Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 9
Das folgende Kapitel ergänzt ohne Frage die Präsentation des Herrn an Israel, jedoch von einem anderen Gesichtspunkt aus. Denn in Kapitel 9 wird nicht so sehr das Volk auf die Probe gestellt, sondern insbesondere seine religiösen Führer, bis zuletzt alles mit Lästerung des Heiligen Geistes endet. Jetzt werden die Dinge noch eingehender geprüft. Wäre irgendetwas Gutes in Israel gewesen, dann hätten seine auserlesenen Führer den Test bestanden. Das Volk mochte versagen; aber es gab gewiss Unterschiede! Sicherlich konnten die Geehrten und Angesehenen nicht so verdorben sein! Die gesalbten Priester im Haus Gottes – würden sie nicht schließlich ihren Messias aufnehmen? Diese Frage wird demnach im neunten Kapitel auf den Prüfstand gesetzt. Deshalb sind die Ereignisse wieder, wie im 8. Kapitel, zusammengestellt, ohne die Zeitpunkte, zu denen sie geschahen, zu beachten.
„Und er stieg in das Schiff, setzte über und kam in seine eigene Stadt“ (V. 1). Nachdem der Herr Nazareth verlassen hatte, nahm Er, wie wir gesehen haben, seinen Wohnsitz in Kapernaum, das hinfort „seine eigene Stadt“ wurde. Für die stolzen Bewohner Jerusalems waren beide, die eine wie die andere, ohne großen Unterschied in einem Land der Finsternis. Aber für ein Land der Finsternis, der Sünde und des Todes kam Jesus vom Himmel – ein Messias, nicht nach ihren Gedanken, sondern der Herr und Heiland, der Gott-Mensch. Diesmal wurde ein Gelähmter, der auf seinem Bett lag, zu Ihm gebracht. „Und als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sei guten Mutes, Kind, deine Sünden werden vergeben“ (V. 2b). Es ist klar, hier handelt es sich nicht so sehr um Sünde unter dem Gesichtspunkt der Unreinheit. Dieser umfasst weiter reichende Gedanken, die nichtsdestoweniger mit den gottesdienstlichen Forderungen Israels in Verbindung standen, wie wir aus dem entnehmen können, was unser Herr zu dem gereinigten Aussätzigen sagt. In Kapitel 9 geht es jedoch insbesondere um Sünde, als Schuld gesehen. Diese bricht und zerstört alle Kraft in der Seele, Gott und den Menschen gegenüber, vollständig. Folglich ist es jetzt nicht eine Frage der Reinigung, sondern der Vergebung. Diese Vergebung muss vorausgehen, ehe sich Kraft vor den Menschen zeigt. Es kann in der Seele keine Kraft geben, bevor die Vergebung gekannt wird. Es mag das Verlangen danach vorhanden sein und ein wirkliches Werk des Heiligen Geistes in der Seele – dennoch gibt es keine Kraft, um vor den Menschen zu wandeln und auf diese Weise Gott zu verherrlichen, bevor man die Vergebung besitzt und sich ihrer im Herzen erfreut. Gerade diese Segnung erweckte vor allem den Hass der Schriftgelehrten. Der Priester in Kapitel 8 konnte nicht leugnen, was mit dem Aussätzigen geschehen war, welcher sich ordnungsgemäß zeigte und sein Opfer nach dem Gesetz zum Altar brachte. Wenn es auch ein Zeugnis für sie war, so war es doch in seinen Folgen eine Anerkennung der Anordnungen Moses. Doch jetzt weckte die Vergebung, die auf der Erde ausgesprochen wurde, den Stolz der religiösen Führer unversöhnlich bis ins innerste Herz. Trotzdem hielt der Herr den unbegrenzten Segen nicht zurück, obwohl Er sehr gut ihre Gedanken kannte. Er sprach das Wort der Vergebung aus, obschon Er in ihren bösen Herzen las, dass sie es „Lästerung“ nannten. In dieser Begebenheit zeigte sich die zunehmende völlige Verwerfung Jesu. Diese Verwerfung wurde zuerst wispernd im Herzen zugelassen. Bald sprach sie sich jedoch aus in Worten wie gezückte Schwerter.
