Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 24
So sahen wir also unseren Herrn, wie Er sich als Jahwe der König vorstellte. Wir sahen die verschiedenen Sekten der Juden, die sich vordrängten, um Ihn zu richten, aber in Wirklichkeit selbst von Ihm gerichtet wurden. Es blieb jetzt noch eine andere wichtige Darstellung übrig, die mit seinem gerade betrachteten Abschied von der Nation in Verbindung stand, nämlich seine letzte Mitteilung an die Jünger hinsichtlich der Zukunft. Diese berichtet Matthäus sehr ausführlich und reichhaltig. Der Versuch, eine Auslegung dieser prophetischen Predigt zu geben, würde innerhalb der mir gesetzten Grenzen vergeblich sein. Ich möchte deshalb bei dieser Gelegenheit nur ihre Oberfläche etwas abstreifen, und zwar gerade genug, um ihre Grundzüge und insbesondere ihre unterscheidenden Gesichtspunkte aufzuzeigen. Offensichtlich ist hier die größere Ausführlichkeit über das hinaus, was wir in den anderen Evangelien finden, nicht ohne Absicht. In dem Evangelium des anderen Apostels, nämlich Johannes, finden wir kein Wort davon. Markus gibt seinen Bericht (Mk 13) insbesondere in Verbindung mit dem Zeugnis Gottes, wie ich zu zeigen hoffe, wenn wir bis dahin gekommen sind. Im Lukasevangelium (Lk 21) werden in aller Deutlichkeit die Nationen und ihre Zeit der Oberherrschaft während der langen Erniedrigungszeit Israels herausgestellt. Zudem ist es ausschließlich Matthäus, der direkt auf das Ende des Zeitalters anspielt. Der Grund dafür ist klar. Dieses Ende ist der große Wendepunkt für die Juden. Matthäus, der unter der Leitung des Heiligen Geistes an Israel sowohl hinsichtlich der Folgen seiner vergangenen Treulosigkeit als auch jenes zukünftigen Wendepunkts schreibt, übermittelt uns die bedeutungsvolle Frage der Jünger und die besondere Antwort des Herrn. Das ist auch der Grund, warum Matthäus uns das eröffnet, was wir weder bei Markus noch Lukas, jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang, finden. Wir haben hier, wie mir scheint, den christlichen Teil der Zukunft sehr umfassend dargestellt, das heißt das, was die Jünger als Bekenner des Namens Christi während seiner Verwerfung durch Israel kennzeichnet. Das passt aus gutem Grund zu Matthäus' Sicht der Prophetie. Matthäus zeigt uns nicht nur die Folgen der Verwerfung des Messias für Israel, sondern auch den Wechsel der Haushaltung bzw. das, was aus dem verhängnisvollen Widerstand der Juden gegen den, der ihr König – aber nicht nur der Messias, sondern auch Jahwe – war, hervorging. Die Folgen sollten, ja, mussten von allumfassender Bedeutung sein. Und der Geist berichtet uns diesen Teil der Prophezeiung des Herrn in einer Weise, die mit seiner Absicht im Matthäusevangelium übereinstimmt. Würde Gott nicht die Verwerfung dieser herrlichen Person durch die Juden in einen wunderbaren und angemessenen Segen verwandeln? Das finden wir hier.
Die Zusammenstellung der Predigt weicht von der ab, die wir anderswo finden, doch vollkommene Weisheit hat sie so geordnet. Zuerst werden die Juden bzw. die Jünger, die sie zur damaligen Zeit noch repräsentierten, behandelt. Ihre Gedanken gingen noch nicht über den Tempel und jene Gebäude, die ihre Bewunderung und Ehrfurcht hervorriefen, hinaus. Der Herr kündete das bevorstehende Gericht an. Es war ja auch schon in den zuvor gesprochenen Worten – „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen“ (Mt 23,38) – eingeschlossen. Es war ihr Haus. Der Geist war entwichen. Es war jetzt nur noch ein toter Körper. Warum sollte er nicht schnell beerdigt werden? „Seht ihr nicht dies alles? Wahrlich, ich sage euch: Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen werden wird“ (V. 2). Schon bald sollte erst einmal alles vorbei sein. „Als er aber auf dem Ölberg saß, traten die Jünger für sich allein zu ihm und sagten: Sage uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ (V. 3). Als Antwort gibt der Herr ihnen einen Überblick über die allgemeine Geschichte. Diese ist so allgemein dargestellt, dass man zunächst nicht richtig weiß, ob der Herr nicht neben den Juden auch die Christen betrachtet (V. 4–14). Die Jünger werden als ein gläubiger, obschon jüdischer Überrest gesehen; das ist der Grund für die Weite der Ausführungen. Vom 15. Vers an folgen die Einzelheiten der letzten Halbwoche Daniels, auf dessen Prophezeiungen nachdrücklich hingewiesen wird. Die Aufrichtung des Gräuels der Verwüstung am heiligen Ort soll das Signal für die sofortige Flucht der dann in Jerusalem lebenden Gottesfürchtigen sein, welche den Jüngern zur Zeit Christi gleichen würden. Denn es wird eine große Drangsal folgen, die alle anderen Unheilszeiten vom Anfang der Welt an bis zu jenem Tag übertrifft. Die Bedrängnisse werden jedoch nicht nur äußerlicher Art sein, sondern verbunden mit beispiellosen Verführungen. Falsche Christi und falsche Propheten würden große Zeichen und Wunder tun. Aber die Auserwählten werden hier gnädig vom Heiland gewarnt in einer Ausführlichkeit, die jede Prophezeiung des Alten Testaments weit hinter sich lässt.
