Die Gnade Gottes unterweist uns...
Kapitel 1
«Paulus, Knecht Gottes, aber Apostel Jesu Christi, nach dem Glauben der Auserwählten Gottes und nach der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, in der Hoffnung des ewigen Lebens, welches Gott, der nicht lügen kann, verheissen hat vor den Zeiten der Zeitalter, zu seiner Zeit aber sein Wort geoffenbart hat durch die Predigt, die mir anvertraut worden ist nach dem Befehl unseres Heiland-Gottes, – Titus meinem echten Kinde nach unserem gemeinschaftlichen Glauben: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und Christo Jesu, unserem Heilande!» (V. 1–4).
Das ist die erste Hauptstelle in unserem Brief. Wie wir schon gesagt haben, wird in diesen vier Versen in gedrängter Kürze das unerschöpfliche Thema der grossen Wahrheiten des Christentums zusammengefasst.
Wir lernen zuerst, dass die Quelle dieser Segnungen sich in Gott selbst befindet. Er wird uns in erster Linie in Seinem absoluten Charakter als Gott vorgestellt; dann als der wahre Gott, der nicht lügen kann; hierauf als der Heiland-Gott, der sich Verlorenen gegenüber als solcher offenbart; schliesslich als Gott, der Vater, als Gott der Liebe. Doch haben wir in Christo Jesu, unserem Heilande die Offenbarung alles dessen, was Gott für uns ist.
Der Apostel Paulus ist das Werkzeug dieser Offenbarung. Er nennt sich Knecht Gottes. Diesem Titel begegnen wir in den Briefen nur zweimal (hier und in Jakobus 1,1) und etliche Male in der Offenbarung, während der Ausdruck Knecht Christi öfters vorkommt. Ein Knecht Gottes zu sein, setzt eine völlige Abhängigkeit voraus, Furcht und Zittern in seinen Tätigkeiten, Achtung vor jedem Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgegangen ist, tiefes Bewusstsein unserer Verantwortung. Gleichzeitig wird der grosse Apostel der Nationen durch seine Eigenschaft als Knecht in die geringste und bescheidenste Stellung versetzt. Diese Haltung sollte Titus zum Beispiel sein, der soeben berufen worden war, einen Ehrenplatz einzunehmen: Wenn der Apostel selbst eine so bescheidene und abhängige Stellung einnahm, wieviel mehr sollte dies bei seinem Jünger der Fall sein!
Als Knecht oder Sklave Gottes gehörte sich Paulus nicht selber an. Was Gott von Seinem Knecht erwartet, ist vorbehaltloser Gehorsam, eine gewissenhafte Treue in der Ausrichtung der Botschaft, die der Meister, dem er angehört, ihm anvertraut hat. Aber diese ernste Botschaft hat nichts Erschreckendes an sich und enthält keinerlei Drohung; denn der, welcher sie zu andern trägt, ist Knecht des «Heiland-Gottes».
Daher nennt sich Paulus auch «Apostel Jesu Christi». Wenn Gott ihm die Wahrheit in die Hände gegeben hat, so sendet ihn Christus aus, um sie bekanntzumachen und sie zu verbreiten. Dieser Auftrag versetzt Paulus in eine besondere Beziehung zu Christo, als Sein Apostel, durch Ihn ausgesandt, um der Welt die Wahrheiten zu bringen, die Gott von Ewigkeit her in Aussicht hatte, Wahrheiten, die den Menschen als solche angeboten wurden, die ihr Teil sein würden, auf Grund des Werkes Christi. Daher konnte Paulus sagen: «Christus Jesus, unser Heiland»; der Urheber des Heils, das zu aller Zeit zum Ratschluss des Gottes der Liebe uns gegenüber gehörte. Von diesem Heil redet Paulus als ihm selbst angehörend. Er kann sagen: Christus ist nicht nur der Heiland, Er ist auch der meinige und aller derer, die an Ihn glauben: unser Heiland. Das Heil ist uns durch Jesum Christum erworben worden. Er selbst ist Knecht Gottes geworden, um es uns zu erwerben, und uns zum Diener, um es auf uns anzuwenden, nachdem Er es vollbracht hat (Phil 2,6-8).
Kapitel 1,1–4
Betrachten wir jetzt, worin der Dienst des Apostels bestand:
1. Sein Apostelamt hat mit den Grundsätzen des Judentums nichts gemein. Es ist völlig unabhängig vom Gesetz. Es ist «nach dem Glauben der Auserwählten Gottes».
Es richtet sich weder an das Fleisch, noch an den Willen des Menschen, sondern an den Glauben, im Gegensatz zum Gesetz. Ferner schliesst es den jüdischen Grundsatz eines Volkes, das auf eine fleischliche Herkunft gegründet ist, gänzlich aus. Gewiss, diese Abstammung war ursprünglich von dem Glauben des einen Abraham abgeleitet, indem sie aber die Beziehungen nach dem Fleische zu dem aus ihm hervorgegangenen Volke bestehen liess. Aber dieses Volk nach dem Fleische, berufen, sich dem Gesetz zu unterwerfen, hat durch seinen Ungehorsam jedes Recht verloren, als das Volk Gottes anerkannt zu werden. Es wird später diesen Anspruch – gleichwie wir – nur auf dem Boden des Glaubens der Auserwählten wiederfinden.
Das Apostelamt des Paulus richtet sich an den individuellen Glauben und nicht an ein bevorzugtes Volk, hervorgegangen aus einer irdischen Abstammung. Die diesen Glauben empfingen, waren Auserwählte Gottes, die Er von Ewigkeit her auserkoren hatte, Ihm anzugehören, und die, durch Glauben errettet, fortan durch ihre Vereinigung ein himmlisches Volk bildeten.
Diese beiden Dinge, der Glaube und die Auserwählung, kennzeichnen das Christentum in einer absoluten Weise, im Gegensatz zum Judentum. Das eine wie das andere ist ausschliesslich von der Gnade und nicht vom Gesetz abhängig.
2. Der zweite Gegenstand des Apostelamtes des Paulus war «die Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist».
Es war die Wahrheit, die ganze Wahrheit, die er bekannt machte, nichts weniger als das! Was ist denn Wahrheit? Sie ist die volle Offenbarung dessen, was Gott ist (Seine Natur), was Er sagt (Sein Wort) und was Er denkt (Sein Geist); mit andern Worten: die Offenbarung des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Was Gott ist, wurde uns in Christo geoffenbart, in welchem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt (Kol 2,9). In Christo erkennen wir Gott als Den, der Licht ist und der Liebe ist.
