Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 15-16
In Kapitel 15 haben wir ein anderes Bild, und zwar in zweifacher Hinsicht. Die stolze, traditionsreiche Heuchelei Jerusalems wird herausgestellt und die geprüfte Heidin durch die Gnade gesegnet. Diese Ereignisse finden ihren passenden Platz nicht im Lukas-, sondern im Matthäusevangelium, zumal die Einzelheiten hier, anders als bei Markus, der diesmal ganz allgemein bleibt, großes Licht auf die Wege Gottes hinsichtlich der Haushaltungen wirft. Zunächst haben wir also die falschen Gedanken der „Pharisäer und Schriftgelehrten von Jerusalem“ (V. 1), die vom Herrn gerichtet wurden. Das gab Ihm die Gelegenheit, vorzustellen, was wirklich verunreinigt. Es sind nicht die Dinge, die in den Menschen hineingelangen, sondern die aus dem Mund hervorkommen und ihren Ursprung im Herzen haben. Das Essen mit ungewaschenen Händen verunreinigt einen Menschen nicht. Diese Worte sind der Todesstreich für menschliche Tradition und Brauchtum in göttlichen Dingen. Er beruht in der Tat auf der Wahrheit von dem absoluten Verderben des Menschen – einer Wahrheit, die auch die Jünger, wie wir sehen, nur langsam erkennen konnten.
Auf der anderen Seite des Bildes sehen wir den Herrn, wie Er eine Seele dazu führte, sich in der herrlichsten Weise auf die göttliche Gnade zu stützen. Die kanaanäische Frau aus den Gegenden von Tyrus und Sidon kam zu Ihm. Sie war eine Heidin, deren Volk und Abstammung an sich schon unheilvoll und deren Lage zudem verzweifelt war; denn sie wandte sich an den Herrn wegen ihrer Tochter, die schlimm von einem Dämon besessen war. Was können wir von ihrem Verständnis sagen? War sie nicht in ihren Gedanken völlig verwirrt? Hätte der Herr ihre Worte genau beachtet, dann wäre es ihr Tod gewesen. „Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids!“ (V. 22), schrie sie. Doch was hatte sie mit dem Sohn Davids zu tun? Und was hatte der Sohn Davids mit einer kanaanäischen Frau zu tun? Wenn Er als Sohn Davids regieren wird, dann gibt es keinen Kanaaniter mehr im Haus Jahwes der Heerscharen (Sach 14,21). Das Gericht wird sie vorher ausgerottet haben. Aber der Herr konnte sie nicht ohne eine Segnung wegschicken – eine Segnung, die seiner Herrlichkeit entsprach. Anstatt ihr sofort eine Antwort zu geben, führte Er sie Schritt für Schritt weiter; denn so weit konnte Er sich herablassen. So groß war seine Gnade, so groß seine Weisheit. Zuletzt begegnete diese Frau dem Herzen und Gefühl Jesu im Bewusstsein ihrer völligen Nichtswürdigkeit vor Gott. Jetzt konnte die aufgestaute Gnade, welche die Frau bis hierhin geführt hatte, wie ein Strom fließen; und der Herr konnte ihren Glauben bewundern, obwohl er als freie Gabe Gottes von Ihm selbst kam.
Am Ende des Kapitels finden wir ein weiteres Wunder, in dem Christus eine große Volksmenge speist. Hier ist es, genau genommen, kein bildhafter Ausblick auf das, was der Herr tat oder tun wollte. Ich nehme an, es ist ein erneutes Pfand von der Wahrheit, dass Er in keiner Weise sein altes Volk vergessen würde, auch wenn Er die Ältesten von Jerusalem richten musste und die Gnade frei zu den Heiden hinausging. Was für eine besondere Barmherzigkeit und Zartheit erkennen wir nicht nur im Endergebnis der Beschäftigung des Herrn mit Israel, sondern auch schon in der Art seines Handelns mit ihm!