„Sogleich aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne sich verfinstern und der Mond seinen Schein nicht geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden. Und dann wird das Zeichen des Sohnes des Menschen am Himmel erscheinen; und dann werden alle Stämme des Landes wehklagen, und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit“ (V. 29–30). Die Erscheinung des Sohnes des Menschen ist ein Hauptgegenstand des Matthäus- und tatsächlich eines jeden Evangeliums. Der einstmals verworfene Christus wird als der ruhmreiche Erbe aller Dinge in Herrlichkeit erscheinen. Nach seiner Ankunft in den Wolken des Himmels wird Er nicht nur den Thron Israels, sondern auch den aller Völker, Nationen und Sprachen einnehmen. Indem Er so zum Entsetzen und zur Schande seiner Widersacher innerhalb und außerhalb des Landes wiederkommt, lesen wir zunächst von der Aussendung der Engel, um seine Auserwählten von den vier Winden her, von einem Ende des Himmels bis zum anderen Ende, zu sammeln. Wir finden keinen Hinweis auf eine Auferstehung oder Entrückung in den Himmel. Es geht hier um die Auserwählten Israels und seine Herrlichkeit als Sohn des Menschen. Von dem Haupt oder der Kirche, seinem Leib, hören wir nichts. Wir finden hier das Einsammeln der Auserwählten, und zwar nicht nur aus den Juden, sondern auch, wie ich annehme, aus ganz Israel von den vier Winden des Himmels her. Falls nötig, wird diese Auslegung durch das unmittelbar folgende Gleichnis gestützt (V. 32–33). Es handelt sich wieder um den Feigenbaum, aber diesmal zu einem ganz anderen Zweck. Handle es sich um Fluch oder Segen – der Feigenbaum symbolisiert Israel.
Dann folgt nicht das natürliche, sondern, wie man es nennen mag, das biblische Gleichnis. Während das eine aus dem äußeren Bereich der Natur entnommen ist, stammt das andere aus dem Alten Testament. Um das Kommen des Sohnes des Menschen zu veranschaulichen, verwies der Herr auf die Tage Noahs. Genauso plötzlich sollte der Schlag auf alle Gegenstände des Gerichts herniederfahren. „Dann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird genommen und einer gelassen; zwei Frauen werden am Mühlstein mahlen, eine wird genommen und eine gelassen“ (V. 40–41). Die Jünger sollten nicht annehmen, dass es sich um ein gewöhnliches Gericht durch die Vorsehung handelt, welches mal hier, mal da hindurchfährt, ohne Unterschiede zu machen. Dabei leidet der Unschuldige mit dem Schuldigen, ohne dass eine ausreichende persönliche Unterscheidung getroffen wird. In den Tagen des Sohnes des Menschen, wenn Er zurückkehrt, um sich mit der Menschheit am Ende des Zeitalters zu beschäftigen, wird es nicht so sein. Ob man drinnen oder draußen ist – es gibt keinen Schutz. Von zwei Männern auf dem Feld, von zwei mahlenden Frauen an der Mühle wird die eine Person genommen und die andere gelassen. Die Unterscheidung ist bis ins Letzte genau und vollkommen. „Wacht also“, sagte der Herr zum Abschluss, „denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Das aber erkennt: Wenn der Hausherr gewusst hätte, in welcher Wache der Dieb kommen würde, so hätte er wohl gewacht und nicht erlaubt, dass sein Haus durchgraben würde. Deshalb auch ihr, seid bereit! Denn in einer Stunde, in der ihr es nicht meint, kommt der Sohn des Menschen“ (V. 42–44).
