Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 21
Der Herr zog dann nach den Voraussagen der Prophetie in Jerusalem ein. Das geschah jedoch nicht mit dem äußeren Pomp und der Pracht, welche die Nation erwartete, sondern in der buchstäblichen Erfüllung der Worte des Propheten (Sach 9,9). Jahwes König saß im Geist der Demut auf einem Esel. Doch selbst darin wurde aufs völligste erwiesen, dass Er Jahwe war. Vom Anfang bis zum Ende war Er, wie wir gesehen haben, der Jahwe-Messias. Die Antwort an den Besitzer von Esel und Füllen lautete: „Der Herr benötigt sie“ (V. 3). Dass Jahwe der Heerscharen den Esel beanspruchte, ließ alle Schwierigkeiten verschwinden, obwohl der Unglaube hier seinen Stein des Anstoßes findet. Es war wirklich die Macht des Geistes Gottes, die das Herz des Besitzers beherrschte; denn für Christus gilt: „Diesem öffnet der Türhüter“ (Joh 10,3). Gott vernachlässigte nichts auf irgendeiner Seite und ließ das Herz dieses Israeliten ein Zeugnis davon ablegen, dass die Gnade wirkte trotz der beklagenswerten Kälte, die das Volk betäubte. Welch eine Güte, dass Er ein Zeugnis bewirkte und es an diesem nicht fehlen ließ, selbst auf der Straße nach Jerusalem – ach, der Straße zum Kreuz Christi! „Dies aber ist geschehen, damit erfüllt würde, was durch den Propheten geredet ist, der spricht: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig [diese Sanftmut war kennzeichnend für sein damaliges Kommen] und auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen des Lasttiers“ (V. 4–5). Alles musste mit dem Charakter des Nazareners übereinstimmen. Die Jünger gingen hin und taten so, wie Jesus ihnen befohlen hatte. Auch die Volksmenge – es war eine sehr große Volksmenge – wurde beeinflusst. Das war natürlich nur eine vorübergehende Einwirkung, durch welche der Heilige Geist die Herzen bewegte; Gott benutzte sie aber als Zeugnis. Sie blieb nur oberflächlich und war wie eine Welle, die über die Herzen der Menschen hinweg fuhr und dann verschwand. Doch einen Moment lang folgten sie ihr und riefen: „Hosanna dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosanna in der Höhe!“ (V. 9). Sie riefen dem Herrn die Segenswünsche von Psalm 118 zu.
Nach dem Bericht unseres Evangelisten kam Jesus zum Tempel und reinigte ihn. Beachten wir die Reihenfolge und den Charakter der Ereignisse! Im Markusevangelium (Kap. 11) ist die Reinigung des Tempels nicht die erste Handlung des Herrn, die aufgezeichnet wird, sondern zuvor verfluchte Er den unfruchtbaren Feigenbaum. Diese Tat stand zwischen seiner Musterung aller Dinge im Tempel und seiner Vertreibung derjenigen, die ihn entweihten. Die Lösung des Problems besteht darin: Es gab nach dem Markusevangelium zwei Tage oder Gelegenheiten, an denen der Feigenbaum Beachtung fand. Denn Markus zeigt uns, trotz der Kürze seines Evangeliums, mehr als die anderen Evangelisten insbesondere die Einzelheiten. Dagegen schildert uns Matthäus die Handlungsweise des Herrn sowohl mit dem Feigenbaum als auch dem Tempel als ein Ganzes. Das ist auffallend, weil er uns so häufig mit einem doppelten Zeugnis der gnädigen Wege des Herrn mit seinem Land und Volk versieht. Vom ersten Evangelisten erfahren wir also nicht, dass es in beiden Fällen eine Unterbrechung gab. Aus dem ersten sowie aus dem dritten Evangelium (Lk 19) können wir nicht ersehen, dass die Reinigung des Tempels nicht bei seinem ersten Besuch erfolgte. Aber wir erfahren von Markus, der einen genauen Bericht über beide Tage erstattet, dass in beiden Fällen nicht alles auf einmal geschah. Dies ist umso bemerkenswerter, weil in den Ereignissen mit den beiden Besessenen oder den beiden Blinden bei Matthäus, sowohl Markus als auch Lukas nur von einem sprechen. Diese Besonderheiten können nur durch eine dahinter stehende Absicht erklärt werden, zumal man annehmen muss, dass jeder der aufeinanderfolgenden Evangelisten den Bericht seines Vorgängers über das Leben des