Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 26
Das Lehren über praktische und prophetische Themen ist jetzt zu Ende. Die Szene über alle Szenen naht heran, über die ich, so gesegnet sie auch ist, jetzt nicht viel sagen kann. Der Herr Jesus war dem Volk vorgestellt worden. Er hatte gepredigt, Wunder gewirkt und die Jünger belehrt. Er war all den verschiedenen Klassen seiner Widersacher begegnet und hatte seine Jünger einen Blick in die Zukunft bis zum Ende des Zeitalters werfen lassen. Jetzt bereitete Er sich vor, um zu leiden – zu leiden in absoluter Übergabe an seinen Vater. Folglich richteten Ihn jetzt nicht mehr die Menschen mit Worten, sondern Gott in seiner Person am Kreuz. Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus gekommen (Joh 1,17). So sehen wir es hier. Aber seine Zuneigungen in ihrer Fülle wurden nicht eingeschränkt. Hier, abseits der Volksmenge, genoss der Herr eine Weile jegliche Rast, die seinem Geist gewährt wurde. Die aktive Arbeit war getan. Es blieb nur noch das Kreuz – diese wenigen Stunden von ewigem Wert und unergründlicher Bedeutung, mit denen wirklich nichts zu vergleichen ist.
Jesus wird jetzt im Haus in Bethanien gefunden. Es ist eine der wenigen Szenen, die in fast allen Evangelien, außer bei Lukas, vom Heiligen Geist vorgestellt wird. Sie steht im Gegensatz zum Kreuz, ja, ist die Vorbereitung darauf. Der Geist Gottes wirkte mächtig in dem Herzen einer Frau, die den Heiland liebte. Zur gleichen Zeit trieb Satan das Herz des Menschen an, das Schlimmste gegen Jesus zu wagen. Um diese beiden Mittelpunkte herum waren die verschiedenen Menschengruppen versammelt. Was für ein Augenblick für Himmel, Erde und Hölle! Wie sehr – oder besser gesagt, wie wenig – sah man den Menschen! Denn wenn eine Eigenschaft bei seinen Feinden besonders ins Auge fällt, dann ist es ihre Machtlosigkeit selbst zu der Zeit, als Jesus, wie es schien, ihr Opfer und jedem feindlichen Hauch ausgesetzt war. Und doch vollendete Er alles, obwohl Er freiwillig den Platz des Leidenden einnahm, während sie nichts ihrer Vorstellung entsprechend ausführen konnten. Sie waren frei, alles zu tun; denn es war ihre Stunde und die Gewalt der Finsternis. Sie vollendeten jedoch nur ihre Ungerechtigkeit. Selbst in ihrer Ungerechtigkeit taten sie ausschließlich den Willen Gottes, obwohl sie es nicht wollten und es ihren Plänen widersprach. Sie handelten nach ihrem Willen in Hinsicht auf ihre Schuld; sie führten ihn jedoch nie so aus, wie sie es sich gewünscht hatten. Wie uns gesagt wird, waren sie zunächst besorgt, dass die Tat, nach der sie verlangten, nämlich die Tötung Jesu, nicht am Passah stattfinden sollte. Aber ihr Beschluss war vergeblich. Von Anfang an hatte Gott entschieden, dass es an diesem Tag, und an keinem anderen, geschähe. Sie kamen zusammen, sie ratschlagten, „damit sie Jesum mit List griffen und töteten.“ Das Ergebnis ihrer Beratung war nur: „Nicht an dem Fest, damit kein Aufruhr unter dem Volk entsteht“ (V. 5). Sie konnten den Verrat eines Jüngers und das öffentliche Urteil eines römischen Landpflegers nicht voraussehen. Außerdem gab es entgegen ihren Befürchtungen keinen Aufruhr unter dem Volk. Jesus starb an jenem Tag nach dem Wort Gottes.