„Und siehe, sie brachten einen Gelähmten zu ihm, der auf einem Bett lag; und als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sei guten Mutes, Kind, deine Sünden werden vergeben“ (V. 2). Jesus beantwortete in gesegneter Weise ihre Gedanken. Wäre doch nur ein Gewissen da gewesen, um das Wort der Gnade und Macht zu hören, welches seine Herrlichkeit nur umso mehr herausstellte! „Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Gewalt hat, auf der Erde Sünden zu vergeben“ (V. 6a). Er nimmt seinen Platz der Verwerfung ein; denn für Ihn ist sie schon jetzt durch ihre innersten Gedanken bekannt, obwohl sie noch nicht offen zutage trat. „Und siehe, einige von den Schriftgelehrten sprachen bei sich selbst: Dieser lästert“ (V. 3). Doch Er ist der Sohn des Menschen, der auf der Erde Gewalt hat, Sünden zu vergeben. Und Er gebraucht diese Autorität. „Damit ihr aber wisst ... Dann sagt er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm dein Bett auf und geh in dein Haus“ (V. 6b). Der Gang des Mannes vor ihnen bezeugte die Wirklichkeit der Vergebung vor Gott. So sollte es bei jeder Seele sein, der vergeben wurde. Seinerzeit rief dieses Werk noch Verwunderung seitens der zuschauenden Volksmenge darüber hervor, dass Gott solche Macht den Menschen gegeben hat. Sie verherrlichten Gott.
Auf dieser Grundlage ging der Herr noch einen Schritt weiter und machte, falls möglich, einen noch heftigeren Angriff auf die jüdischen Vorurteile. Hier wurde Er nicht von einem Aussätzigen, einem Hauptmann oder den Freunden des Gelähmten gesucht. Er selbst berief Matthäus, einen Zöllner – gerade denjenigen, der das Evangelium des verachteten Jesus von Nazareth schreiben sollte. Was für ein passendes Werkzeug! Ein verschmähter Messias wandte sich, als Er von seinem Volk Israel verworfen wurde, nach dem Willen Gottes an die Nationen. Er konnte überall nach „Zöllnern“ und „Sündern“ sehen. So wurde Matthäus von der Zolleinnahme wegberufen. Er folgte Jesus und machte Ihm ein Festmahl. Das gab den Pharisäern Gelegenheit, ihrem Unglauben Luft zu machen. Für sie war nichts so ärgerlich wie Gnade in Lehre oder Praxis. Die Schriftgelehrten am Anfang des Kapitels konnten ihre bittere Ablehnung seiner Herrlichkeit als Mensch auf der Erde nicht vor dem Herrn verbergen. Er war berechtigt, wie es seine Erniedrigung und sein Kreuz erweisen sollten, Sünden zu vergeben. Jetzt zweifelten diese Pharisäer seine Gnade an und tadelten sie, als sie Ihn zwanglos mit Zöllnern und Sündern, die hinzukamen und sich in dem Haus des Matthäus zu Ihm gesellten, sitzen sahen. Sie sagten zu seinen Jüngern: „Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern?“ (V. 11). Der Herr zeigte, dass ein solcher Unglaube gerechter- und notwendigerweise sich selbst, aber nicht andere, vom Segen ausschloss. Er war gekommen zu heilen. Die Gesunden benötigten keinen Arzt. Wie wenig hatten sie die göttliche Lektion von Gnade anstelle von Anordnungen gelernt! „Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer“ (V. 13). Jesus war da, um Sünder, und nicht Gerechte, zu rufen.