Wahrheit ist sodann auch, was Gott sagt, also Sein Wort. Jesus sagt: «Dein Wort ist Wahrheit» (Joh 17,17). Dieses Wort ist uns durch Christum gebracht worden. Er ist also gleichzeitig das, was Gott ist und was Gott sagt. Im Evangelium Johannes, das Ihn als «Sohn Gottes» vorstellt, sagt Er immer wieder: «Ich bin». Wenn die Juden Ihn fragen: «Wer bist du?», antwortet Er ihnen: «Durchaus das, was ich auch zu euch rede» (Joh 8,25). Die absolute Vereinigung dieser beiden Seiten der Wahrheit in Christo – was Gott ist und was Er sagt, Seine Natur und Sein Wort – wird uns in dieser Stelle vorgestellt. In Christo («im Sohne») hat Gott zu uns geredet, im Gegensatz zu der bruchstückhaften Weise, in der Er einst durch die Propheten geredet hatte (Heb 1,1), indem Er durch jene gewisse Seiten der Wahrheit vorstellte, während Gott sie jetzt in Christo, welcher das Wort ist, in ihrer Fülle bekanntmacht. Das Christentum ist der erhabene und einzig vollständige Ausdruck der Wahrheit, weil die Wahrheit darin «im Sohne» zu uns redet. Sie ist durch Ihn geworden, nicht durch Mose, weil sie in einer Person gekommen ist, welche die Wahrheit selbst ist, so wie das Wort sie uns enthüllt.
Die Wahrheit ist schliesslich der Gedanke Gottes über alle Dinge. Dieser Gedanke ist in Christo, und der Geist gibt Zeugnis davon, denn «der Geist ist die Wahrheit» (1. Joh 5,6). Er gibt Zeugnis davon, dass das ewige Leben in Christo ist und uns durch Sein Opfer erworben wurde.
Die Wahrheit findet also in Christo ihren vollkommenen Ausdruck, denn Er selbst ist die Wahrheit: «Ich bin die Wahrheit», sagt Er (Joh 14,6).
Unter der Herrschaft des Gesetzes offenbarte Gott keineswegs Seinen ganzen Gedanken über irgend etwas. Er liess sich nicht als der Gott der Liebe erkennen: Die Offenbarung Seiner selbst, die Jehova unter dem Gesetz gab, war höchstens von der Ausrufung Seiner Barmherzigkeit begleitet (2. Mose 34,6).
Unter dem Gesetz offenbarte Gott auch nicht, dass der Mensch verloren ist, denn das Gesetz setzte für den Menschen die Möglichkeit voraus, durch Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes das Leben zu erlangen. Jehova offenbarte darin auch nicht Seinen Gedanken über die Welt, denn unter Gesetz wurde die Welt noch nicht dargestellt, als endgültig Satan unterworfen und gerichtet. Es bezeugte auch nicht Gottes Gedanken über den Himmel; denn da der Mensch ein Sünder war, blieb ihm der Himmel verschlossen, und das Gesetz konnte ihm nur eine irdische Segnung verheissen. Auch Gott selbst war unter dem Gesetz nicht geoffenbart; Er blieb hinter dem Vorhang in tiefer Dunkelheit verborgen. Unter dem Gesetz war auch die Frage eines Opfers ungeklärt, das die Sünden hinwegzunehmen und den Sünder ein für allemal mit Gott versöhnen konnte.
Kurz, die Erkenntnis der Wahrheit blieb unter dem Gesetz unbekannt, oder sie war nur stückweise erkennbar. Diese Erkenntnis ist in ihrer Fülle ausschliesslich dem Christentum eigen.
Aber beachten wir hier einen zweiten Punkt: diese Erkenntnis der Wahrheit ist «nach der Gottseligkeit».
Die Gottseligkeit ist die Aufrechterhaltung der innigen Beziehungen zwischen unserer Seele und Gott, welche aus der Erkenntnis der Wahrheit hervorgeht. Das «Geheimnis der Gottseligkeit» in 1. Timotheus 3,16 ist nichts anderes; es ist das Geheimnis, wodurch Gottseligkeit hervorgebracht wurde, mittels welcher die Seele dazu geführt wird, ihre Beziehungen mit Gott zu geniessen und darin zu bleiben. Die ganze Wahrheit ist, wie wir gesehen haben, in einer einzigen Person zusammengefasst, in Jesus, Gott geoffenbart im Fleische. Er allein hat uns Gott erkennen lassen und bringt uns in Beziehung zu Ihm. Darum ist das grosse «Geheimnis der Gottseligkeit» in der Erkenntnis Christi allein zusammengefasst: «Gott ist geoffenbart worden im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit» (1. Tim 3,16). Die Erkenntnis der Wahrheit, wenn sie nicht die Gottseligkeit zum Ergebnis hat, würde den Menschen zu seiner ewigen Verdammung führen, denn sie vermöchte ihn nie in Beziehung zu Gott zu bringen. Statt die Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, zu haben, kann man sie «in Ungerechtigkeit besitzen» (Röm 1,18), und der Mensch, der sie in dieser Weise besitzt, ist ein Gegenstand des Zornes Gottes, statt ein Gegenstand Seiner Gunst.
3. Das dem Paulus anvertraute Apostelamt hatte «die Hoffnung des ewigen Lebens» zur Grundlage. Diese Hoffnung ist eine Gewissheit, die nichts Unbestimmtes, Unsicheres an sich hat, wie die menschliche Hoffnung, denn sie gehört dem Glauben an. Das ewige Leben ist von Gott selbst verheissen worden, vor ewigen Zeiten, und wie hätte Gott gegenüber Seiner eigenen Verheissung der Ewigkeit lügen können? Hatte Er nicht gesagt: «Ich bin Gott, und gar keiner wie ich; der ich von Anfang an das Ende verkünde, und von alters her, was noch nicht geschehen ist; der ich spreche: Mein Ratschluss soll zustande kommen»? (Jes 46,9.10). Die «Auserwählten Gottes» besitzen dieses Leben jetzt schon, durch den Glauben an einen gestorbenen Christus (Joh 6,54). «Er ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben.» Wer an Ihn glaubt, hat dieses Leben, nicht ein menschliches, vergängliches Leben, sondern ein geistliches Leben ohne Ende, das Leben Gottes selbst, ein Leben, fähig, Gott zu erkennen, Ihn zu geniessen, Gemeinschaft mit Ihm, dem Vater, und mit Seinem Sohne Jesus Christus zu haben. Solcherart ist «das ewige Leben». Solange der Christ hienieden ist, wird der Genuss dieses Lebens ohne Zweifel unvollkommen sein. Aber bald werden wir den ganzen Wert dieses Lebens in der Herrlichkeit verwirklichen; wenn wir Ihn, unser Leben, sehen und Ihm gleich sein werden; wenn wir erkennen werden, wie wir erkannt worden sind; wenn wir die unaussprechliche Wonne einer vollkommenen und ununterbrochenen Gemeinschaft mit Ihm, dem Gegenstand unserer Hoffnung, geniessen.