Wenden wir uns nun einen kurzen Augenblick zur Seite, wo die Menschengruppe um unseren Herrn sich im Haus Simons, des Aussätzigen, aufhielt. Dort wurde die Anbetung eines Herzens, das Ihn liebte – wenn es jemals ein solches gab – ausgegossen. Es wartete nicht auf die Verheißung des Vaters (Lk 24,49). Aber die göttliche Person, die kurze Zeit später im Überfluss mitgeteilt wurde, wirkte schon damals in den Trieben einer neuen Natur. Es „kam eine Frau zu ihm, die ein Alabasterfläschchen mit sehr kostbarem Salböl hatte, und goss es aus auf sein Haupt, als er zu Tisch lag“ (V. 7). Johannes sagt uns (Kap. 12), dass sie die Salbe aufbewahrt hatte. Sie hatte diese nicht für diese besondere Gelegenheit gekauft. Es war das Beste, was sie hatte, und sie goss es über Jesus aus. Wie gering erschien dies in ihren Augen; wie kostbar war es in seinen, indem sie es für den gebrauchte, welchen sie liebte und dessen drohende Gefahr sie fühlte. Denn die Liebe fühlt schnell und fühlt genauer als die geschärfteste menschliche Klugheit. So sprengte also diese Frau ihre Salbe auf sein Haupt. Johannes spricht von seinen Füßen. Es wurde sicherlich über beides ausgeschüttet. Matthäus hat jedoch den König vor Augen; und es war üblich, nicht die Füße, sondern den Kopf eines Königs zu salben. So berichtet er natürlicherweise von dem Teil der Handlung, der zum Messias passte. Johannes hingegen, dessen Thema darin besteht zu zeigen, dass Jesus unendlich mehr als ein König war – obwohl in Liebe demütig, um alles über sich ergehen zu lassen –, berichtet ganz passend, dass Maria seine Füße salbte. Es ist auch interessant, wenn wir sehen, dass die Liebe und das tiefe Gefühl für die Herrlichkeit Jesu sie zu dem anleitete, was auch in dem Herzen einer Sünderin, die in der Gegenwart seiner Gnade völlig zusammengebrochen war, bewirkt wurde. Denn Lukas erwähnt eine andere Person. In Lukas 7,37 kam „eine Frau in die Stadt, die eine Sünderin war“. Es handelte sich um eine ganz andere Person, zu einer ganz anderen, früheren Zeit und im Haus eines anderen Simon, eines Pharisäers. Auch sie salbte die Füße Jesu mit einer Alabasterflasche voll Salbe. Aber sie stand hinten zu seinen Füßen, weinte und begann seine Füße mit Tränen zu waschen; dann trocknete sie diese mit den Haaren ihres Hauptes und küsste sie sehr. Es werden viele Einzelheiten genannt, die mit diesem Fall harmonieren. Ich möchte nur herausstellen, wie die Gefühle einer armen Sünderin, die seine Gnade angesichts ihrer erwiesenen Unwürdigkeit spürte, und einer liebenden Anbeterin, die von der Herrlichkeit seiner Person erfüllt war und die Bosheit seiner Feinde empfand, verwandt sind.
Wie dem auch sei – der Herr verteidigte sie angesichts der unzufriedenen und murrenden Jünger. Darin liegt eine ernste Lehre; denn wir sehen, wie eine verderbte Seele andere beschmutzen kann, die unvergleichlich besser sind als sie. Das ganze Kollegium der Apostel, der Zwölf, wurde für einen Augenblick durch das Gift, das einer verspritzte, beeinflusst. Was für Herzen haben wir – selbst zu einer solchen Zeit und angesichts einer solchen Liebe! Aber so war und, leider, ist es. Ein böses Auge kann sehr schnell seine schändlichen Empfindungen mitteilen; und davon werden viele verunreinigt. Judas war die Ursache. Doch in den übrigen Jüngern lag ebenfalls etwas, was sie für eine ähnliche Selbstsucht auf Kosten Jesu empfänglich machte. Sie erlaubten allerdings nicht jenen teuflischen Einfluss, der Judas seine Gedanken eingab. Sicherlich enthält dieses Beispiel auch für uns eine ernste Warnung. Wie oft hüllt sich Satan in die Sorge um die Lehre wie hier in die Sorge für die Armen! In sittlicher Hinsicht stand dieses Ereignis in direkter Verbindung mit den folgenden Leiden Christi. Die Hingabe der Frau wurde von Satan benutzt, um Judas zu seiner letzten Schlechtigkeit anzutreiben, indem ihr Herzenserguss, den sein Herz nicht im Geringsten würdigen konnte, seinen Entschluss förderte. Danach ging er hin, um Jesus zu verkaufen. Wenn er das Fläschchen mit der kostbaren Salbe oder seinen Gegenwert nicht bekommen konnte, dann wollte er, solange es noch möglich war, sich einen kleinen Gewinn sichern, indem er Jesus an seine Feinde verkaufte. „Was wollt ihr mir geben“, sagte er zu den Hohenpriestern, „und ich werde ihn euch überliefern?“ So wurde der Bund geschlossen – ein Bund mit dem Tod und ein Vertrag mit der Hölle. „Sie aber stellten ihm dreißig Silberstücke fest“ – des Menschen, Israels, würdiger Preis für Jesus (V. 14–16).