Herrn kannte. Es ist offensichtlich, dass Matthäus die beiden Handlungen im Tempel und mit dem Feigenbaum in jeweils eine zusammenfasst. Sein Themenkreis schloss Einzelheiten aus; und ich bin überzeugt, dass das richtig war und nach den Gedanken des Geistes Gottes. Die Angelegenheit wird noch bedeutungsvoller, wenn wir beachten, dass Matthäus dabei war und Markus nicht. Ein normaler menschlicher Augenzeuge, der die Ereignisse wirklich gesehen hat, hätte sich sicherlich bei den Details aufgehalten. Der persönliche Gefährte des Herrn handelte nicht so. Wenn es nur darum gegangen wäre, alle Einzelheiten durch einen Menschen, der den Herrn liebte, zu sammeln, dann wäre Matthäus, menschlich gesprochen, derjenige von den drei ersten Evangelisten gewesen, welcher am genauesten und ausführlichsten die Umstände beschrieben hätte. Markus, der bekanntermaßen kein Augenzeuge war, hätte sich dann mit den allgemeinen Gesichtspunkten begnügen müssen. Zweifellos ist es umgekehrt. Dies sollten wir sehr beachten, und zwar nicht nur hier, sondern auch anderswo. Für mich ist das der Beweis, dass die Evangelien die Frucht einer göttlichen Absicht in ihnen allen ist; doch diese ist in jedem Evangelium anders. Gott hat als Grundsatz festgesetzt, dass Er sich nie auf Augenzeugen beschränkt, auch wenn Er sich herablässt, sie zu benutzen. Er weist im Gegenteil sorgfältig und ausreichend nach, dass Er über solchen kreatürlichen Hilfsquellen der Informationsvermittlung steht. So finden wir bei Markus und Lukas einige der wichtigsten Einzelheiten, jedoch nicht bei Matthäus und Johannes, obwohl beide Augenzeugen waren, im Unterschied zu Markus und Lukas.
In dem Abschnitt, den wir jetzt erreicht haben, erkennen wir einen doppelten Beweis dafür. Für Matthäus, der das schrieb, was der Heilige Geist ihm anvertraut hatte, gab es keinen ausreichenden Grund, sich mit Dingen zu beschäftigen, die keinen Bezug auf Israel in Hinsicht auf seine Haushaltungen aufwiesen. Er stellt also, wie so oft, den Besuch im Tempel in aller Vollständigkeit dar, als sei diese Darstellung sein einzig wichtiges Ziel. Jeder denkende Mensch muss, wenn ich nicht gewaltig irre, zugeben, dass das Eingehen auf Einzelheiten vom Ernst einer Handlung ablenkt. Auf der anderen Seite hat natürlich ein genauer Bericht dort seinen rechten Platz, wo es sich um die Handlungsweise des Herrn handelt und wo man sich mit seinem Dienst und Zeugnis beschäftigt. Hier möchte ich die Besonderheiten wissen; und jede Spur und Schattierung ist für mich voller Belehrung. Wenn ich Ihm dienen will, dann sollte ich jedes seiner Worte und jede Verhaltensweise dem Gedächtnis einprägen und darüber nachsinnen. Dafür hat die Darstellungsart des Markusevangeliums einen unschätzbaren Wert. Wer empfindet nicht, dass die Bewegungen, das Schweigen, die Seufzer, das Stöhnen, ja, sogar die Blicke des Herrn voller Segen für die Seele sind? Wenn indessen Matthäus als Thema den großen Wechsel der Haushaltung als Folge der Verwerfung des göttlichen Messias darstellen soll, dann begnügt sich der Geist Gottes mit einer allgemeinen Notiz von jener peinlichen Szene und lässt sich nicht auf einen umständlichen Bericht darüber ein. Das gilt vor allem, wenn, wie hier, nicht die zukünftige Barmherzigkeit, sondern das feierliche und ernste Gericht über Israel enthüllt wird. Die augenfälligen Unterschiede an dieser Stelle zwischen Matthäus- und Markusevangelium führe ich hierauf zurück sowie auch die zum Lukasevangelium, welches die Verfluchung des Feigenbaums völlig weglässt und die knappste Schilderung der Reinigung des Tempels gibt (Lk 19,45). Die Ansicht einiger Männer, insbesondere einiger Gelehrter, dass die Unterschiede auf die Unwissenheit des einen oder anderen oder aller Evangelisten zurückgeführt werden muss, ist die schlechteste von allen Erklärungen und die unvernünftigste. Es ist der klare Beweis ihrer Unwissenheit und eine Wirkung positiven Unglaubens.