Das ist die christliche Lehre, das eigentliche Wesen des Christentums. Gewiss, wir können mit dem Apostel ausrufen: «O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!» Ja, welch unermesslicher Reichtum! Welch einen Gegenstand gibt uns das Christentum! Welche Sicherheit! Welchen gegenwärtigen Genuss! Welche Glückseligkeit und welchen Frieden in unseren Beziehungen mit Gott! Welch völlige Freude in Seiner Gemeinschaft! Welche Gewissheit für die Zukunft! Gibt es eine Erkenntnis, die mit der verglichen werden kann, die das Evangelium uns bringt?
«Zu seiner Zeit aber (hat es) sein Wort geoffenbart.» Im Gegensatz zu den «ewigen Zeiten» gibt es ein «seiner Zeit». In dieser Zeit sind wir jetzt; es ist der heutige Tag, an welchem Gott den ganzen Ratschluss Seiner Gnade, von welchem wir reden, völlig geoffenbart hat. Dieses «seiner Zeit», das Gott zum voraus festgesetzt hatte, ist jetzt erschienen. Diese Zeit ist durch eine in der Geschichte einzigartige Tatsache eingeführt worden, deren Auswirkung ebensowenig ein Ende hat, wie die Ewigkeit selbst: das Kreuz Christi und die Auferstehung des Sohnes Gottes aus den Toten. Da war es, wo der Ratschluss Gottes in Bezug auf uns völlig geoffenbart worden ist. Der Vorhang, der uns von Gott trennte, ist zerrissen, der Zugang zu Ihm in dem vollen Licht aufgetan, die Beziehung zu Ihm, als unserem Vater, auf immerdar festgemacht, das Erbteil, als unser Teil mit Christo in der Herrlichkeit, testamentiert – und alles das durch Ihn und in Ihm.
Nichts von all dem war vordem angekündigt und bekannt gewesen. Das Wort des Gottes, der nicht lügen kann, ist jetzt geoffenbart. Die ewigen Gedanken Gottes bestanden bis dahin in dem Verborgenen Seiner Ratschlüsse, jetzt aber sind sie bekannt, und die Predigt dieses Wortes ist Paulus anvertraut worden. Welch ungeheure Bedeutung hatte also sein Apostelamt! Seitdem ist das Wort der Wahrheit vollendet (Kol 1,25). Seine Predigt war ein Gebot, und wir wissen, wie der Apostel ihm gehorcht hat. Aber dieses Gebot hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Gesetz, denn es war nicht Jehova, der Gott vom Sinai, sondern der Heiland-Gott, der sich zu gegebener Zeit durch das Wort offenbarte, dessen Predigt dem Apostel anvertraut war.
Paulus richtete seinen Brief an Titus (V. 4). Dieser war das echte Kind des Apostels. Er war nach der Wahrheit gezeugt worden und hatte sie auf dem gleichen Boden empfangen wie sein geistlicher Vater: auf dem Boden des Glaubens. Dieser Glaube war also Paulus und Titus, dem Juden und dem Heiden, gemeinsam, aber Paulus war das Werkzeug gewesen, um ihn dem Titus mitzuteilen.
Gott, der Vater, und Christus Jesus, unser Heiland, die göttliche Liebe und die göttliche Gnade vereinigen sich, um Titus eine frohe Botschaft der Gunst und des Friedens als gegenwärtige Segnungen zu überbringen, die sein Teil waren, wie auch das des Apostels, welcher denselben Heiland hatte wie sein Jünger.
«Deswegen liess ich dich in Kreta, dass du, was noch mangelte, in Ordnung bringen und in jeder Stadt Älteste anstellen möchtest, wie ich dir geboten hatte: Wenn jemand untadelig ist, eines Weibes Mann, der gläubige Kinder hat, die nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt oder zügellos sind. Denn der Aufseher muss untadelig sein als Gottes Verwalter, nicht eigenmächtig, nicht zornmütig, nicht dem Wein ergeben, nicht ein Schläger, nicht schändlichem Gewinn nachgehend, sondern gastfrei, das Gute liebend, besonnen, gerecht, fromm, enthaltsam, anhangend dem zuverlässigen Worte nach der Lehre, auf dass er fähig sei, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen, als auch die Widersprechenden zu überführen» (Kap. 1,5–9).
Wir haben gesehen, welches die Grundlagen des Christentums sind: Der Glaube der Auserwählten, die Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, das ewige Leben, das Wort Gottes, und schliesslich die Predigt, welche diese Dinge aus dem Worte schöpft. Alle diese Gegenstände sind in dem enthalten, was als «die gesunde Lehre» bezeichnet wird.
Die soeben angeführten Verse 5–9 befassen sich mit der guten Ordnung in der Versammlung, und diese gute Ordnung kann nicht Platz greifen ohne die gesunde Lehre und die Unterweisung, die sie den Gläubigen vorstellt. Darauf haben wir schon am Anfang dieser Betrachtung hingewiesen.
Diese Unterweisung ist allen denen anvertraut, welchen Gott in der Versammlung eine besondere Verantwortung gegeben hat: zuerst Titus (2,1), den Ältesten (1,9), den alten Frauen, wenn auch in einem sehr begrenzten Masse (2,3), den Jünglingen (2,7). Schliesslich hat die Unterweisung ihr vollkommenes Vorbild in der Unterweisung der Gnade, die in Jesu erschienen ist (2,12).
Die Titus anvertraute Verwaltung bestand darin, die gute Ordnung in den Versammlungen Gottes in Kreta festzulegen, zu regeln und aufrecht zu halten, während die Timotheus anvertraute Verwaltung in der Versammlung zu Ephesus darin bestand, in besonderer Weise über die Lehre zu wachen, damit sie nicht verfälscht würde. Die Verwaltung, die dem Apostel Paulus übergeben wurde, war viel weiter ausgedehnt, als die seiner Delegierten: er hatte die Verwaltung des Geheimnisses des Christus in dieser Welt (Eph 3,2.9; 1,10; 1. Kor 9,17), des Geheimnisses, das von den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen, jetzt aber durch den Geist geoffenbart war. Dieses Geheimnis war die Vereinigung der Versammlung mit Christo zu einem Leibe. Paulus sollte diese ihre Stellung und ihre Berufung bekanntmachen, und die Verwaltung dieses Geheimnisses war verbunden mit einem unaufhörlichen Wirken und einer beständigen Überwachung, denn der Apostel wünschte, dem Christus Seine Braut als «eine keusche Jungfrau» darzustellen.
Was Titus anbelangt, handelte es sich mehr, wenn auch nicht ausschliesslich darum, die äussere Ordnung in den persönlichen Beziehungen der Christen untereinander aufrechtzuhalten. In dieser Beziehung blieben verschiedene Dinge zu regeln, unter anderem die Einsetzung von Ältesten.
