Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 22
Im Gleichnis des 22. Kapitels wendet sich der Herr dem Ruf der Gnade zu. Es ist ein Gleichnis vom Reich der Himmel. Wir befinden uns jetzt auf neuem Boden. Es fällt auf, dass das Gleichnis hier eingeführt wird. Im Lukasevangelium (Lk 14) gibt es ein ähnliches; doch wir sagen wohl zu viel, wenn wir es als dasselbe bezeichnen. Offensichtlich finden wir dort ein verwandtes Gleichnis; aber es steht in einem ganz anderen Zusammenhang. Außerdem fügt Matthäus verschiedene, ihm eigene Einzelheiten hinzu, die völlig mit der Absicht des Heiligen Geistes in seinem Evangelium übereinstimmen. Auch bei Lukas sehen wir besondere Kennzeichen. Im Lukasevangelium erblicken wir eine bemerkenswerte Entfaltung von Gnade und Liebe gegen die verachteten Armen in Israel. Danach vergrößert die Liebe ihre Reichweite und geht hinaus an die Wege und Zäune, um die Armen – die Armen in der Stadt, die Armen überall – von dort hereinzubringen. Ich brauche kaum zu sagen, wie charakteristisch diese Beschreibung ist. Im Matthäusevangelium hingegen finden wir nicht nur Gottes Gnade, sondern auch eine Art Geschichtsschreibung, die auffallend die Zerstörung Jerusalems mit einschließt. Lukas schweigt davon. „Das Reich der Himmel ist einem König gleich geworden, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete“ (V. 2). Es war also nicht, wie bei Lukas, einfach ein Mensch, der ein Fest für solche geben wollte, die nichts hatten. Hier im Matthäusevangelium ging es dem König vielmehr um die Verherrlichung seines Sohnes. „Und er sandte seine Knechte aus, die Geladenen zur Hochzeit zu rufen; und sie wollten nicht kommen. Wiederum sandte er andere Knechte aus und sprach: Sagt den Geladenen: Siehe, mein Mahl habe ich bereitet, meine Ochsen und das Mastvieh sind geschlachtet, und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit“ (V. 3–4). Wir lesen in unseren Versen von zwei Aussendungen der Knechte des Herrn. Die eine geschah zu seinen Lebzeiten, die andere nach seinem Tod. Bei der zweiten, und nicht bei der ersten, wird gesagt: „Alles ist bereit.“ Die Botschaft wurde, wie immer, verworfen. „Sie aber kümmerten sich nicht darum und gingen hin“ (V. 5). Bei der zweiten Aussendung erfolgte diese ausführliche Einladung, die dem Menschen keine Ausrede mehr ließ. Aber sie wollten nicht kommen, indem der eine auf seinen Acker und der andere zu seinem Handel ging. „Die Übrigen aber ergriffen seine Knechte, misshandelten und töteten sie“ (V. 6). So wurden die Apostel nicht zu Lebzeiten des Herrn aufgenommen. Das widerfuhr ihnen erst nach seinem Tod. Daraufhin wurde der Gerichtsschlag in wunderbarer Geduld jahrelang zurückgehalten; nichtsdestoweniger kam zuletzt das Gericht. „Der König aber wurde zornig und sandte seine Heere aus, brachte jene Mörder um und setzte ihre Stadt in Brand“ (V. 7). Das schließt diesen Teil des Gleichnisses, welcher ein Handeln Gottes durch die Vorsehung voraussagt. Doch neben diesem richterlichen Charakter, zu dem wir keine Parallele im Lukasevangelium finden, wird, wie üblich, der große Wechsel der Haushaltung viel nachdrücklicher als bei Lukas herausgestellt. Bei Letzterem bemerken wir vor allem das Motiv der Gnade, die damit begann, dass ein Hausherr aussandte, um Geladene zum Festmahl zu rufen. Deren Entschuldigungen werden in sittlicher Hinsicht voll herausgestellt. Darauf folgte die zweite Aussendung auf die Straßen und Gassen der Stadt an die Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden. Die letzte Mission ging an die Wege und Zäune, um die dortigen Menschen hereinzunötigen, damit sein Haus voll werde.