In Kapitel 16 machen wir trotz (ja, geradezu, wegen) des offensichtlichen und tiefen Unglaubens auf allen Seiten einen großen Schritt vorwärts. Der Herr hatte den Juden nichts mehr mitzuteilen. Sein Teil war es jetzt, den Weg bis zum Ende zu gehen. Er hatte vorher schon die neue Form des Reiches angesichts einer Gesinnung, die sich durch die unvergebbare Lästerung des Heiligen Geistes verraten hatte, vorgestellt. Das Werk unter seinem alten Volk war dem Grundsatz nach abgeschlossen und ein neues Werk Gottes im Reich der Himmel enthüllt. Hier stellt Er nicht nur das Königreich vor, sondern auch seine Versammlung (Kirche). Den Anlass dafür gab nicht einfach der hoffnungslose Unglaube der Volksmenge, sondern das Bekenntnis von seiner inneren Herrlichkeit als Sohn Gottes durch seinen auserwählten Zeugen. Sobald Petrus die Wahrheit über die Person Jesu verkündet hatte – „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (V. 16) –, hielt Jesus das Geheimnis nicht länger zurück. „Auf diesen Felsen“, sagte Er, „werde ich meine Versammlung bauen, und die Pforten des Hades werden sie nicht überwältigen“ (V. 18). Er gab auch, wie wir später sehen, Petrus die Schlüssel des Reiches. Aber zuerst erkennen wir den neuen und großen Gedanken, dass Christus ein neues Bauwerk, seine Versammlung, auf die Wahrheit und das Bekenntnis seiner Person, des Sohnes Gottes, bauen wollte. Zweifellos war dieser Plan eine Folge des vollständigen Ruins Israels durch ihren Unglauben. Doch der Verfall des Geringeren öffnete den Weg für die Gabe einer besseren Herrlichkeit als Antwort auf den Glauben des Petrus an die Herrlichkeit des Herrn. Sowohl der Vater als auch der Sohn haben ein ihnen angemessenes Teil in den Ratschlüssen Gottes, genauso wie auch der Geist Gottes, der zur gegebenen Zeit vom Himmel gesandt werden sollte, wie wir anderen Stellen der Schrift entnehmen können. Bekannte Petrus, wer der Sohn des Menschen wirklich ist? Es war die Offenbarung des Vaters über den Sohn. Fleisch und Blut hatten es Petrus nicht offenbart, sondern „mein Vater, der in den Himmeln ist.“ Daraufhin hatte auch der Herr etwas zu sagen. Er erinnerte zunächst Petrus an seinen neuen Namen, der zu dem passte, was dann folgt. Er stand im Begriff, seine Versammlung „auf diesen Felsen“ (nämlich die Wahrheit, dass Er der Sohn Gottes ist) zu bauen. Von da an verbot Er auch den Jüngern, Ihn als Messias zu verkünden. Das war erst einmal durch die blinde Sünde Israels vorbei. Er war auf dem Weg, in Jerusalem zu leiden und nicht zu herrschen.
Danach erkennen wir, ach, in Petrus ein Bild von dem, was der Mensch ist, selbst wenn ihm so große Offenbarungen gemacht wurden. Er, der soeben die Herrlichkeit des Herrn bekannt hatte, wollte seinen Herrn nicht von seinem Weg zum Kreuz reden hören. Dabei konnte sowohl die Versammlung als auch das Reich nur auf dieser Grundlage aufgerichtet werden. Petrus suchte, Ihn von dem Weg abzubringen. Aber das einzigartige Auge Jesu entdeckte sofort die Schlinge Satans, in der Petrus durch fleischliche Gedanken möglicherweise einem Fall entgegengeführt wurde. Und da dessen Worte nicht göttliche, sondern menschliche Gedanken verrieten, indem er sich des Herrn schämte, befahl der Herr ihm, hinter Ihn (nicht: hinweg) zu gehen. Anschließend bestand der Herr nachdrücklich darauf, dass das Kreuz zu seinem Weg gehörte und dass diese Wahrheit sich auch in jedem, der Ihm nachfolgen will, verwirklichen muss. Die Herrlichkeit der Person Christi stärkt uns, sodass wir nicht nur sein Kreuz verstehen, sondern auch unser eigenes aufnehmen.