Die Frage der Ältesten, die so oft von denen erhoben wird, die in den protestantischen Kirchen den Klerus verteidigen, ist im Lichte des Wortes geklärt und ist für jeden geregelt, der sich der Autorität der Schriften unterwirft, so dass es unnütz erscheint, hier näher darauf einzugehen. Wir beschränken uns darauf, sie zusammenzufassen.
Die Ältesten, ein Name, der identisch ist mit Bischöfen oder Aufsehern, werden sorgfältig unterschieden von den Gaben des Geistes oder den Gaben, die der verherrlichte Christus Seiner Versammlung gegeben hat. Die Identifikation dieser Gaben mit den Ämtern der Bischöfe (oder Aufseher) und der Diakone (oder Diener) ist ein Kennzeichen des Verfalls der Kirche und hat diese nach dem Verlassen der ersten Liebe sehr bald charakterisiert. Die Ältesten, wie auch die Diakone, sind lokale Ämter, das heisst, sie überschreiten die Abgrenzung einer lokalen Versammlung nicht. Diese Ämter bestanden, zwar nicht öffentlich, aber ebenso wirklich in den aus dem Judentum hervorgegangenen Versammlungen, während sie in den Versammlungen der Nationen durch den Apostel oder durch seine Beauftragten eingesetzt wurden. Es könnte noch andere gegeben haben, aber nur zwei dieser Beauftragten, Timotheus und Titus, werden in den Briefen als Gesandte des Apostels Paulus erwähnt. Auf alle Fälle sind wir nur ermächtigt, diese, die im Wort erwähnt sind, anzuerkennen. Titus ist der Beauftragte, mit dem unser Brief uns beschäftigt.
Die Gaben werden bis zum Ende bestehen (Eph 4,11-14). Von den Ämtern wird das nie gesagt. Ihr gegenwärtiges Fehlen (denn wir können die in offenem Widerspruch zum Worte Gottes eingesetzten Ältesten in keiner Weise anerkennen), ist ein ebenso greifbarer Beweis des Verfalls der Kirche, wie ihre Einsetzung ohne die Sanktion der Schriften. Tatsächlich, wo befindet sich heute die Autorität, um sie einzusetzen? Gewiss gibt es der Herr den Seinen ins Herz, da wo sie nach dem Worte versammelt sind, sich der Notwendigkeit der Aufsicht, die inmitten der Versammlungen vorhanden ist, zu unterziehen, aber jede Einsetzung oder Weihe von Ältesten, die auf eine andere Weise als in der geschieht, die das Wort lehrt, ist im Widerspruch zum Gedanken des Geistes Gottes. Die Christen, die dem Worte unterworfen sind, werden sich strikte an seine Unterweisungen halten, sowohl in diesem wie auch in jedem anderen Punkt.
Die Gabe und das lokale Amt können bei der gleichen Person vorhanden sein, aber in der Schrift werden sie nie miteinander vermischt. Ob so oder so, waren die Ältesten alle dazu bestimmt die Herde zu weiden, aber es gab Älteste, die nicht am Worte dienten. Ausser ihren Funktionen, die darin bestanden, die Herde zu überwachen und zu pflegen, sollten die Ältesten fähig sein, zu unterweisen, dem Worte anzuhangen nach der Lehre, damit zu ermahnen und die Widersprechenden zu überführen, aber mit dem Wort in dem Werke zu arbeiten und zu lehren war nicht unerlässlich für ihr Amt. Siehe 1. Timotheus 5,17, wo gesagt wird: «sonderlich die da arbeiten in Wort und Lehre».
Wir finden also in den Versen 6–9 die von den Ältesten geforderten Eigenschaften, damit Titus sie einsetzen konnte. Es handelt sich in erster Linie um Eigenschaften äusserlicher Art (V. 6), weil sie von allen festgestellt werden können. Sie zeigen sich beim Ältesten im Verhalten seines Hauses und im Leben seiner Familie. Der Älteste musste in dieser Beziehung untadelig sein. Wie hätte er andere zurechtweisen können, wenn er selber der Zurechtweisungen bedurfte? Er sollte verheiratet sein und konnte nicht zwei Frauen haben, was nicht gemäss der göttlichen Ordnung war, eingesetzt bei der Schöpfung, aber gebräuchlich unter den Nationen und üblich bei den Juden, die eine Frau entliessen, die ihnen nicht gefiel, um eine andere zu nehmen. Der Älteste sollte seiner eigenen Familie gottgemäss vorstehen (um Ältester zu sein, war es nötig, dass er Kinder hatte), wenn nicht, wie konnte ihm da die Aufsicht über die Versammlung anvertraut werden? Seine Kinder sollten gläubig sein. Das setzte bei ihnen Bekehrung, Glauben, Gottseligkeit voraus. Es ging nicht an, dass seine Kinder der Ausschweifung angeklagt werden mussten, das heisst, der Unbeherrschtheit und des schlechten Lebenswandels. So war es einst bei den Söhnen Elis. Diese dienten ihrem Vater zum Fall, weil er nicht streng gegen sie war und seine Söhne mehr ehrte als Jehova. Daher hatten ihre Ausschweifungen über sie und ihren Vater ein schreckliches Gericht herabgezogen. Die Kinder der Ältesten sollten nicht den Vorwurf der Zügellosigkeit auf sich laden, indem sie die Autorität ihres Vaters über sich missachteten. An diesen Wesenszügen konnte die Welt erkennen, dass in der Familie des Ältesten eine Gott gemässe Ordnung aufrechterhalten wurde.
Der 7. Vers stellt uns den Ältesten selbst bezüglich seiner inneren und persönlichen Eigenschaften vor. Wenn er in seinem Familienleben untadelig sein musste, so sollte er es auch als Verwalter Gottes sein. Er war weder gegenüber dem Apostel verantwortlich, der seine Einsetzung angeordnet, noch gegenüber Titus, der ihn angestellt hatte, sondern Gott gegenüber, der ihm die Verwaltung Seines Hauses anvertraute. Wir finden hier also drei Grade in der Verwaltung: zuerst den Apostel, dann Titus, sein Abgeordneter, dann den Ältesten, aber ihrer aller Verantwortlichkeit war gegenüber Gott allein. Wie wichtig ist es, dies festzuhalten! Welches auch immer die Aufgabe sein mag, die Gott uns anvertraut hat, wir sollen sie im Blick auf Ihn verrichten. Wie wir gesehen haben, sind die Verwaltungen sehr verschiedenartig; ein Ältester konnte nicht übergreifen auf die Aufgabe des Titus, noch ein Titus auf die des Apostels. Ein solches Handeln des einen oder des andern hätte verwerfliche Selbstgefälligkeit und Unabhängigkeit bewiesen, die in diesen verschiedenen Verwaltungen zu einer völligen Unordnung geführt hätte. Aber es blieb dabei nicht weniger wahr, dass die Verantwortung eines jeden – hier des Ältesten – vollständig und keineswegs abgeschwächt war gegenüber Gott, weil er sich in einer untergeordneten Stellung befand. Hier war diese Verwaltung zweifellos äusserlich, aber es gibt nichts Nebensächliches, wenn es sich um das Haus Gottes handelt.