Nach meinem Urteil führt dieser Übergang von dem Teil, der sich mit dem Schicksal des jüdischen Volkes beschäftigt, zum christlichen Bekenntnis. In dem ersten dieser allgemeinen Bilder von der Christenheit fehlt jeder Hinweis auf Jerusalem, den Tempel, das Volk und seine Hoffnung. Danach folgt das Gleichnis von den zehn Jungfrauen und, als letztes, das von den Talenten. (…)1
Als erstes im christlichen Abschnitt kommt das Gleichnis vom Hausverwalter vor uns. Der treue und weise Hausverwalter handelt entsprechend den Wünschen seines Herrn, der ihn über seinen Haushalt gesetzt hat, um ihm zur rechten Zeit die Speise zu geben. Wenn der Herr ihn bei seiner Ankunft in dieser Arbeit vorfindet, wird Er ihn über seine ganze Habe setzen. Der böse Knecht hingegen beschließt in seinem Herzen, dass sein Herr nicht kommen wird, überlässt sich anmaßender Gewalttätigkeit und pflegt bösen Umgang mit der gottlosen Welt. Er wird vom Gericht überrascht und findet sein Teil bei den Heuchlern in hoffnungsloser Schande und Pein. Das ist ein lehrreiches Bild vom Christentum (V. 45–51).
Fußnoten
- 1 siehe Fußnote 1 (Kapitel 4): „Ich möchte jedoch anmerken, dass wir in Kap. 25,13 einen Ausdruck haben, der die Anwendung ein wenig verfälscht. Aber es ist wohlbekannt, dass die Menschen beim Abschreiben des griechischen Neuen Testaments die Worte „in welchen der Sohn des Menschen kommt“ zu diesem Vers hinzugefügt haben [vgl. „Luther-Bibel“; 1948], obwohl er ohne sie schon vollständig ist. Der Geist schrieb in Wirklichkeit: „So wacht nun, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.“ Für diejenigen, die den Bibeltext, so wie er in den besten Abschriften steht, kennen, ist die Sache so vertraut, dass ich nicht viele Worte zu machen brauche. Kein bedeutender Textkritiker nimmt an, dass diese Worte zu recht in einem Text stehen, der auf alten Autoritäten beruht. Andere mögen die gängige Überlieferung und das, was nur von modernen und unsicheren Manuskripten gestützt wird, verteidigen. Aber diejenigen, die ich jetzt anspreche, werden wohl kaum für die reine Tradition streiten oder in den Dingen Gottes einer Vorstellung, nur weil sie verbreitet ist, anhangen. Wenn wir den überlieferten Text der Drucker annehmen, befinden wir uns auf solch menschlicher Grundlage. Wenn wir jedoch grundsätzlich eine menschliche Einmischung ablehnen, dann brauchen wir solche Einfügungen nicht als das Wort Gottes anzuerkennen. Wir sehen dann, wie außerordentlich schön die biblische Aussage ist, wenn wir diese Worte weglassen“ (W.K.). Zur Verdeutlichung der letzten Aussage von Kelly soll ein kurzer Abschnitt aus seinen „Lectures on the Gospel of Matthew“ (Reprint 1971), S. 514f. (eine Übersetzung ist geplant als Band 1 der Serie „Aus der biblischen Schatzkammer“), angefügt werden: „Wenn der Herr im Gericht kommt, wird von Ihm als Sohn des Menschen gesprochen. In unserer Stelle wird Er jedoch als der Bräutigam vorgestellt. Falls hier wirklich „Sohn des Menschen“ stehen müsste, dann wäre das schwer zu erklären. Wie eindeutig zeigt sich, dass man nichts zur Bibel hinzufügen kann, ohne sie zu verderben. Unser Herr erscheint hier unter dem Gesichtspunkt der Gnade für seine Heiligen. Und das ist ein Grund dafür, warum wir hier nichts von dem Gericht lesen, welches die törichten Jungfrauen treffen wird. Die Beschreibung davon, wie die göttliche Rache ausgeübt wird, passt nicht zu seinem Titel als Bräutigam. Ohne Zweifel wird die Tür verschlossen. Und unser Herr sagt zu den törichten Jungfrauen, als sie Ihn bitten aufzumachen: „Ich kenne euch nicht.“ Doch Er benutzt diese Gelegenheit gleich zum geistlichen Gewinn für seine Jünger: „So wacht nun, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde“ (Übs.).