Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 10-11
Am Ende des 9. Kapitels fordert der Herr in tiefem Mitgefühl die Jünger auf, dass sie zum Herrn der Ernte um das Aussenden von Arbeitern in seine Ernte beten möchten. Am Anfang von Kapitel 10 sendet Er sie selber als Arbeiter aus. Er ist der Herr der Ernte. Die Aussendung war ein großer Schritt vorwärts angesichts seiner Verwerfung. In unserem Evangelium sehen wir nicht, wie die Jünger berufen und als Apostel eingesetzt werden. Matthäus gibt keine solchen Einzelheiten; bei ihm sind Berufung und Aussendung eins. Doch – wie wir schon festgestellt haben – fand die Wahl und Einsetzung der zwölf Apostel in Wirklichkeit vor der Bergpredigt statt, obwohl Matthäus das nicht erwähnt, wohl aber Markus und Lukas (vgl. Mk 3,13–19; 6,7–11; Lk 6,12–16; 9,1–9). Die Aussendung der Apostel fand erst später statt. Bei Matthäus wird ihre Berufung nicht von ihrer Aussendung getrennt. Dennoch steht ihre Mission hier in strenger Übereinstimmung mit dem, was dieses Evangelium verlangt. Es ist ein Aufruf des Königs an sein Volk Israel. So ausschließlich steht Israel im Blickfeld, dass der Herr kein Wort über die Versammlung (Kirche) oder den Zustand des Christentums, das dazwischen geschoben wird, verliert. Er spricht von Israel, und zwar von Israel in seinem damaligen und in seinem zukünftigen Zustand vor seinem Kommen in Herrlichkeit. Er vermeidet jedoch völlig jede Erwähnung der Umstände, die nebenbei eingeführt werden sollten. Er sagt ihnen, dass sie mit den Städten Israels „nicht zu Ende sein“ würden, bis der Sohn des Menschen kommt (V. 23). Natürlich steht seine eigene Verwerfung vor seinem Geist; aber hier sieht Er nicht über jenes Land und Volk hinaus. Und was die Zwölf betrifft, so sendet Er sie auf eine Mission, die bis zum Ende des Zeitalters reicht. Auf diese Weise werden das gegenwärtige Handeln Gottes in Gnade, die wahre Form des Reiches der Himmel, die Berufung der Nationen und die Bildung der Versammlung (Kirche) vollkommen übergangen. Wir finden einige dieser Geheimnisse später in unserem Evangelium. Im 10. Kapitel ist es einfach ein jüdisches Zeugnis seitens Jahwe-Messias in seiner unermüdlichen Liebe durch seine zwölf Herolde. Trotz des ständig zunehmenden Unglaubens hält Er bis zuletzt aufrecht, was seine Gnade für Israel beschlossen hatte. Er wollte passende Boten senden. Das Werk würde jedoch nicht zu Ende sein, wenn der verworfene Messias, der Sohn des Menschen, wiederkommt. Die Apostel werden also mit den dargelegten Worten ausgesandt und sind ohne Zweifel Vorläufer derer, die der Herr zu einer späteren Zeit erwecken wird. Die Zeit fehlt mir, um bei diesem interessanten Kapitel zu verweilen. Mein Thema ist, so klar wie möglich die Struktur unseres Evangeliums herauszustellen und nach dem Maß meiner Erkenntnis zu erklären, warum es diese großen Unterschiede zwischen dem Matthäus- und den übrigen Evangelien gibt. Die Unwissenheit liegt allein auf unserer Seite. Alles, was sie berichten oder weglassen, entspricht der weit reichenden und gnädigen Weisheit Dessen, der sie inspirierte.