Kapitel 1, Vers 7
Bezüglich der erforderlichen persönlichen Eigenschaften des Ältesten weist der Apostel zunächst auf fünf negative Eigenschaften hin.
- Er soll «nicht eigenmächtig» sein. Das Vorhandensein dieser ersten negativen Eigenschaft ist leider nur zu häufig unter den Kindern Gottes. Gewisse Geister kann man nie von ihrer eigenen Meinung abbringen. Diesem Verhalten liegt viel Selbstzufriedenheit, Eigensinn und eigentlich viel Selbstsucht und Hochmut zu Grunde, mit einem Eigenwillen, der sich den Gedanken anderer nicht unterwerfen will, vergessend, dass gesagt ist: «Einander unterwürfig in der Furcht Christi» (Eph 5,21). Dieser Fehler allein schon macht einen Christen unfähig, ein Aufseher zu sein, das heisst, das Haus Gottes weise zu verwalten; daher ist er in der Liste der Dinge, die einen Bruder zum Ältesten ungeeignet machen, an erster Stelle. Eine gute Verwaltung ist unmöglich ohne Selbstverleugnung.
- Nicht zornmütig.» Ein jähzorniger Mann hat nicht die weise und ruhige Selbstbeherrschung. Wie sollte er da andere leiten können?
- «Nicht dem Wein ergeben.» Hier geht es nicht um einen Trunkenbold, von dem gesagt ist, dass er das Reich Gottes nicht ererben werde, sondern um eine Gewohnheit der Unenthaltsamkeit, verbunden mit Zorn, welche oft dessen Ursache ist.
- «Nicht ein Schläger.» Schlagen ist die Folge von Zorn.
- «Nicht schändlichem Gewinn nachgehend.» 1 Auch von den Diakonen oder Dienern wird in 1. Timotheus 3,8 gesagt: «nicht vielem Wein ergeben, nicht schändlichem Gewinn nachgehend». Der gleiche Ausdruck wird in 1. Petrus 5,2 auf die Ältesten angewandt: «Aufsicht nicht aus Zwang, sondern freiwillig, auch nicht um schändlichen Gewinn, sondern bereitwillig.» Es ist schändlich, sein Amt als Aufseher im Blick darauf auszuüben, einen finanziellen Gewinn daraus zu ziehen. Geld um des Geldes willen zu lieben, ist eine schreckliche Schlinge und verleitet, es überall und mit allen Mitteln zu suchen.
Im achten Vers finden wir sieben positive Eigenschaften des Ältesten. Bevor ich sie aufzähle sei darauf hingewiesen, dass nach 1. Timotheus 3,2-4 vierzehn Eigenschaften den Ältesten zieren sollen, freilich mit negativen Eigenschaften vermischt. Dort ist die Liste also vollständiger als hier (sozusagen zweimal vollkommen). Die Zahl 7 spielt im Worte Gottes im moralischen Sinn eine grosse Rolle und sogar auch, wie einige bemerkt haben, in der rein äusserlichen Struktur der Heiligen Schrift. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit in Verbindung mit der göttlichen Verwaltung. Im Timotheusbrief ist das Amt der Ältesten durch die Zahl 14 gehoben, gegenüber den Funktionen der Diener und Dienerinnen, von denen nur 7 Eigenschaften angeführt sind.
Treten wir jetzt auf die positiven Eigenschaften des Ältesten ein, die in Titus 1 aufgezählt sind.
- «Gastfrei». Gastfreundschaft lässt sich nicht mit Gewinnsucht und Geiz vereinbaren. In Hebräer 13,1.2 wird diese Gastfreundschaft allen Heiligen anempfohlen; sie habe oft dazu geführt, göttliche Boten als Träger besonderer Segnungen zu beherbergen. Hier soll der Aufseher weder seine Bequemlichkeit suchen, noch sich vor der Störung seiner Gewohnheiten fürchten. Sein Haus soll allen offen stehen; es soll einladend sein in dem kleinen Kreise, der ein Bild ist von dem grossen Bereich des Hauses Gottes, das die Ältesten örtlich verwalten.
- «Das Gute liebend.» Das ist mehr als «das Böse hassen». Im letzteren Fall beschäftigt das Böse die Gedanken, im Blick darauf, sich davon abzusondern; im ersten Fall aber sind sie mit dem Guten beschäftigt, um es zu geniessen. Die unmittelbare Folge ist die, dass man sich mit den Menschen des Guten verbindet und mit ihnen Gemeinschaft hat.
- und
- «Besonnen, gerecht.» Ein besonnener und gerechter Mann ist umsichtig, ausgeglichen, er lässt sich nicht vom ersten Eindruck bestimmen und bewegen und weis die Umstände, in denen sich die andern befinden, gerecht abzuwägen.
- «Fromm» (heilig). Fromm sein heisst: heilig sein in seinem Wandel und Gott wohlgefällig in seinen Wegen, ein Leben führen, worin Gott Mittelpunkt ist, ein durch Gott genährtes und geregeltes Leben.
- «Enthaltsam.» So haben die fleischlichen Leidenschaften keine Gelegenheit, sich zu offenbaren, und die natürlichen Begierden sind unterdrückt.
- «Anhangend dem zuverlässigen Worte nach der Lehre.» Die Aufgabe des Ältesten war, dem Worte unerschütterlich anzuhangen und es aufrechtzuhalten. Es war das zuverlässige Wort, nach der Lehre der Apostel, das nicht täuscht, auf das man sich unbedingt stützen kann, weil es das Wort des treuen Gottes ist. Aber der Älteste konnte nicht im Ursprung der sein, «der da lehrt»; er war selber unterwiesen worden durch die den Aposteln anvertraute Lehre, durch die gesunden Worte, die sie mitzuteilen beauftragt waren, und diese Worte waren nichts anderes als die «von Gott eingegebene Schrift», in den Mund der Apostel gelegt, und der Älteste musste sie daher festhalten. Die Lehre war also nichts anderes als die volle Anerkennung des Wortes, denn sie war eins mit ihm. Das Wort, vorgestellt durch schriftgetreue Unterweisung, gilt es festzuhalten, nicht eine Lehre, die man daraus entwickelt.