Was ich vorzustellen wagte, könnte nach meinem Dafürhalten ein Beweggrund, und zwar ein hinreichender Beweggrund, für die Unterschiede sein. Wir müssen jedoch beachten, dass die göttliche Weisheit in ihren Ratschlüssen Tiefen enthält, die unsere Fähigkeit, sie zu ergründen, unendlich übersteigen. Gott erlaubt gern, dass wir etwas von dem erkennen, was in seinem Herzen ist, falls wir demütig, sorgfältig und von Ihm abhängig sind. Andererseits lässt Er uns in vielem unwissend, wenn wir nachlässig sind oder auf uns selbst vertrauen. Ich bin jedoch sicher, dass gerade die Stellen, die gewöhnlich von den Menschen als Makel und Fehler im inspirierten Wort angegriffen werden, wenn richtig verstanden, die stärksten Beweise für die anbetungswürdige Leitung durch den Heiligen Geist Gottes liefern. Dabei spreche ich nicht mit solcher Sicherheit, weil mir diese Erkenntnis zur Genugtuung gereicht, sondern weil jede Lektion, die ich aus dem Wort Gottes gelernt habe und lerne, mich zu der ständig größer werdenden Überzeugung führt, dass die Schrift vollkommen ist. Für das Problem vor uns genügt allerdings völlig, dass wir genug Beweise haben, dass Matthäus, Markus und Lukas nicht aus Unwissenheit, sondern mit vollem Wissen so schrieben, wie sie es getan haben. Ich gehe noch weiter und sage, dass es so die göttliche Absicht war; denn ich glaube nicht, dass der Evangelist einen bestimmten Plan und den vollen Überblick über das hatte, was der Heilige Geist ihm zu schreiben aufgab. Wir müssen nicht notwendigerweise annehmen, dass Matthäus bedachtsam einen Plan ersann, um die Ergebnisse seines Evangeliums hervorzubringen. Wie Gott alles bewirkte, ist eine andere Frage, die wir natürlich nicht zu beantworten haben. Tatsache bleibt jedoch, dass der Evangelist, der anwesend und folglich ein Augenzeuge der Einzelheiten war, diese nicht mitteilt. Dagegen schreibt ein anderer, der nicht dabei war, von ihnen mit größter Ausführlichkeit. Dabei besteht vollkommene Harmonie zwischen seinem Bericht und dem des Augenzeugen. Und doch gibt es bemerkenswerte Unterschiede sowie gegenseitige Bestätigungen. Wenn wir in diesem Fall das Wort „Ursprünglichkeit“ richtig gebrauchen, dann ist das zweite Evangelium durch Ursprünglichkeit gekennzeichnet1. Ich behaupte also fest, dass jedem Evangelium ein göttlicher Plan aufgeprägt ist und dass an der göttlichen Absicht überall und in jedem Evangelium festgehalten wird.
Der Herr ging also direkt zum Heiligtum – der königliche Sohn Davids, ausersehen, um als der Priester auf seinem Thron zu sitzen, das Haupt von allem, seien es die heiligen Dinge oder die, welche zum Staatswesen Israels gehören. Wir können gut verstehen, warum Matthäus Ihn beschreibt, wie Er den Tempel in Jerusalem besuchte. Wir können ebenfalls verstehen, warum diese ganze Szene ohne Unterbrechung geschildert wird, anders als bei Markus, der seinen geduldigen Dienst bezeugt. Den gleichen Grundsatz fanden wir in der Zusammenfassung der Einzelheiten seines Dienstes am Ende des vierten Kapitels und in der zusammenhängenden Bergpredigt, obwohl letztere nach genauerer Untersuchung mit vielen und erheblichen Unterbrechungen gehalten wurde. Denn zweifellos wurden die Ereignisse zusammengefasst. Und so geschah es auch, wie ich glaube, mit den einzelnen Teilen jener Predigt. Diese Verfahrensweise, nämlich alle Zwischenereignisse völlig zu übergehen, stimmt jedoch mit dem Thema unseres Evangeliums überein; und so konnte der Geist Gottes das Ganze zu dem wunderschönen Gespinst des Matthäusevangeliums verweben. In diesem Licht dürfen und sollen wir, wie ich annehme, auch die Unterschiede zwischen Matthäus- und Markusevangelium in den Versen vor uns sehen. Dabei lassen wir allerdings nicht den geringsten Verdacht einer Unvollkommenheit auf den einen oder auf den anderen fallen. Andererseits darf ein Augenzeuge, wie wir schon nachdrücklich betont haben, in keinster Weise, wenn er als Diener benutzt wird, die Zusammenstellung eines Evangeliums planen. Es verrät deutlich, dass die Menschen den wahren Autor vergessen, wenn sie den Plan in den Schreibern, die Er benutzte, suchen. Der einzige Schlüssel zu allen Schwierigkeiten besteht in der einfachen, aber wichtigen Wahrheit, dass Gott seine Gedanken über Jesus in gleicher Weise durch Matthäus wie Markus mitteilt.
