Doch in der Heilung des Gelähmten wird eine andere Seite der Herrlichkeit des Herrn gezeigt. In beiden Fällen war Er der Diener Gottes und des Menschen. Aber hier wurde Er dargestellt als der Sohn des Menschen, der auf der Erde Gewalt hat, um dem Schuldigen zu vergeben; und Er bewies die Wirklichkeit dieser Vergebung, indem Er Kraft gab, um vor allen zu wandeln.

Danach folgte die Berufung des Zöllners. „Und als er vorüberging, sah er Levi, den Sohn des Alphäus, am Zollhause sitzen, und er spricht zu ihm: Folge mir nach; und er stand auf und folgte ihm nach.“ Später sehen wir den Herrn bei einem Festmahl im Haus dessen, der auf diese Weise durch die Gnade berufen worden war. Das stachelte jedoch nur den Hass in  den  Sklaven  einer  religiösen  Form  an.  „Als  die Schriftgelehrten und die Pharisäer ihn mit den Sündern und Zöllnern essen sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern [nicht zu Ihm, denn dazu waren sie nicht ehrenhaft genug]:„Warum isst und trinkt er mit den Zöllnern und Sündern? Und als Jesus es hörte, spricht er zu ihnen: Die Starken bedürfen nicht eines Arztes, sondern die Kranken.“ Dieser Anlass gab dem Herrn eine Gelegenheit, den wahren Charakter und die passenden Gegenstände seines Dienstes vorzustellen. Der Ruf Gottes erging an die Sünder. Es ging jetzt nicht darum, ein Volk zu regieren. Stattdessen sollten Sünder eingeladen werden. Gott hatte einst sein Volk befreit. Er hatte es auch „mein Sohn“ genannt und aus Ägypten gerufen (Hos 11, 1). Aber jetzt handelte es sich darum, Sünder zu rufen, auch wenn wir die Worte „zur Buße“ hier nicht finden, sondern passenderweise nur im Lukasevangelium (Kap. 5, 32). Der Herr frohlockte in der Gnade, die Er hienieden darreichte.

Die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten üblicherweise. Darum wird in der nächsten Szene die Frage nach dem Charakter derjenigen gestellt, die Jesus nach dem Willen Gottes berufen sollte. Die Erzählung berichtet dieses alles nach einem klaren Plan, aber hält sich trotzdem an die Reihenfolge der Ereignisse. Danach wird das Problem behandelt, ob man die neuen Grundsätze mit den alten vermischen darf. Der Herr erklärte das für ganz und gar unmöglich. Er zeigte, dass Fasten unvereinbar mit der Anwesenheit des Bräutigams war. Es hätte von einem völligen Unglauben bezüglich seiner Herrlichkeit gezeugt – von einem gänzlichen Mangel richtiger Gefühle in denjenigen, die seine Herrlichkeit anerkannten. Das Fasten passte ganz gut zu den Leuten, die nicht an Ihn glaubten. Doch wenn die Jünger Ihn als Bräutigam anerkannten, dann war es widersinnig, in seiner Gegenwart zu fasten.

Daraufhin ergriff unser Herr die Gelegenheit, den Gegenstand noch  weiter  zu  beleuchten. „Niemand näht einen Flicken von neuem Tuch auf ein altes Kleid; sonst reißt das Eingesetzte von ihm ab, das neue vom alten, und der Riss wird ärger.“ Die Formen, die äußeren Darstellungen dessen, was Christus einführen wollte, konnten nicht mit den alten Elementen des Judentums vermischt werden und passten nicht zu ihm. Noch weniger stimmten ihre inneren Grundsätze überein. Damit beschäftigte Er sich gleich danach: „Auch tut niemand neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche verderben; sondern neuen Wein muss man in neue Schläuche tun.“ Das Christentum verlangt eine äußere Darstellung, die mit seinem inneren Leben und dessen besonderem Charakter übereinstimmt. 2

Dieses Thema wird an den beiden Sabbat-Tagen weiterverfolgt. Der erste Sabbat stellte ganz klar heraus, dass Gott Israel nicht länger anerkannte, weil Jesus in jenen Tagen genauso verworfen wurde wie in alten Zeiten David. Darauf wird hier Bezug genommen. Die Jünger Christi hungerten. Was für ein Zustand! Zweifellos litten auch David und seine Männer an jenem Tag Mangel. Welche Wirkung übte das damals auf das System, welches Gott guthieß, aus? Gott wollte seine Verordnungen angesichts des sittlich Bösen, das seinem Gesalbten und denen, die ihm anhingen, zugefügt wurde, nicht aufrechterhalten. Gottes persönliche Ehre stand auf dem Spiel. Seine Anordnungen, so wichtig sie auch an ihrem Platz waren, mussten vor den unumschränkten Verfügungen seines Vorsatzes weichen. Die Anwendung ist klar. Der Herr Jesus war größer als David. Und waren nicht die Anhänger Jesu genauso kostbar wie die des Sohnes Isais? Wenn das priesterliche Brot zu gewöhnlichem Brot werden konnte, als die Gläubigen alter Zeiten hungerte, würde Gott dann seinen Sabbat aufrechthalten, als den Jüngern Jesu die normale Nahrung fehlte? Außerdem fügte Er hinzu: „Der Sabbat ward um des Menschen willen, nicht der Mensch um des Sabbats willen; also ist der Sohn des Menschen Herr auch des Sabbats.“ So machte Er die Oberhoheit seiner Person geltend, und zwar als der verworfene Mensch. Deshalb wird hier der Titel „Sohn des Menschen“  besonders erwähnt.

Fußnoten

  • 1 Axiom = allgemeingültiger, unbeweisbarer Grundsatz. (Übs.)
  • 2 Hier finden wir eine der wenigen (wenn nicht sogar die einzige) Umstellung im Markusevangelium; denn nach Mt 9,18 scheint der Vorsteher Jairus wegen seiner Tochter zu dem Herrn Jesus gekommen zu sein, als Er von dem Wein und den Schläuchen sprach. Den Bericht davon finden wir erst im 5. Kapitel des Markusevangeliums. (W. K.).
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