Das Matthäusevangelium stellt viel ausgeprägter die Seite der Haushaltungen vor uns. Deshalb wird die Handlungsweise mit den Juden, sowohl in Barmherzigkeit als auch in Gericht, zuerst als ein Ganzes dargestellt, wie es für Matthäus typisch ist, der sozusagen auf einen Schlag ein vollständiges Bild liefert. Das fällt hier umso mehr auf, weil niemand leugnen kann, dass die Mission an die Heiden lange vor der Zerstörung Jerusalems stattfand. Erst danach wird ganz für sich das Teil der Nichtjuden hinzugefügt. „Dann sagt er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Geladenen waren nicht würdig; so geht nun hin auf die Kreuzwege der Landstraßen, und so viele irgend ihr findet, ladet zur Hochzeit. Und jene Knechte gingen hinaus auf die Landstraßen und brachten alle zusammen, die sie fanden, sowohl Böse als Gute. Und der Hochzeitssaal füllte sich mit Gästen“ (V. 8–10). Noch eine andere Einzelheit wird nachdrücklich herausgestellt. Im Lukasevangelium lesen wir nicht, dass am Ende das Gericht über einen Menschen, der ohne passendes Hochzeitskleid zur Hochzeit kommt, ausgesprochen und vollstreckt wird. Wir sahen soeben bei Matthäus das Handeln Gottes mit den Juden durch die Vorsehung. Am Ende dieses Gleichnisses wird jedoch auch besonders beschrieben, wie der König an einem zukünftigen Tag individuell richtet. Es ist nicht ein äußerer oder nationaler Schlag als ein Ereignis der Vorsehung in Verbindung mit Israel, obwohl wir auch diesen hier finden. Ganz anders, doch in Übereinstimmung hiermit, finden wir vonseiten Gottes eine persönliche Beurteilung der Bekenner aus den Nationen, das heißt, derjenigen, die jetzt Christi Namen tragen, ohne Ihn wirklich angezogen zu haben. Damit schließt das Gleichnis. Nichts könnte zudem passender sein als dieses Bild, welches nur bei Matthäus gefunden wird und die bevorstehende große Wende für die Heiden und Gottes individuelle Handlungsweise mit ihnen wegen ihres Missbrauchs seiner Gnade schildert. Das Gleichnis veranschaulicht den damals zukünftigen Wechsel der Haushaltung. Das passt eher zum Ziel des Matthäus- als des Lukasevangeliums; denn letzteres beschäftigt sich gewöhnlich mehr mit sittlichen Gesichtspunkten. Wenn der Herr die Gelegenheit dazu gibt, werden wir es später sehen.
Danach kamen die verschiedenen Klassen der Juden zu Jesus. Zuerst nahten die Pharisäer mit – welch erstaunliche Allianz! – den Herodianern. Normalerweise waren sie, wie die Menschen so sagen, natürliche Feinde. Die Pharisäer bildeten die hohe geistliche Partei, die Herodianer dagegen die niedrige weltliche Höflingspartei. Jene waren die Eiferer für Überlieferung und Gerechtigkeit nach dem Gesetz, diese die Gefolgsleute der damals herrschenden Mächte um eines Gewinnes auf der Erde willen. Solche Verbündeten hatten sich heuchlerisch gegen den Herrn zusammengeschlossen. Unser Herr begegnete ihnen mit der Weisheit, die immer aus seinen Worten und Werken hervorschien. Sie fragten, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu geben. Er antwortete: „Zeigt mir die Steuermünze … Und er spricht zu ihnen: Wessen ist dieses Bild und die Aufschrift? Sie sagen zu ihm: Des Kaisers. Da spricht er zu ihnen: Gebt denn dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (V. 19–21). Der Herr nahm die Dinge so, wie sie damals waren. Das Geldstück, das sie vorzeigten, bewies ihre Unterwerfung unter die Nationen. Ihre Sünde hatte sie dorthin gebracht. Sie litten unter ihren Herren. Aber es waren fremde Herren, und zwar wegen ihrer Sünde. Der Herr trat ihnen nicht nur mit dem unleugbaren Zeugnis ihrer Unterwerfung unter die Römer entgegen, sondern auch mit einer schwerwiegenderen Verpflichtung, die sie völlig übersehen hatten, nämlich dass Gott auch Anrechte an sie hatte genauso wie der Kaiser. „Gebet denn dem Kaiser, was des Kaisers ist.“ „Das Geld, das ihr liebt, verkündet, dass ihr Sklaven des Kaisers seid. Zahlt also dem Kaiser, was ihm zusteht! Doch vergesst nicht: ,Gebt … Gott, was Gottes ist!‘“ Tatsächlich hassten sie den Kaiser weniger als den wahren Gott. Der Herr überließ sie den Überlegungen und der Verwunderung ihrer schuldigen Gewissen.