Als nächstes handelte der Herr nach dem Wort Gottes: Er fand Menschen, die im Tempel (das heißt in seinen Gebäuden) kauften und verkauften, warf ihre Tische um, trieb sie hinaus und sprach dabei die Worte der Propheten Jesaja (Jes 56,7) und Jeremia (Jer 7,11) aus. Danach wird ein anderer Charakterzug erwähnt, den wir ausschließlich hier finden. Die Blinden und Lahmen finden in Ihm einen Freund anstatt einen Feind. Sie waren „der Seele Davids verhasst“ (2. Sam 5,8); doch Davids großer Sohn und Herr hatte Mitleid mit ihnen und liebte sie, die wahren Geliebten Gottes. Während Er seinen Hass und gerechten Unwillen gegen die habgierige Entweihung des Tempels offenbarte, floss gleichzeitig seine Liebe zu den Elenden in Israel aus. Dann lesen wir, wie das Schreien der Volksmenge und Kinder die Hohenpriester und Schriftgelehrten störte, so dass sie sich tadelnd an den Herrn wandten, der zuließ, dass man Ihm eine solche königliche Begrüßung darbrachte. Der Herr nahm jedoch ruhig seinen Platz nach dem bestimmten Wort Gottes ein. Jetzt stand nicht das Fünfte Buch Mose vor Ihm. Daraus zitierte Er, als Er am Anfang seines Weges von Satan versucht wurde. Die Worte der Kinder waren aus Psalm 118 entnommen – und wer könnte sagen, dass das falsch war? So wandte nun der Herr Jesus die Aussagen des achten Psalms auf die Kinder und sich selbst an – und ich weise darauf hin, wie vollkommen passend das war. Die Zentralwahrheit dieses Psalms spricht von der Einführung des verworfenen Messias, des Sohnes des Menschen, durch Erniedrigung und Leiden bis zum Tod in die himmlische Herrlichkeit und die Herrschaft über alle Dinge. Diese Wahrheit stand vor der Seele des Herrn. Die kleinen Kinder handelten folglich nach der Wahrheit und dem Geist jener Prophezeiung. Es waren Säuglinge, aus deren Mündern Lob für den verachteten Messias verordnet war. Er sollte bald im Himmel erhöht sein, während Er auf der Erde als der einst gekreuzigte und jetzt verherrlichte Sohn des Menschen gepredigt würde. Was konnte zu jener Zeit passender sein? Was bedeutsamer zu aller Zeit, ja, für die Ewigkeit?