Dieses Festhalten am Wort machte den Ältesten fähig, (die Treuen) mit der gesunden Lehre zu ermahnen, als auch die Widersprechenden zu überführen (die sich der christlichen Lehre widersetzen). Die durch die Liebe zum Worte Gottes erworbene Fähigkeit war eines der Dinge, die der Älteste nötig hatte. Wenn es darum geht, die Ordnung im Hause Gottes aufrechtzuhalten, genügen die sittlichen Eigenschaften und der persönliche Wandel nicht. Zweifellos, wenn sie nicht vorhanden waren, so bestand keinerlei moralische Autorität für die Verwaltung, aber es ist tatsächlich keine Verwaltung möglich, wenn sie nicht das Wort zur Grundlage und zur Richtschnur hat.
Diese Dinge wurden von den Dienern, in 1. Timotheus 3,8-10, nicht verlangt, ausgenommen dieses, dass sie «das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen bewahren» sollten. In diesem gleichen Kapitel finden sich zwei Geheimnisse, das des Glaubens und das der Gottseligkeit «Das Geheimnis des Glaubens» ist die Gesamtheit der Wahrheiten, die jetzt geoffenbart, dem Glauben angehören. Es brauchte für den einfachen Dienst eines Diakonen eine Vertrautheit mit den grossen Linien des Wortes, die das Gewissen erreicht haben mussten, um darin bewahrt zu werden. Das gab dem bescheidensten Dienst, wie dem die Tische bedienen, einen besonderen Wohlgeruch, aber es bereitete den Diener zu, «voll Gnade und Kraft» zu sein, wie Stephanus, der dann berufen wurde, ein öffentliches Zeugnis vor der Welt abzulegen.
Die Verantwortung des Ältesten ist viel weitgehender als die der Diener, die übrigens im Titusbrief nicht erwähnt sind, was leicht erklärlich ist: es war die Versammlung, welche die Diener wählte. Jene Diener in Apostelgeschichte 6,3-5 wurden erst nachher durch die Apostel zu einem besonderen Dienst eingesetzt. Um die Ordnung zu beaufsichtigen oder aufrechtzuhalten muss man oft ermahnen oder die Widersprechenden überführen. Die Grundlage der Ermahnung selbst ist die gesunde Lehre, und wir haben hier Gelegenheit festzustellen, was wir am Anfang sagten, dass praktische Heiligkeit und ein gerader und gottseliger Wandel von der gesunden Lehre unzertrennlich sind und ohne diese nicht bestehen können, was die Menschen auch immer sagen mögen. Durch diese allein auch können die Widersprechenden zum Schweigen gebracht und gehindert werden, durch Widerstand gegen die Wahrheit die Versammlung anzustecken.
Man sieht also, welche Wichtigkeit der Funktion des Aufsehers beigemessen wird, wenn auch die Sphäre seines Dienstes auf die örtliche Versammlung begrenzt ist. Dieses Amt muss folglich den lokalen Umständen der Versammlung angepasst sein, in welcher es ausgeübt wird. So war es, wie wir noch sehen werden, in den Versammlungen in Kreta. Darum waren auch die erforderlichen Eigenschaften der Ältesten hier nicht unbedingt die gleichen, wie in der ersten Epistel an Timotheus, wo es sich um die Versammlung in Ephesus handelte.
Die Ältesten waren nicht Gaben des Heiligen Geistes, gekennzeichnet durch Allgemeinheit (Universalität) ihrer Wirksamkeit, sondern ihre gewohnte Tätigkeit war das praktische Ergebnis eines heiligen, gottseligen hingebenden Lebens, das am Worte festhielt. Aber das Amt des Ältesten schloss die Gabe nicht aus, so wenig wie dies beim Amt des Dieners der Fall war. Das sehen wir aus der wunderbaren Predigt des Stephanus in Apostelgeschichte 7. Das finden wir auch in 1. Timotheus 5,17. Aus dieser Stelle geht hervor, dass nicht alle Ältesten «in Wort und Lehre arbeiteten». Ihre Tätigkeit auf diesem Gebiet wird als vortreffliche Ausnahme bezeichnet, in bezug auf die Hilfe doppelter Ehre würdig, in welcher Art ihnen diese auch immer geleistet werden sollte.
Kapitel 1, ab Vers 10
«Denn es gibt viele zügellose Schwätzer und Betrüger, besonders die aus der Beschneidung, denen man den Mund stopfen muss, welche ganze Häuser umkehren, indem sie um schändlichen Gewinnes willen lehren, was sich nicht geziemt. Es hat einer aus ihnen, ihr eigener Prophet, gesagt:,Kreter sind immer Lügner, böse, wilde Tiere, faule Bäuche.' Dieses Zeugnis ist wahr; um dieser Ursache willen weise sie streng zurecht, auf dass sie gesund seien im Glauben und nicht achten auf jüdische Fabeln und Gebote von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden. Den Reinen ist alles rein; den Befleckten aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihre Gesinnung als auch ihr Gewissen. Sie geben vor, Gott zu kennen, aber in den Werken verleugnen sie ihn und sind greulich und ungehorsam und zu jedem guten Werke unbewährt» (V. 10–16).
Die Verse 10–11 beschreiben die Widersprechenden in Vers 9, eine wahre Plage der Versammlungen von Kreta. Sie haben drei Kennzeichen: 1. Auflehnung. Indem sie keine über sie eingesetzte Autorität dulden, lehnen sie sich dagegen auf und erheben sich gegen jede Aufsicht, die Gott zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Seinem Hause gegeben hat. 2. Zügellose Schwätzer. Oft genügt eine gewisse Redegewandtheit, hinter welcher sich die geistliche und moralische Nichtigkeit dieser Menschen verbirgt, um Christen anzuziehen, die unwissend, oberflächlich oder weltlich sind, und deshalb unfähig, die Absicht dieser Schwätzer zu erkennen. 3. Betrüger. Sie sind in Wirklichkeit Instrumente Satans, dem Lügner im wahrsten Sinne des Wortes, um das Werk Gottes zu schädigen und zu zerstören. Diese Werkzeuge fanden sich besonders unter denen aus der Beschneidung.
Es gibt nichts, was die religiöse Welt mehr verführt, als ein gesetzliches System, das sich auf die vermeintliche Fähigkeit des Menschen stützt, Gutes zu tun. Die Lehre der absoluten Unfähigkeit des sündigen Menschen ist diesen Gegnern zuwider. Man muss ihnen den Mund stopfen und nicht dulden, dass sie die Lehre der Gnade und des Glaubens in der Versammlung angreifen und zerstören. Ihre Tätigkeit kehrt ganze Häuser um. Man weiß, wie gefährlich die Autorität des Hauptes der Familie ist, wenn er sich selbst mitreissen lässt und den falschen Lehrern und Verführern nachgibt, statt zu widerstehen. Man hat sehen können, wie ganze Familien gesamthaft die gesunde Lehre der Versammlung Gottes aufgaben, um zur gesetzlichen Belehrung zurückzukehren und dadurch neue Werkzeuge des Zerfalls wurden, anstatt zur Auferbauung des Leibes Christi beizutragen.
