Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 25
„Dann wird das Reich der Himmel zehn Jungfrauen gleich werden, die ihre Lampen nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen. Fünf von ihnen aber waren töricht und fünf klug. Denn die Törichten nahmen ihre Lampen und nahmen kein Öl mit sich; die Klugen aber nahmen Öl mit in den Gefäßen, zusammen mit ihren Lampen. Als aber der Bräutigam noch ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein“ (V. 1–5). So versagte die Christenheit völlig. Nicht nur die törichten Jungfrauen schliefen ein, sondern auch die klugen. Alle versagten darin, der Erwartung des Bräutigams den rechten Ausdruck zu geben. Alle wurden schläfrig und schliefen ein. Gott sorgte jedoch dafür, wir wissen nicht wie, dass ihr Schlaf unterbrochen wurde. Anstatt draußen zu warten, müssen sie zum Schlafen irgendwo hineingegangen sein. Kurz gesagt, sie hatten ihre ursprüngliche Stellung verlassen. Sie hatten nicht nur ihre Pflicht, die Rückkehr des Bräutigams zu erwarten, versäumt, sondern befanden sich auch nicht mehr auf ihrem richtigen Posten. Erst als die Hoffnung wieder auflebte, nahmen sie erneut ihre rechte Stellung ein und nicht vorher. Um Mitternacht, als alle schliefen, entstand ein Geschrei: „Siehe, der Bräutigam! Geht aus, ihm entgegen!“ (V. 6). Dieses wirkte auf beide Gruppen, auf die weisen wie auch auf die törichten Jungfrauen. Genauso ist es heute.1 Wer könnte leugnen, dass genug törichte Leute vom Kommen des Herrn sprechen und schreiben? Durch alle Länder und Städte geht eine allgemeine geistige Bewegung. Trotz heftigen Widerstands breitet sich die Erwartung seines Kommens mehr und mehr aus. Das ist keineswegs auf die Kinder Gottes beschränkt. Auch diejenigen, die auf der Suche nach Öl hin und her laufen, werden durch diesen Ruf beunruhigt. Insbesondere aber jene, die Öl in ihren Gefäßen haben, werden angespornt, sofort wieder hinauszugehen, um auf die Rückkehr des Bräutigams zu warten. Doch was für ein Unterschied! Die Weisen hatten sich schon vorher mit Öl versorgt. Die Übrigen zeigten ihre Torheit darin, dass sie auf den Bräutigam warteten ohne Öl. Ich möchte insbesondere darauf eure Aufmerksamkeit lenken. Sie unterschieden sich nicht in der Erwartung des Kommens des Herrn, sondern in dem Besitz oder Fehlen des Öls, das heißt, in der Salbung von dem Heiligen (1. Joh 2,20). Alle bekannten Christus. Sie waren alle Jungfrauen mit ihren Lampen. Das Fehlen des Öls war indes verhängnisvoll. Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein (Röm 8,9). Das waren die Törichten. Sie wussten nicht, wodurch die anderen weise zur Errettung geworden waren (2. Tim 3,15), was immer sie auch bekennen mochten. Ihre rastlose Suche nach dem, was sie nicht hatten, trennte sie letztlich von der Gesellschaft derer, mit denen sie bei der Erwartung des Herrn ausgegangen waren.
Etliche meinen, dass es sich bei den törichten Jungfrauen um Christen handelt, die nicht über die Prophetie Bescheid wissen. Diese Meinung scheint mir nicht nur falsch zu sein, sondern auch einer geistlichen Gesinnung gänzlich unwürdig. Ist der Besitz Christi weniger kostbar als die Kenntnis eines richtigen Zeitplans bezüglich der Zukunft? Ich kann mir einen Christen ohne Öl in seinem Gefäß nicht vorstellen. Es handelt sich doch ganz klar um den Heiligen Geist, den jeder Heilige, der sich der Gerechtigkeit Gottes in Christus unterwirft, in sich wohnen hat. Johannes lehrt uns (1. Joh 2), dass sogar die geringsten Glieder der Familie Gottes – nicht nur die Väter und Jünglinge, sondern ausdrücklich auch die Kindlein – diese Salbung besitzen. Wenn die Jüngsten in Christus so bevorrechtigt sind, dann natürlich erst recht die Jünglinge und Väter. Darum bestehe ich mit vollster Überzeugung darauf, dass die Auslegung richtig ist, welche sagt, dass das Öl im Gleichnis nicht prophetische Erkenntnis, sondern die Gabe des Geistes Gottes darstellt, und dass jeder Christ, aber niemand sonst, den Heiligen Geist in sich wohnen hat. Das sind also die klugen Jungfrauen, die sich für den Bräutigam bereit machten und bei seinem Kommen mit Ihm zur Hochzeit gingen. Je näher diese Stunde kam, desto unruhiger wurden die anderen Jungfrauen. Sie ruhten in Bezug auf ihre Seelen nicht durch den Glauben in Christus. Sie besaßen nicht den Heiligen Geist; und suchten die unschätzbare Gabe irgendwo zu kaufen. Sie baten um Hilfe und fragten, bei wem sie das unbezahlbare Öl erwerben konnten. Inzwischen kam der Herr. Diejenigen, welche bereit waren, gingen mit Ihm zur Hochzeit; und die Tür wurde verschlossen. Die übrigen Jungfrauen blieben draußen. Der Herr kannte sie nicht.