Das 11. Kapitel ist von unübertrefflicher Schönheit und in seiner Lehre außerordentlich wichtig für Israel. Darum darf ich nicht ohne einige Worte darüber hinweggehen. Hier finden wir unseren Herrn nach der Aussendung der auserwählten Zeugen der Wahrheit von seiner Messiasschaft, was vor allem für Israel so bedeutsam war. Er ist sich durchaus seiner völligen Verwerfung bewusst und erfreut sich dennoch an Gottes, des Vaters, Ratschlüssen der Herrlichkeit und Gnade. Denn das wahre Geheimnis des Kapitels liegt darin, dass Er in Wirklichkeit nicht nur der Messias, nicht bloß der Sohn des Menschen, sondern auch der Sohn des Vaters ist, dessen Person niemand als nur Er selbst kennt. Doch vom Anfang bis zum Ende – was für eine Erprobung des Geistes und was für ein Triumph! Manche meinen, dass Johannes, der Täufer, nicht für sich selbst die Frage stellte, sondern für seine Jünger. Ich sehe jedoch keinen ausreichenden Grund, warum Johannes seine anhaltende Gefangenschaft nicht schwer mit einem auf der Erde anwesenden Messias im Einklang bringen konnte. Ich glaube auch nicht, dass jene den Fall richtig beurteilen oder eine eingehende Kenntnis des menschlichen Herzens haben, welche solche Zweifel an der Aufrichtigkeit des Johannes erheben. Noch weniger scheinen sie mir den Charakter dieses geehrten Mannes Gottes zu erhöhen, wenn sie ihm eine Rolle zuschreiben, die in Wirklichkeit anderen zusteht. Was ist einfacher, als anzunehmen, dass Johannes diese Frage durch seine Jünger stellte, weil er (und nicht nur sie) eine Frage hatte? Wahrscheinlich war es nicht mehr als eine große, wenn auch vorübergehende Schwierigkeit, welche er in ihrer ganzen Fülle um ihret-, aber auch um seinetwillen geklärt haben wollte. Kurz gesagt: Er hatte eine Frage, weil er ein Mensch war. Wir haben sicherlich nicht das Recht, dies für unmöglich zu halten. Besitzen wir trotz höherer Vorrechte solch unerschütterlichen Glauben, dass wir Zweifel seitens des Johannes für unglaubwürdig halten, so dass wir sie nur in seinen wankenden Jüngern vermuten können? Möchten doch solche, die so wenig Erfahrung von dem haben, was der Mensch, sogar der Wiedergeborene, in sich selbst ist, aufpassen; denn sonst schreiben sie dem Täufer eine gleiche Rolle zu, wie sie Hieronymus1 in schockierender Weise in dem Tadel von Galater 2 bei Petrus und Paulus sieht! Der Herr kannte zweifellos das Herz seines Dieners und empfand mit ihm die Wirkung, welche die Umstände auf ihn ausübten. Wenn Er spricht: „Glückselig ist, wer irgend nicht an mir Anstoß nimmt!“ (V. 6), dann ist es für mich klar, dass Er damit auf ein Schwanken der Seele des Johannes – wenn auch nur für einen Augenblick – anspielt. Tatsache ist, geliebte Geschwister, es gibt nur einen Jesus. Und wer immer es auch sein mag, sei es Johannes der Täufer oder der Größte im Reich der Himmel – es ist trotz allem nur der von Gott gegebene Glaube, der uns aufrechterhält. Anderenfalls muss der Mensch auf schmerzliche Weise lernen, was er in sich selbst ist. Und was kann man von ihm schon erwarten?
Unser Herr antwortete voller Würde und in Gnade. Er stellte den Jüngern des Johannes die wahre Lage der Dinge vor. Er versorgte sie mit klaren, positiven Fakten, so dass für Johannes nichts mehr fehlte, wenn er sie als ein Zeugnis seitens Gottes abwägte. Nachdem Er dies dargelegt hatte, fügte Er noch ein Wort an des Täufers Gewissen hinzu, sprach über seine Person und verteidigte ihn. Johannes' Aufgabe sollte sein, die Herrlichkeit Jesu auszurufen. Doch alles in dieser Welt ist genau das Gegenteil von dem, was es sein sollte – und was es sein wird, wenn Jesus in Macht und Herrlichkeit kommt und den Thron einnimmt. Aber als der Herr auf der Erde war, bot der Unglaube anderer nur die Gelegenheit, die Gnade Jesu erstrahlen zu lassen. So geschah es auch jetzt; und unser Herr benutzte in seiner Güte das Zukurzkommen Johannes' des Täufers, des Größten von Frauen Geborenen, um ewige Dinge zu behandeln. Es lag Ihm fern, die Stellung seines Knechtes herabzusetzen; und Er erklärte ihn zum Größten unter den sterblichen Menschen. Das Versagen dieses Größten von Frauen Geborenen gab Ihm nur den rechten Anlass, um den bevorstehenden großen Wechsel zu zeigen. Dann würde es sich nicht mehr um eine Angelegenheit des Menschen handeln, sondern Gottes, ja, des Reiches der Himmel. Und der Geringste in diesem neuen Verhältnis sollte größer sein als Johannes. Ein weiterer Aspekt macht diese Wahrheit jedoch noch bedeutungsvoller, nämlich die Gewissheit, dass, so strahlend das Reich auch ist, es keineswegs dem Herzen Jesu am nächsten steht. Die Versammlung (Kirche), welche sein Leib und seine Braut ist, hat eine viel innigere Bindung zu Ihm, obwohl sie aus den gleichen Personen besteht.