Diese Leute lehrten, was sich nicht geziemt, im Widerspruch zur «gesunden Lehre» der Ältesten und des Titus selbst, welcher ermahnt wurde (2,1), zu reden, was der gesunden Lehre geziemt. «Was sich nicht geziemt», war das, was der moralischen Gesundheit der Christen unweigerlich schadete und sie von Christo und der Wahrheit abzog. Man brauchte nur ihre Motive zu erkennen: sie lehrten um schändlichen Gewinnes willen. Deshalb war es so wichtig, ihnen Älteste entgegen zu stellen, die Gott gemäss ausgewählt wurden und nicht «schändlichem Gewinn nachgingen» (V. 7). Diese Männer wussten, dass ihre verfälschte Ware dem Geschmack etlicher entsprach; sie machten sich das zunutze, um irgendwie zu dem Geld zu kommen, das sie begehrten. Abraham hätte einen schändlichen Gewinn gemacht, wenn er die Gaben des Königs von Sodom angenommen hätte; ebenso Petrus, wenn er das Geld von Simon, der Zauberei trieb, genommen hätte.
Verse 12–14. Diese Schwätzer, und unter ihnen Angehörige des jüdischen Volkes, waren ursprünglich von Kreta. Auch die Kreter hatten wie andere Nationen ihre eigenen Propheten, Poeten und Moralisten, die in ihren Werken ihre tiefe Verachtung für ihre Mitbürger zeigten. Zu diesem Urteil gelangen die meisten klarsehenden Moralisten in der Welt, wenn sie sich zur Aufgabe stellen, die Menschen zu erkennen. Sie schätzen sie schliesslich sehr gering ein, gehen aber nie so weit, sich selbst zu verachten, weil sie sich nie vor Gott gesehen haben, um wie Hiob zu sagen: «Ich verabscheue mich.» So hat Epimenides, Philosoph und Staatsmann, ihr eigener Prophet, in dem einzigen Bruchstück, das uns, wenn ich nicht irre, von ihm geblieben ist, seine Mitbürger 600 Jahre vor Christo wie folgt beurteilt: «Kreter sind immer Lügner, böse, wilde Tiere, faule Bäuche.» Lüge, bestialische Bosheit und Völlerei, Begierden, die sich ohne Arbeit und Mühe befriedigen wollen, das war der Charakter der Kreter; so sind sie vielleicht noch heute. Dieses Zeugnis ist wahr, sagt der Apostel. Was die Beurteilung seiner Mitbürger betrifft, hatte jener Mann Gott gemäss gesprochen; er «besass die Wahrheit» (Röm 1,18); er war ein von Gott anerkannter Zeuge der Verderbtheit der Kreter. Was war im Hinblick auf diese Menschen zu tun? «Weise sie streng zurecht», sagt der Apostel zu seinem treuen Beauftragten. In 2. Kor 13,10 finden wir den gleichen griechischen Ausdruck, wo Paulus davon spricht, «Strenge zu gebrauchen nach der Gewalt, die der Herr mir gegeben hat zur Auferbauung und nicht zur Zerstörung». Es handelte sich somit darum, gegen die «Verführer» Strenge zu gebrauchen, mit Gewalt, einer Funktion, die nicht den Ältesten anvertraut wurde, sondern Titus, bezeichnet durch den Apostel, welcher selbst diese Autorität direkt vom Herrn empfangen hatte. Diese Strenge hatte auch Paulus mehr als einmal gebraucht, selbst hinsichtlich des Petrus, wie er ein Apostel, als der Glaube auf dem Spiel stand und die gesunde Lehre in Gefahr war. Aber der Tadel selbst, der sich an diese zügellosen Schwätzer und Betrüger richtete, hatte die Liebe als Motiv. Sein Ziel war nicht, diese störenden und gefährlichen Menschen zu verwerfen, sondern sie dazu zu führen, gesund im Glauben zu sein. Diese Entfaltung geistlicher Autorität war notwendig, um sie zur Erkenntnis der durch den Glauben empfangenen Wahrheiten zurückzuführen. 2 Selbstverständlich wurde diese Autorität durch den Gebrauch des Wortes Gottes in der Kraft des Geistes ausgeübt.
Vers 14. «Nicht achten auf jüdische Fabeln.» Die «Fabeln» sind im ersten Brief an Timotheus (1,4) erwähnt, wo sie von den «endlosen Geschlechtsregistern» unterschieden, aber doch damit verbunden werden. Diese «Geschlechtsregister» haben keine Beziehung zu den Geschlechtsregistern im Alten Testament, wie man geneigt wäre zu denken, sondern sind eine Mischung von jüdisch-spiritistischen und philosophischen Spekulationen mit dem Christentum, hernach bei seinem Verfall durch das Heidentum übernommen. Die jüdischen Fabeln, in 1. Tim 4,7 als «ungöttliche Fabeln» und Altweiber-Geschichten bezeichnet, sind das Produkt orientalischer Einbildung, die sich auf die Schriften auswirkt und unter dem Vorwand, die Wahrheit zu zieren, sie entstellt und sogar zunichte macht. Der Apostel Petrus nennt sie «künstlich erdichtete Fabeln» (2. Petrus 1,16). 3
In unserem Abschnitt wird zwischen jüdischen Fabeln und «Geboten von Menschen» unterschieden, obwohl die einen wie die andern von «denen aus der Beschneidung» kamen. Die Gebote, von denen hier die Rede ist, sind nicht die Gebote des Gesetzes, die Gott gegeben hatte, sondern durch Menschen erfundene und zur Tradition erhobene gesetzliche Vorschriften, deren es im Judentum eine Fülle gibt. Man begegnet ihnen häufig in den Evangelien, wie beispielsweise dem Waschen der Becher und Krüge und «vielen andern ähnlichen Dingen». Durch diese Dinge wandten sich solche Menschen von der Wahrheit ab. Sie waren im krassen Gegensatz zum Apostelamt des Paulus, das auf der «Erkenntnis der Wahrheit» beruhte (1.1).
Vers 15. «Den Reinen ist alles rein.» Der Christ ist rein, nicht in sich selbst, aber vor Gott, auf Grund des Werkes Christi und unter der Wirkung des Heiligen Geistes (1. Kor 6,11). Als solcher kann er durch Schmutz nicht befleckt werden, und genau das war es, was diese Anhänger der jüdischen Lehren durch ihre «Gebote von Menschen» verneinten, während das Wort Gottes den neuen Menschen auffordert, in den Fussstapfen Jesu zu wandeln. Nie konnte der Herr befleckt werden, weder durch den Schmutz des Aussatzes noch durch irgend eine andere Unreinheit. Eine Sünderin, eine Ehebrecherin konnten durch Ihn gereinigt werden, aber Er wurde durch sie nicht befleckt. Im Gegenteil, «die Befleckten und die Ungläubigen» werden durch keine Reinheit beeinflusst, denn es ist das Innere, d.h. «ihre Gesinnung und ihr Gewissen», die befleckt sind.