Als nächstes wurde der Herr von einer anderen großen Partei angegriffen. „An jenem Tag kamen Sadduzäer zu ihm“ (V. 23). Waren die Herodianer die Gegner der Pharisäer in der Politik, so waren es jene in Hinsicht auf die Lehre. Die Sadduzäer leugneten die Auferstehung und brachten einen Fall vor Ihn, der nach ihrer Meinung mit unlösbaren Schwierigkeiten behaftet war. Wem gehörte jene Frau im Auferstehungszustand, die hier nacheinander mit sieben Brüdern verheiratet gewesen war? Der Herr zitierte nicht die klarsten Schriftstellen zugunsten der Auferstehung. Er handelte in einer Weise, die in diesen Umständen weit besser war. Er spielte auf das an, was sie ihrem Bekenntnis nach am meisten verehrten. Kein Teil der Schrift war für die Sadduzäer von solcher Autorität wie der Pentateuch oder die fünf Bücher Mose. Von Mose her bewies Er also die Auferstehung, und zwar in der einfachsten Art. Jeder – ja, ihr eigenes Gewissen – musste zugeben, dass Gott nicht der Gott der Toten, sondern der Lebendigen ist. Deshalb war es nicht bedeutungslos, dass Gott sich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nannte. Wenn Gott sich sehr viel später auf die Väter bezog, die schon längst gestorben waren, dann sprach Er von ihnen als solchen, zu denen Er eine Beziehung hatte. Waren sie denn nicht tot? War damit nicht alles vorbei? Keineswegs! Doch es lag darin noch mehr verborgen. Er sprach als solcher, der nicht nur in Verbindung mit ihnen stand, sondern ihnen auch Verheißungen gegeben hatte, die bisher noch nicht erfüllt worden waren. Entweder musste Gott die Väter aus den Toten auferwecken, um die Verheißungen an sie zu erfüllen, oder Er war nicht gewissenhaft bei der Erfüllung seiner Verheißungen. War ihr Glaube an Gott – oder vielmehr ihr Mangel an Glaube – zu diesem Ergebnis gekommen? Wenn man die Auferstehung leugnet, leugnet man auch die Verheißungen, die Treue Gottes und in Wirklichkeit Gott selbst. Der Herr tadelte sie also auf diesem anerkannten Grundsatz, dass Gott der Gott der Lebendigen und nicht der Toten ist. Wenn man Gott zum Gott der Toten macht, dann leugnet man in Wirklichkeit, dass Er Gott ist. Gleichzeitig deutet man an, dass seine Verheißungen wertlos und ohne Beständigkeit sind. Gott muss demnach die Väter auferwecken, um seine Verheißungen an sie zu erfüllen; denn sie erhielten das Verheißene mit Gewissheit nicht in diesem Leben. Die Torheit der Gedanken in den Sadduzäern wurde auch dadurch offenbar, dass die Schwierigkeit, die sie vorbrachten, völlig unrealistisch war; sie existierte nur in ihrer Phantasie. Die Ehe hat nichts mit dem Auferstehungszustand zu tun. Dort heiraten sie nicht und werden auch nicht verheiratet, sondern sind wie die Engel Gottes im Himmel. So befanden sie sich auf dem Boden dessen, was sie leugneten, im Irrtum. Doch sie dachten auch falsch, wie wir gesehen haben, in dem, was sie anerkannten (nämlich die Verheißungen Gottes). Damit Gott seine Verheißungen erfüllen kann, muss Er die Toten auferwecken. Heutzutage vermag ausschließlich das, was durch den Glauben erkannt wird, in der Welt ein würdiges Zeugnis von Gott abzulegen. Falls wir jedoch von der Offenbarung Gottes und der Entfaltung seiner Macht sprechen, dann müssen wir bis zur Auferstehung warten. Die Sadduzäer besaßen keinen Glauben und befanden sich folglich total in Irrtum und Finsternis. „Ihr irrt, indem ihr die Schriften nicht kennt noch die Kraft Gottes“ (V. 29). Da sie sich weigerten zu glauben, konnten sie auch nicht verstehen. Wenn die Auferstehung geschieht, wird sie hingegen von jedem Auge gesehen. Das war also der Kernpunkt in der Antwort unseres Herrn, und die Volksmenge war erstaunt über seine Lehre.