Als nächstes legte Er den launenhaften Unglauben des Menschen bloß. Dieser ist nur darin beständig, allem, was Gott in seiner Güte aufwendet, und jeder Person, die Er sendet, entgegenzuarbeiten. Zuletzt besprach der Herr seine völlige Verwerfung unter denen, wo Er am meisten gearbeitet hatte. Es ging also weiter auf das bittere Ende zu – und wohl kaum ohne solche Leiden und solchen Schmerz, wie sie nur heilige, selbstlose und gehorsame Liebe kennt. Wie erbärmlich sind wir, dass wir solche Beweise brauchen! Wie erbärmlich, dass wir zu herzenskalt sind, um diese Liebe in rechter Weise zu beantworten oder selbst ihre Tiefe zu empfinden!
„Dann fing er an, die Städte zu schelten, in denen seine meisten Wunderwerke geschehen waren, weil sie nicht Buße getan hatten: Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Wunderwerke geschehen wären, die unter euch geschehen sind, längst hätten sie in Sack und Asche Buße getan. Doch ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts als euch. … Zu jener Zeit hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater …“ (V. 20–25). Was für Gefühle in solcher Zeit! Oh, was für eine Gnade – sich so zu beugen und Gott selbst dann zu preisen, wenn unsere geringe Mühe vergeblich zu sein scheint! Zu jener Zeit antwortete Jesus: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir“ (V. 25–26). Wir scheinen völlig von dem normalen Niveau unseres Evangeliums in die höheren Regionen des Jüngers, den Jesus liebte, hinaufgetragen zu werden. Tatsächlich befinden wir uns in jenem Bereich, mit dem Johannes sich so gerne beschäftigt. Wir sehen Jesus nicht mehr nur als Sohn Davids oder Abrahams, dem Samen der Frau, sondern als den Sohn des Vaters, so wie der Vater Ihn gab, sandte, schätzte und liebte. Dementsprechend fügte Er auch noch hinzu: „Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand erkennt den Sohn als nur der Vater, noch erkennt jemand den Vater als nur der Sohn und wem irgend der Sohn ihn offenbaren will. Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben“ (V. 27–28). Wir können natürlich jetzt nicht weiter auf diese Verse eingehen. Ich möchte im Vorbeigehen nur darauf hinweisen, wie die ständig zunehmende Verwerfung des Herrn Jesus in seiner geringeren Herrlichkeit die Offenbarung seiner höheren hervorruft. Deshalb, glaube ich, gibt es keinen Angriff auf den Namen des Sohnes Gottes und keinen Pfeil, der gegen Ihn abgeschossen wird, welchen der Geist Gottes nicht in heiliger, wahrer und lieblicher Weise benutzt, um aufs Neue und noch lauter seine Herrlichkeit zu bestätigen. Damit wird gleichzeitig der Ausdruck seiner Gnade gegen den Menschen vergrößert. Das können weder Überlieferungen noch menschliche Gedanken oder Gefühle.
Fußnoten
- 1 Hieronymus (347–419/420); lateinischer „Kirchenvater“; übersetzte die Bibel in die lateinische Sprache („Vulgata“) (Übs.).