In Vers 16 wird uns der Charakter dieser befleckten Menschen beschrieben: dem Bekenntnis nach kennen sie Gott, während ihre Werke das Gegenteil zeigen; durch diese verleugnen sie Gott. Ihre Werke lassen uns erkennen, ob sie Gott wirklich kennen, wie sie behaupten; und wenn ihre Werke böse sind, können wir in dieser Frage sicher sein. Man kann von ihnen kein gutes Werk erwarten. Sie sind «unbewährt», in dieser Hinsicht gänzlich von Gott verworfen; sie sind» greulich und ungehorsam».
Das führt uns dazu, den Charakter der guten Werke zu betrachten. Sie werden in diesem kurzen Brief sechsmal erwähnt (1,16; 2,7.14; 3,1.8.14).
Eine Lehre, die nicht zu guten Werken führt, ist nicht die «gesunde Lehre», und es ist äusserst wichtig, diesen Punkt zu beachten. Gott ist keine praktische Tätigkeit wohlgefällig, wenn sie nicht die «gesunde Lehre» des Wortes als Grundlage hat. Der erste Brief an Timotheus, der uns von der Aufrechterhaltung der «gesunden Lehre» im Hause Gottes spricht, erwähnt die guten Werke ebenso oft (2,10; 3,1; 5,10.25; 6,18). In einem wichtigen Abschnitt des zweiten Briefes an Timotheus (2,21) wird uns gezeigt, dass man sich «zu jedem guten Werke zubereitet», wenn man sich vom Bösen im Hause Gottes reinigt, d.h. absondert. Nun wird aber diese Wahrheit von den lieben Kindern Gottes wenig verstanden. Sie sprechen bei jeder Gelegenheit von guten Werken, ohne je das getan zu haben, was allein sie dazu vorbereiten kann: sich von den Gefässen zur Unehre reinigen. Die guten Werke haben als Merkmal, dass sie das Ergebnis der Heiligkeit und der Liebe sind. Jesus, der «heilige Knecht Gottes», der mit «heiligem Geiste gesalbt» worden war, ging wohltuend von Ort zu Ort (Apg 10,38). Es gab nicht eines der «guten Werke, die Er den Menschen von Seinem Vater zeigte», das nicht ein Werk der Liebe gewesen wäre. So war es auch bei Seinen Jüngern. Dorkas war «voll dieser guten Werke». Die Liebe war die innere Triebkraft all ihrer Tätigkeit. In Heb 10,24 kommen die guten Werke aus der Liebe hervor; sie sind nicht davon zu trennen. So ist es auch mit jenen der heiligen Witwen in 1. Tim 5,10.
Nach Epheser 2,10 ist der Christ geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, aber nicht, um sie nach seinem Gutdünken zu wählen; denn Gott selbst hat sie «zuvor bereitet», und wir haben nur darin zu wandeln. Gemäss Heb 13,21 haben sie zum Ziel, Seinen Willen zu tun und ihm wohlgefällig zu sein.
Diese guten Werke, von Gott vorbereitet – nicht durch uns, was ihnen den ganzen Wert nehmen würde –, haben das Merkmal, dass sie im Namen Jesu Christi getan werden (Apg 4,9-10). Sie geschehen an Jesus (Markus 14,6), an den Heiligen (Apg 9,36) und an allen Menschen (Gal 6,10), aber sollen immer für Christum getan werden.
Die Welt kann nichts verstehen von den guten Werken, die für Christus getan werden, denn nicht nur kennt sie den Herrn nicht, sondern sie ist Sein Feind. Die Salbe der Maria ist Torheit in ihren Augen; die göttliche Liebe, die das Herz des Gläubigen einerseits zu den Heiligen und anderseits zu den Verlorenen in der Welt treibt, ist für den natürlichen Menschen toter Buchstabe.
Im Gegensatz zu den guten Werken haben die bösen Werke das Böse als Ursprung und zum Ziel. Ein Christ, selbst der vorzüglichste, ist in dieser Hinsicht in Gefahr und hat nötig, von jedem bösen Werke bewahrt zu bleiben (2. Tim 4,18). Die bösen Werke kennzeichnen gewöhnlich die Feinde Gottes (Kol 1,21).
Die toten Werke sind das Gegenteil der lebendigen Werke. Sie haben nicht das göttliche Leben zum Ursprung. Sie werden nicht «böse Werke» genannt, aber sie haben keinen Wert für Gott, und da sie die sündige Natur als Ausgangspunkt haben, ist es notwendig, von ihnen gereinigt zu werden (Heb 6,1; 9,14). So gut wie die bösen Werke werden sie Gegenstand der Verurteilung sein, die vor dem grossen weissen Thron über die Menschen ausgesprochen wird.
Wenn es sich um die gute Ordnung im Hause Gottes handelt, so erkennt man sie an den guten Werken derer, die zu diesem Haus gehören, und nicht an ihrem Bekenntnis. Das Bekenntnis hindert die Personen, die im 16. Vers unseres Kapitels erwähnt werden, nicht, «greulich und ungehorsam» zu sein. Gott nahm nicht nur ihr Bekenntnis nicht an, sondern verwarf auch sie selbst.
Fußnoten
- 1 Hier besteht die Schande nicht eigentlich in der Liebe zum Geld, die nach 1. Tim 3,3 beim Ältesten nicht sein darf, sondern in der Liebe zum Gewinn, zu der die Geldliebe führt. Diese Gewinnsucht wird mit Recht als schändlich bezeichnet, weil dabei heilige Funktionen, die kein anderes Motiv haben sollten als selbstlose Hingabe für das Haus Gottes, zur Befriedigung niederer Begierden missbraucht und ausgenützt werden.
- 2 Das ist hier, wie in vielen anderen Stellen, der genaue Sinn des Wortes Glauben, während es sonst häufiger gebraucht wird, wie in Kap. 1,1, um den Zustand des Herzens zu bezeichnen.
- 3 Die endlosen Geschlechtsregister sind erdichtete Vorstellungen über den Ursprung und die Anfänge der geistigen Wesen. Sie sind das Produkt jüdischen Aberglaubens, verbunden mit der heidnischen Philosophie. Diese Kabale oder jüdische Überlieferung über die Auslegung des Alten Testaments enthält viele märchenhafte Bestätigungen bezüglich dieser «Anfänge». Gemäss der Kabale gibt es zehn «Sephiroth» oder Anfänge, die von Gott herrühren sollen. Sie scheinen die Äonen der Gnostiker veranlasst zu haben. Auf diese Theorie wurde ein System der Magie gepfropft, das vor allem im Gebrauch von Wörtern der Schrift bestand, um übernatürliche Wirkungen zu erzeugen.