Die Frau hatte Jesus ihr Geschenk gegeben und damit sich selbst ein Gedächtnis bereitet, wo immer und wann immer das Evangelium des Reiches auf der ganzen Erde verkündigt wird. Jetzt setzte Jesus das beständige, unvergängliche Andenken seiner sterbenden Liebe ein. Er stiftete das neue Fest, sein Mahl, für seine Jünger. Beim Passahfest nahm Er Brot und Wein und weihte sie dazu, auf der Erde das beständige Erinnerungszeichen an Ihn inmitten der Seinen zu sein. In den Einsetzungsworten finden wir einige Unterschiede, mit denen wir uns beschäftigen wollen, wenn wir bei Gelegenheit die anderen Evangelien betrachten. Von diesem Tisch ging unser Herr nach Gethsemane und in seine Todesangst dort. Welcher Kummer, welche Pein, welche Leiden auch immer über Ihn hereinbrachen – unser Herr beugte sich niemals den äußerlichen Leiden vonseiten der Menschen, bevor er sie nicht in seinem Herzen allein mit seinem Vater getragen hatte. Er durchlebte sie im Geist, bevor Er sie wirklich erduldete. Und das, glaube ich, ist hier der Hauptpunkt. Ich sage nicht, dass das alles ist, was wir hier finden; denn hier begegnete Er den Schrecken des Todes – und was für eines Todes! –, die der Fürst dieser Welt auf Ihn lud; aber er fand nichts in Ihm (Joh 14,30). So konnte in der Stunde, als die Leiden wirklich über Ihn kamen, Gott in Ihm, dem Sohn des Menschen, verherrlicht werden. Daraufhin verkündigte Er, nachdem Er aus den Toten auferweckt worden war durch die Herrlichkeit des Vaters, hinfort seinen Brüdern den Namen seines Vaters und ihres Vaters, und seines Gottes und ihres Gottes, und zwar sowohl der Natur als auch der Beziehung nach. Hier betete Er noch zum Vater, während Er am Kreuz, wenn auch nicht ausschließlich, „Mein Gott“ rief. Diese Einzelheiten sind tiefgründig in ihrer Lehre.
Im Garten forderte unser Herr die Jünger auf, zu wachen und zu beten; doch genau das war für sie zu schwer. Sie schliefen – und beteten nicht. Welch ein Unterschied zu Jesus zeigte sich später, als die Versuchung kam! Dabei waren die Umstände für sie nur ein bloßer Widerschein von dem, wodurch Er gehen musste. Entweder erträgt die Welt den Tod mit der Verstocktheit, die allem trotzt, weil sie an nichts glaubt, oder sie empfindet ihn als Ende ihrer gegenwärtigen Vergnügungen wie einen plötzlichen Schmerz, ein dunkles Tor, von dem sie nicht weiß, was dahinter liegt. Für den Gläubigen, für den jüdischen Jünger vor der Erlösung, war der Tod in einem Sinn noch bitterer; denn er hatte eine richtigere Vorstellung von Gott und dem sittlichen Zustand des Menschen. Jetzt ist jedoch durch den Tod des Herrn, den die Jünger so wenig schätzten, alles verändert, während damals der bloße Schatten seines Todes sie alle zu Fall bringen und jedes Bekenntnis ihres Glaubens auslöschen konnte. Jener von ihnen, der am meisten von allen auf die Kraft seiner Liebe vertraute, bewies, wie wenig er bisher, trotz seiner voreiligen Prahlerei, von der Wirklichkeit des Todes wusste. Und doch, was wäre, im Vergleich zum Tod Jesu, der Tod in seinem Fall gewesen!? Selbst dieser war indessen viel zu schwer für die Kraft des Petrus. Alles erwies sich als kraftlos bis auf den Einen, der sogar in seiner größten Schwachheit zeigte, dass Er allein der Geber aller Kraft und der Offenbarer aller Gnade war, sogar als Er unter einem solchen Gericht zermalmt wurde, wie es kein Mensch jemals gekannt hat, noch kennen lernen wird.