Matthäus vereinigt, wie wir schon gesehen haben, alle Ereignisse um den unfruchtbaren Feigenbaum (V. 18–22), ohne den Fluch an dem einen und die Offenbarung seiner Erfüllung am nächsten Tag voneinander zu trennen. Hat das keine moralische Bedeutung? Unmöglich! Finden wir irgendetwas in diesem Kapitel, das von einer herzlichen und wahren Aufnahme des Messias und Früchten für seine Hand, die Israel so lange gepflegt und mit aller Sorgfalt kultiviert hatte, sprach? Gab es irgendetwas, das durch die Begrüßung der kleinen Kinder, die „Hosanna“ riefen und ein Muster von dem waren, was die Gnade am Tag seiner Rückkehr bewirken wird, angesprochen wurde? Zu jener Zeit wird die Nation zufrieden und dankbar den Platz von Kindern und Säuglingen einnehmen und ihre ganze Weisheit darin finden, denjenigen anzunehmen, den ihre Vorväter verworfen hatten und der daraufhin als Mensch während der Nacht des Unglaubens seines Volkes im Himmel erhöht wurde. In der Zwischenzeit passt ein anderes Bild besser auf sie: Der Zustand und das Verderben des unfruchtbaren Feigenbaums. Warum verachteten sie die jubelnde Volksmenge und die frohlockenden Kinder? In welchem Zustand befanden sie sich vor den Augen dessen, der alles sah, was in ihren Herzen vorging? Sie waren nicht besser als jener Feigenbaum – jener einsame Feigenbaum, auf den das Auge des Herrn fiel, als Er von Bethanien kommend wieder nach Jerusalem zurückkehrte. Wie er sahen auch sie vielversprechend aus. Er war voller Blätter. Auch bei ihnen fehlte es nicht an einem schönen Bekenntnis; aber es gab keine Frucht. Die Unfruchtbarkeit wurde dadurch besonders offenbar, dass es noch nicht die Zeit der Feigen war; denn er hätte unreife Feigen, die Vorboten der Ernte, tragen müssen. Zur Zeit der Feigenernte hätten die Feigen schon abgenommen sein können. Da diese Zeit noch nicht gekommen war, wäre ohne Zweifel die Verheißung auf die kommende Ernte am Baum zu sehen gewesen, wenn er überhaupt irgendeine Frucht getragen hätte. Dieser Baum lieferte also ein sehr wirklichkeitsnahes Bild von dem, was die Juden, was die Nation Israel, in den Augen des Herrn waren. Er kam und suchte Frucht; es gab jedoch keine; und der Herr sprach diesen Fluch aus: „Nie mehr komme Frucht von dir in Ewigkeit!“ (V. 19). Und so geschah es. Von jenem Geschlecht kam niemals Frucht. Ein anderes Geschlecht muss aufstehen. Ein völliger Wechsel muss stattfinden, damit es zum Fruchttragen kommt. Nur durch Jesus können Früchte der Gerechtigkeit zur Verherrlichung Gottes reifen. Und sie verwarfen jetzt Jesus. Der Herr wird Israel nicht aufgeben; doch Er wird ein zukünftiges Geschlecht erwecken, das ganz anders ist als das gegenwärtige, welches Ihn verwarf. Zu diesem Ergebnis kommen wir, wenn wir den Fluch unseres Herrn mit dem Rest des Wortes Gottes vergleichen, welches von besseren Dingen redet, die für Israel aufbewahrt werden.
Dem fügte der Herr noch etwas hinzu. Das damalige Israel sollte nicht nur hinweggetan werden, um Raum für ein anderes Geschlecht zu geben, welches den Messias ehren und damit Frucht für Gott bringen wird. Er sagte auch den staunenden Jüngern, dass, wenn sie Glauben hätten, der Berg ins Meer geworfen würde. Das scheint noch weiter zu gehen als die Beiseitesetzung Israels in seiner Verantwortung als fruchttragendes Volk. Er deutete an, dass ihr ganzes Staatswesen aufgelöst werden sollte; denn der Berg ist genauso das Symbol einer Macht auf der Erde, einer etablierten Weltmacht, wie der Feigenbaum ein besonderes Sinnbild von Israel in seiner Verantwortlichkeit, für Gott Frucht zu bringen. Es ist offensichtlich, dass beide Bilder voll verwirklicht worden sind. Zurzeit2 ist Israel verschwunden. Schon nach kurzer Zeit sahen die Jünger, wie Jerusalem nicht nur eingenommen, sondern auch sozusagen mit seiner Wurzel ausgerissen wurde. Die Römer kamen als Vollstrecker des Urteils Gottes entsprechend der gerechtfertigten Vorahnung des ungerechten Hohenpriesters Kajaphas, der nicht ohne den Heiligen Geist weissagte (Joh 11,51). Sie nahmen ihnen Stadt und Nation weg – aber nicht deshalb, weil sie Jesus, ihren Messias, nicht getötet, sondern gerade weil sie Ihn getötet hatten. Bekanntlich geschah diese totale Vernichtung des jüdischen Staatswesens, als die Jüngerschaft zu einem öffentlichen Zeugnis in der Welt herangewachsen war. Noch vor der Hinwegnahme aller Apostel von der Erde versank und verschwand Israels nationales Staatswesen gänzlich. Titus nahm Jerusalem ein und verkaufte und zerstreute das Volk bis an das Ende der Erde. Ich habe keinen Zweifel, dass der Herr uns diese Wahrheit in dem Herausreißen des Berges sowie dem Verdorren des Feigenbaums zeigen wollte. Das letzte Bild mag einfacher in seiner Anwendung und auch den herkömmlichen Vorstellungen bekannter sein. Es gibt jedoch keinen vernünftigen Grund, warum das andere Bild nicht genauso symbolisch in seiner Aussage ist. Wie es auch sein mag – diese Worte des Herrn schließen jenen Teil des Gegenstands.
