Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 12

Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium

In Kapitel 12 finden wir nicht so sehr Jesus in der Gegenwart der Menschen, die Ihn verachten, als vielmehr diese Männer Israels, die Verwerfer, in der Gegenwart Jesu. Folglich offenbart der Herr Jesus überall, dass das Gericht Israels schon verkündigt ist und bevorstand. Wenn Er verworfen wurde, dann wurden diese spöttischen Menschen gerade durch diese Handlung selbst verworfen. Das Abpflücken der Ähren und die Heilung der verdorrten Hand hatten lange vorher stattgefunden. Markus gibt sie am Ende seines zweiten und am Anfang seines dritten Kapitels. Warum sind sie hierher versetzt worden? Weil es die Aufgabe des Matthäus ist, den Wechsel der Haushaltung durch die – oder, besser gesagt, als Folge der – Verwerfung Jesu durch die Juden zu entfalten. Deshalb wartet er, bis er ihre Verwerfung des Messias in sittlicher Hinsicht so vollständig wie möglich – obwohl notwendigerweise nicht unbedingt in ihrer praktischen Erfüllung – darstellen kann. Natürlich konnte ausschließlich das Kreuz einen offensichtlichen und buchstäblichen Beweis dieser Verwerfung liefern. Aber wir finden diese schon in seinem Leben; und es ist gesegnet, sie in dem, was Ihm begegnete, erfüllt zu sehen. Er verwirklichte seine Verwerfung vorher in seinem Geist. Und ihre Ergebnisse wurden herausgestellt, bevor die äußeren Ereignisse den jüdischen Unglauben voll zum Ausdruck brachten. Er wurde nicht von den Geschehnissen überrascht; Er wusste alles von Anfang an. Der unversöhnliche Hass des Menschen wurde in dem Verhalten und der Gesinnung seiner Verwerfer voll herausgestellt. Der Herr Jesus zeigte sozusagen in diesen beiden Begebenheiten an Sabbat-Tagen schon, was folgen würde, bevor Er das Urteil aussprach. Doch dabei brauchen wir uns momentan nicht aufzuhalten.

Das erste Ereignis besteht in der Verteidigung der Jünger, indem der Herr sich auf Analogien stützt, die Gott in alten Zeiten bestätigt hatte. Außerdem spricht Er von seiner persönlichen Herrlichkeit, die Er jetzt hat. Verwerfe Ihn als Messias! In dieser Verwerfung wird seine moralische Herrlichkeit als Sohn des Menschen zur Grundlage für seine Verherrlichung und Offenbarung an einem zukünftigen Tag.  Er war der Herr des Sabbats. Im nächsten Ereignis entstammt die Kraft der Entgegnung aus der Güte Gottes gegen das Elend des Menschen. Gott missachtet wegen des ruinierten Zustands Israels, welches seinen wahren gesalbten König abwies, Einzelheiten der vorgeschriebenen Anordnungen. Aber Er stützt auch den Grundsatz, dass Er sich keineswegs verpflichten lässt, dort nichts Gutes zu tun, wo schreckliche Not ist. Letzteres mochte zu einem Pharisäer passen. Es mochte eines gesetzlichen Formalisten würdig sein. Es passt jedoch nicht zu Gott. Und der Herr Jesus war nicht gekommen, um sich ihren Gedanken anzupassen, sondern um vor allem Gottes Willen einer heiligen Liebe in einer bösen, elenden Welt zu tun. „Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe, mein Geliebter, an dem meine Seele Wohlgefallen gefunden hat“ (V. 18). Das war wahrhaftig Emmanuel, Gott mit uns! Wenn Gott da war – was konnte, was wollte Er sonst tun? Jetzt wirkte Er noch in demütiger, stiller Gnade nach den Worten des Propheten; allerdings wird auch bald die Stunde für den Sieg im Gericht schlagen. So zog Er sich sanftmütig zurück und heilte weiter; dennoch verbot Er, dass es bekannt gemacht wurde. Dabei wird jedoch im Verlauf der Ereignisse mehr und mehr die völlige Verwerfung seiner Verwerfer offenbar. Das zeigt sich weiter unten in unserem Kapitel, nachdem der Dämon aus dem blinden und stummen Menschen angesichts der erstaunten Volksmenge ausgetrieben war. Irritiert durch deren Frage: „Dieser ist doch nicht etwa der Sohn Davids?“ (V. 23), versuchten die Pharisäer das Zeugnis mit äußerster, lästernder Verachtung zu zerstören. „Dieser (Bursche)“1 (V. 24).