Die Pharisäer waren natürlich nicht traurig darüber, dass die damals herrschende Partei der Sadduzäer zum Schweigen gebracht worden war. Einer von ihnen, ein Gesetzgelehrter, versuchte den Herrn in einer Frage, die für sie von großer Wichtigkeit war. „Lehrer, welches ist das große Gebot in dem Gesetz?“ (V. 36). Obwohl der Herr voll Gnade und Wahrheit gekommen war, schwächte Er nie die Bedeutung des Gesetzes ab und gab dem Fragenden sofort die Summe des Gesetzes und seinen wesentlichen Inhalt in seinen beiden Teilen an, und zwar in Hinsicht auf Gott und auf den Menschen.
Jetzt war allerdings auch die Zeit gekommen, dass Jesus seine Frage nach Psalm 110 stellen konnte. Wenn Christus anerkanntermaßen der Sohn Davids ist, warum nannte David Ihn dann im Geist „Herr“, indem er sagte: „Jahwe sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde hinlege unter deiner Füße“ (Ps 110,1). Darin lag die ganze Wahrheit seiner Stellung. Sie sollte bald verwirklicht werden; und der Herr konnte von Dingen, die noch nicht waren, so reden, als seien sie schon da. Das war die Sprache Davids, des Königs, in Worten, die der Heilige Geist inspiriert hatte. Welche Sprache und welche Gedanken erfüllten jetzt das Volk; und wer hatte sie inspiriert? Ach, seien es Pharisäer, Gesetzgelehrte oder Sadduzäer – überall fand man den Unglauben in seinen mannigfachen Formen. Dabei war die Herrlichkeit von Davids Herrn noch bedeutungsvoller als die Auferstehung der Toten nach der Verheißung. Sie mochten es glauben oder nicht – der Messias stand im Begriff, seinen Sitz zur Rechten Jahwes einzunehmen. Es waren entscheidende Fragen; und sie sind es heute noch. Wenn der Christus Davids Sohn ist, wie ist Er dann Davids Herr? Wenn Er Davids Herr ist, wie ist Er dann sein Sohn? Das ist der Angelpunkt des Unglaubens aller Zeiten – damals wie heute –, der beständige Gegenstand des Zeugnisses des Heiligen Geistes und der gewöhnliche Stolperstein für den Menschen. Der Mensch ist niemals so unwissend wie dann, wenn er sich am weisesten vorkommt und versucht mit seinem eigenen Verstand das unergründliche Geheimnis der Person Christi auszuloten bzw. zu leugnen, dass es da überhaupt ein Geheimnis gebe. Genau das machte den jüdischen Unglauben aus. Die große Hauptwahrheit im ganzen Matthäusevangelium besteht darin, dass der Sohn Davids und Abrahams wirklich Emmanuel und Jahwe war. Diese Wahrheit wurde bei seiner Geburt, in seinem ganzen Dienst in Galiläa und jetzt bei seiner letzten Vorstellung an Jerusalem bewiesen. „Und niemand konnte ihm ein Wort antworten, noch wagte jemand von dem Tag an, ihn ferner zu befragen“ (V. 46). Das war ihr Standpunkt vor dem, der sich vorbereitete, seinen Platz zur Rechten Gottes einzunehmen – und ist es heute noch. Was für ein schreckliches, ungläubiges Schweigen des Volkes Israel, welches sein eigenes Gesetz und seinen eigenen Messias, Davids Sohn und Davids Herrn, verwarf! Seine Herrlichkeit war ihre Schande.