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels und dem folgenden betreten wir eine neue Serie von Ereignissen. Zunächst traten die religiösen Führer vor den Herrn und stellten die erste Frage, die immer in den Herzen solcher Männer auftaucht: „In welchem Recht tust du diese Dinge?“ (V. 23). Keine Frage wird leichter gestellt von Menschen, die ihr eigenes Recht für unangreifbar halten. Unser Herr antwortete ihnen mit einer anderen Frage, die sofort ihren Mangel an moralischer Kompetenz in einer unvergleichlich ernsteren Angelegenheit aufdeckte. Wer waren sie, um nach seiner Autorität zu fragen? Sie sollten gewiss als religiöse Führer fähig sein, das zu beurteilen, was von tiefster Bedeutung für ihre eigenen Seelen und die Seelen derjenigen war, über die sie die geistliche Aufsicht beanspruchten. Die Frage, die Er stellte, beinhaltete auch die Antwort auf ihre; denn hätten sie Ihm der Wahrheit entsprechend geantwortet, dann hätte das auch sofort entschieden, durch welche und wessen Autorität Er handelte. „Die Taufe des Johannes'“, fragte Er, „woher war sie, vom Himmel oder von Menschen?“ (V. 25). Diese Männer waren nicht ehrlich; sie fürchteten Gott nicht. Aber sie waren voll schwülstiger Worte und angemaßter Autorität. Anstatt also die Frage nach ihrem Gewissen zu beantworten und die Wahrheit auszusprechen, überlegten sie nur, wie sie aus dieser Klemme heraus kommen konnten. Sie stellten sich nur die eine Frage: Welche Antwort ist diplomatisch? Wie entkommen wir am besten dieser Schwierigkeit? Vor Jesus war das eine vergebliche Hoffnung. Sie mussten sich mit der niederträchtigen Schlussfolgerung zufrieden geben: „Wir wissen es nicht“ (V. 27). Das war Unaufrichtigkeit. Aber was bedeutete das für sie, wenn die Interessen der Religion und ihres Standes betroffen waren? Ohne rot zu werden, antworteten sie also dem Heiland: „Wir wissen es nicht“; und der Herr gab ihnen mit ruhiger Würde seine Entgegnung. Er sagte nicht: „Ich weiß es nicht“, sondern: „So sage auch ich euch nicht, in welchem Recht ich diese Dinge tue.“ Jesus kannte die geheimen Quellen des Herzens und legte sie bloß; und der Geist Gottes berichtet es hier zu unserer Belehrung. Dies ist das allgemeine, wahre Bild weltlicher Führer in religiösen Dingen im Konflikt mit der Macht Gottes. „Wenn wir sagen: vom Himmel, so wird er zu uns sagen: Warum habt ihr ihm denn nicht geglaubt? Wenn wir aber sagen: Von Menschen – wir fürchten die Volksmenge, denn alle halten Johannes für einen Propheten“ (V. 25.26). Wenn sie Johannes anerkannten, mussten sie sich vor der Autorität Jesu beugen. Wenn sie Johannes ablehnten – sie fürchteten das Volk. So wurden sie zum Schweigen gebracht; denn sie wollten ihren Einfluss beim Volk nicht verlieren. Und sie waren entschlossen, die Autorität Jesu um jeden Preis zu leugnen. Sie sorgten nur für sich selbst.