Die Übersetzer der englischen Bibel haben den Sinn dieser Stelle gut getroffen. Denn der Ausdruck trägt wirklich diese Geringschätzung in sich, obwohl das Wort „Bursche“ dort kursiv geschrieben ist. Das griechische Wort wird ständig als ein Ausdruck der Nichtachtung verwandt. „Dieser (Bursche) treibt die Dämonen nicht anders aus, als durch den Beelzebub, den Fürsten der Dämonen“ (V. 24). Der Herr zeigt ihnen ihre wahnsinnige Torheit und warnt sie vor einer noch schwerwiegenderen und tödlicheren Form der Lästerung. Diese würde ihren Höhepunkt erreichen, indem man genauso über den Heiligen Geist sprechen würde, wie jetzt über Ihn. Die Menschen bedenken wenig, wie ihre Worte sich am Tag des Gerichts anhören und als was sie sich erweisen werden. Er stellt ihnen das Zeichen des Propheten Jona, die Buße der Männer Ninives, die Predigt Jonas und den ernsten Eifer der Königin des Südens in den Tagen Salomos vor. Doch jetzt wurde ein unvergleichlich Größerer verachtet. Er gibt hier allerdings nur einen kleinen Hinweis auf das, was die Nationen bald aufgrund des verderblichen Unglaubens und des Gerichts der Juden empfangen werden. Aber Er verschweigt in dem folgenden Bild deren schrecklichen Weg und ihr Verderben nicht. Ihr Zustand entsprach lange Zeit dem eines Menschen, in welchem ein unreiner Geist früher gewohnt und den er dann wieder verlassen hatte. Von außen gesehen sah der Zustand des Mannes verhältnismäßig rein aus. Götzen und Gräuel verunreinigten diesen Wohnort nicht mehr wie in früheren Zeiten. Dann sagt der unreine Geist: „Ich will in mein Haus zurückkehren, von wo ich ausgegangen bin; und wenn er kommt, findet er es leer vor, gekehrt und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister mit sich, böser als er selbst, und sie gehen hinein und wohnen dort; und das Letzte jenes Menschen wird schlimmer als das Erste. Ebenso wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen“ (V. 44–45). So stellt der Herr hier sowohl die Vergangenheit und Gegenwart als auch die schreckliche Zukunft Israels vor. Vor dem Tag seines Kommens vom Himmel wird nicht nur – es ist ernst zu sagen! – der Götzendienst nach Israel zurückgekehrt sein, sondern auch in Verbindung damit die volle Macht Satans. Das erfahren wir aus Dan 11,36–39, 2. Thes 2,3–12 und Off 13,11–15. Es ist klar, dass der unreine Geist bei seiner Rückkehr den Götzendienst wieder mitbringt. Es ist ebenso klar, dass die sieben böseren Geister die vollständige Macht des Teufels in der Unterstützung des Antichristen gegen den wahren Christus darstellen; und letzteres ist bemerkenswerterweise mit Götzendienst verbunden. So ist das Ende wie der Anfang, nur noch viel, viel schlimmer.

Darauf aufbauend geht der Herr noch einen Schritt weiter. Als jemand zu Ihm sagt: „Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich zu sprechen“ (V. 47), folgt eine doppelte Handlung. Zuerst sagt der Herr: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ (V. 48); danach streckt Er seine Hand aus über seine Jünger mit den Worten: „Siehe da, meine Mutter und meine Brüder; denn wer irgend den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Denn wer irgend den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (V. 49.50). Das alte Band mit dem Fleisch, mit Israel, ist nun zerrissen. Nur noch das neue Verhältnis des Glaubens, das auf das Tun des Willens des Vaters gegründet ist (es handelt sich hier in keinster Weise um das Gesetz) wird anerkannt. Darum wollte der Herr ein gänzlich neues Zeugnis aufrichten und ein Werk, das dazu passte, tun. Dieses beruht nicht auf einem gesetzlichen Anspruch an den Menschen, sondern auf der Aussaat von gutem Samen mit Leben und Frucht von Gott. Der Schauplatz ist das unbegrenzte Feld der Welt und nicht nur das Land Israel.

Fußnoten

  • 1 nach der englischen „Authorized Version“ (Übs.).
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