Im Vorbeigehen möchte ich anmerken, dass sich diese Jungfrauen von den Gläubigen, die am Ende des Zeitalters berufen werden, in wichtigen Merkmalen unterscheiden. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Dulder in jener Krisenzeit jemals vom Schlaf beschwert werden wie die Heiligen während des langen Hinziehens des Christentums. Diese kurze Zeit einer unvergleichlichen Erprobung und Gefahr lässt einen Schlaf nicht zu. Außerdem finden wir in der Schrift keinen Beweis dafür, dass die Dulder der letzten Tage den Heiligen Geist besitzen. Das ist das besondere Vorrecht der Gläubigen, seitdem der verworfene Christus seinen Platz als Haupt im Himmel eingenommen hat. Ohne Zweifel wird im 1000-jährigen Reich der Heilige Geist über alles Fleisch ausgegossen. Aber keine Prophezeiung deutet an, dass der Überrest, bevor er Jesus sieht, so bevorrechtigt ist. Als dritten Punkt des Unterschiedes weise ich darauf hin, dass nirgendwo gesagt wird, dass diese Dulder hinausgehen, um dem Bräutigam zu begegnen. Sie sollen vor dem Gräuel der Verwüstung fliehen; das ist allerdings eher ein Gegensatz als eine Übereinstimmung.
Das dritte Gleichnis zeigt wieder ein anderes Stadium. Während der Abwesenheit des Herrn, bevor Er erscheint, um die Herrschaft über die Welt einzunehmen, gibt Er den Menschen Gaben, und zwar unterschiedliche Gaben und in unterschiedlichem Maß. Dieses Kennzeichen gehört insbesondere zum Christentum und seinem aktiven Zeugnis in der ihm eigenen Mannigfaltigkeit. Ich wüsste nicht, dass irgendetwas in den letzten Tagen dem Geschilderten in seinem Charakter genau entspricht; denn dann wird es nur ein kurzes, aber kräftiges Zeugnis von dem Reich geben. Die Gaben von Matthäus 25 scheinen mir die Tätigkeit der Gnade, die hinausgeht und für einen verworfenen und abwesenden Herrn in der Höhe arbeitet, vollständig deutlich zu machen. Ich darf jedoch nicht bei weniger wichtigen Einzelheiten verweilen. Dadurch würde ich meiner Absicht schaden, einen zusammenfassenden Überblick von geringem Umfang zu geben.
Die letzte Szene des Kapitels ist sowieso für jede einsichtige Seele klar genug. „Alle Nationen“ oder Heiden stehen im Blickfeld. Darüber kann es keinen Irrtum geben. Am Anfang der Rede unseres Herrn wurden uns die Juden vorgestellt, und zwar, weil die Jünger damals Juden waren. Da die Jünger später aus dem Judentum in das Christentum übertraten, finden wir natürlich der Reihenfolge nach die christliche Einschaltung an zweiter Stelle. Wir sehen dann als Drittes „alle Nationen“, die einfach als solche bezeichnet werden und sich in der eindeutigsten Weise sowohl in ihrer Bezeichnung als auch in den Dingen, die von ihnen gesagt werden, von den anderen beiden Gruppen unterscheiden. Sie werden vor dem Herrn versammelt; und der Sohn des Menschen handelt am Ende mit ihnen sichtlich als Nationen, wenn Er als König über die Erde regiert. Die Frage, die vor seinem Thron geklärt wird und die ihr ewiges Los entscheidet, betrifft nicht die Geheimnisse des Herzens, die ohnehin nicht offengelegt werden, oder ihr allgemeines Leben, sondern ihr Verhalten gegen seine Boten. Wie hatten sie gewisse Menschen behandelt, die der König seine Brüder nennt? Sie werden also danach beurteilt, wie sie sich zu einem kurzen Zeugnis am Ende der gegenwärtigen Haushaltung gestellt haben. Dieses Zeugnis wird zweifellos durch jüdische Brüder des Königs abgelegt in einer Zeit, während der sich die ganze Welt über das Tier verwundert und die Menschheit im Allgemeinen wieder den Götzen zuwendet und in die Hände des Antichristen fällt. Das Zeugnis passt zu der Krise, nachdem der christliche Leib in den Himmel aufgenommen worden ist und die Erde wieder im Mittelpunkt steht. So werden diese Nationen oder Heiden nach ihrem Verhalten gegen die Boten des Königs in der Zeit vor und bis zu dem Augenblick, wo Er sie vor den Thron seiner Herrlichkeit ruft, behandelt. Denn in der Zeit einer sehr ernsten Verführung benötigt man das lebensspendende Werk des Heiligen Geistes, um seine verachteten Herolde anzuerkennen. Das gilt natürlich für die Annahme eines jeden Zeugnisses Gottes. Der Herr handelt hier also nicht auf der Grundlage einer sittlichen Wirkung auf die Seele, wie sie für ein Zeitalter (z. B. dem des Gesetzes oder dem der Predigt der Gnade Gottes) kennzeichnend ist und sich im normalen Ablauf eines Menschenlebens zeigen muss. Nichts dieser Art scheint mir der Ausgangspunkt für die Handlungsweise des Herrn mit den Schafen und Böcken zu sein.
Fußnoten
- 1 d. h. 1866, als Kelly seine Vorträge hielt (Übs.).