Der Herr ging weiter und begegnete in Gleichnissen einer umfassenderen Frage als jener der Führer, indem Er schrittweise den Blickwinkel vergrößerte, bis Er diese Belehrungen in Matthäus 22,14 abschloss. Zuerst behandelte Er sündige Menschen, in denen das natürliche Gewissen noch wirkte, und andere, die es schon verloren hatten. Das finden wir nur bei Matthäus. „Ein Mensch hatte zwei Kinder; und er trat hin zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh heute hin, arbeite im Weinberg. Er aber antwortete und sprach: Ich will nicht. Danach aber reute es ihn, und er ging hin. Und er trat hin zu dem zweiten und sprach ebenso. Der aber antwortete und sprach: Ich gehe, Herr, und ging nicht. Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan? Sie sagen: Der Erste. Jesus spricht zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, dass die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes. Denn Johannes kam zu euch auf dem Weg der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht; die Zöllner aber und die Huren glaubten ihm; euch aber, als ihr es saht, reute es auch danach nicht, so dass ihr ihm geglaubt hättet“ (V. 28–32). Der Herr gab sich nicht damit zufrieden, allein das Gewissen in einer für das Fleisch sehr schmerzlichen Weise zu treffen. Deshalb mussten sie erfahren, dass – trotz Autorität und dergleichen – jene, deren Bekenntnis am größten ist, wenn sie ungehorsam sind, als böser angesehen werden als die verworfensten Menschen, die Buße tun und dem Willen Gottes folgen.
Als nächstes betrachtete unser Herr das ganze Volk, beginnend bei dem Anfang seiner Beziehungen zu Gott. Mit anderen Worten: Er gibt uns in diesem Gleichnis die Geschichte der Handlungsweise Gottes mit demselben. Es handelte sich in keinster Weise um die zufälligen Umstände im Verhalten einer besonderen Generation. Der Herr stellte klar heraus, was dieses Volk die ganze Zeit über und auch damals, als Er anwesend war, kennzeichnete. Im Gleichnis vom Weinberg wird es in Hinsicht auf seine Verantwortlichkeit geprüft. Gott, der es von Anbeginn mit außerordentlich reichen Privilegien gesegnet hatte, besaß Anrechte an ihm. Danach, im Gleichnis von der Hochzeit des Königssohns, sehen wir, wie die Gnade des Evangeliums Gottes das Volk erprobte. Das sind demnach die Themen der beiden folgenden Gleichnisse.
Der Hausherr, der seinen Weinberg an Weingärtner verpachtete, zeigt Gott, wie Er die Juden auf der Grundlage von Segnungen, die Er in Fülle über sie ausgegossen hatte, prüfte. So sehen wir, wie zuerst Knechte zu ihnen gesandt wurden – und dann mehr. Es war alles vergeblich. Die Beschimpfung und das Böse nahmen ständig zu. Dann, zuletzt, sandte Er seinen Sohn, indem Er sagte: „Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen“ (V. 37). Das lieferte ihnen die Gelegenheit für ihre krönende Sünde. In der Ermordung des Sohnes und Erben lehnten sie alle seine göttlichen Anrechte ab; denn „sie nahmen ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt, was wird er jenen Weingärtnern tun? Sie sagen zu ihm: Er wird jene Übeltäter auf schlimme Weise umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten, die ihm die Früchte abliefern werden zu ihrer Zeit“ (V. 39–41).
Der Herr überließ die Sache jedoch nicht nur der Antwort des Gewissens, sondern sprach auch sein Urteil nach den Schriften aus: „Habt ihr nie in den Schriften gelesen: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn her ist er dies geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen“? (V. 42). Dann verband Er diese Vorhersage über den Stein aus Psalm 118 anscheinend mit der Prophezeiung von Daniel 2. Auf jeden Fall wird der Grundgedanke dieser Stelle auf das gegenwärtige Problem angewandt. Ich brauche kaum zu sagen, wie treffend und mit welcher Schönheit Er das tut. Denn an jenem fernen Tag werden die abtrünnigen Juden mit den heidnischen Mächten zusammen gerichtet und zermalmt. Der Stein wird in zwei Stellungen gefunden. Die eine befand sich auf der Erde, nämlich in der Erniedrigung des Messias. Über diesen Stein, der sich so erniedrigt hatte, stolperte und fiel der Unglaube. Doch dann, wenn der Stein erhöht ist, folgt ein anderes Ergebnis. Denn „der Stein Israels“ (1. Mo 49,24), der verherrlichte Sohn des Menschen, wird in schonungslosem Gericht herniederkommen und seine Feinde zermalmen. Als die Hohenpriester und Pharisäer seine Gleichnisse gehört hatten, erkannten sie, dass Er von ihnen sprach.
Fußnoten