Indessen war der Unglaube nicht auf diese Religionisten des Buchstabens und der Form beschränkt; denn als nächstes kam die Frage der Jünger des Johannes: „Warum fasten wir und die Pharisäer oft, deine Jünger aber fasten nicht?“ (V. 14). Überall wird das religiöse Wesen geprüft und mangelhaft erfunden. Der Herr verteidigte die Sache der Jünger. „Können etwa die Gefährten des Bräutigams trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist?“ (V. 15). Das Fasten würde schon nach der Wegnahme des Bräutigams folgen. So stellte Er heraus, wie völlig unpassend, sittlich gesehen, ein Fasten in diesem Moment war. Aber Er gab auch zu verstehen, dass es nicht nur um seine Verwerfung ging, sondern dass auch jede Verknüpfung seiner Lehre und seines Willens mit dem Alten sich als absolut unmöglich erweisen musste. Was Er einführte, konnte nicht mit dem Judentum vermischt werden. Dieser Zwiespalt beruhte also nicht allein auf dem bösen Herzen des Unglaubens, insbesondere in den Juden, sondern auch auf dem Grundsatz, dass Gesetz und Gnade nicht vereinigt werden können. „Niemand aber setzt einen Flicken von neuem Tuch auf ein altes Kleidungsstück; denn das Eingesetzte reißt von dem Kleidungsstück ab, und der Riss wird schlimmer (V. 16). Obendrein handelte es sich nicht ausschließlich um einen Unterschied in der Gestalt, den die Wahrheit jetzt annahm; denn das lebendige Prinzip, welches Christus nun verbreitete, konnte nicht in den alten Formen bewahrt werden. „Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche verderben; sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, und beide bleiben zusammen erhalten“ (V. 17). Sowohl der Geist als auch die äußere Gestalt des Neuen waren fremd.
Obwohl der große Wechsel, den Er einführte und den Er so ausführlich und früh in seinem Werdegang deutlich machte, vor Ihm stand, konnte nichts sein Herz von Israel abwenden. Schon das nächste Ereignis, der Fall des Vorstehers Jairus, zeigt dies. „Meine Tochter ist eben jetzt verschieden; aber komm und lege deine Hand auf sie, und sie wird leben“ (V. 18). Die Einzelheiten – nämlich, dass sie kurz vor dem Tod stand und dass dann vor Erreichen des Hauses die Nachricht kam, dass sie gerade gestorben sei – finden wir nicht hier, sondern anderswo. Zu welchem Zeitpunkt dies auch geschehen sein mag, welche Nebenumstände von anderen Schreibern zusätzlich erwähnt werden – der Bericht hier soll darlegen, dass Er, der Messias, der Geber des Lebens blieb, auch wenn, menschlich gesprochen, alles zu spät und Israels Zustand hoffnungslos bis zum Tod war. Er war da, ein verachteter Mensch. Dennoch hatte Er das Recht, Sünden zu vergeben; und Er bewies es durch die unmittelbare Macht der Heilung. Wenn solche, die darauf vertrauten, dass sie weise und gerecht waren, Ihn ablehnten, dann wollte Er sogar einen Zöllner unter die Geehrtesten seiner Jünger berufen. Er würde es nicht verschmähen, ihre Freude zu sein, wenn sie nach seiner Ehre in der Ausübung seiner Gnade verlangten. Die Traurigkeit mochte bald folgen, wenn Er, der Bräutigam seines Volkes, weggenommen sein würde; dann sollten sie fasten.
Nichtsdestoweniger war sein Ohr offen für den Ruf zugunsten des umkommenden, sterbenden, toten Israels. Er hatte die Jünger auf die neuen Dinge vorbereitet, die sich unmöglich mit den alten vereinigen konnten. Trotzdem finden wir seine Zuneigungen beschäftigt mit der Hilfe für die Hilflosen. Er ging hin, um die Tote aufzuerwecken; und die blutflüssige Frau berührte Ihn auf dem Weg. Unbehindert durch das große Ziel war Er immer für den Glauben da. Die Beschäftigung mit der Frau gehörte nicht zu dem Gang, auf dem Er sich befand; aber Er war für den Glauben da. Seine Speise war, den Willen Gottes zu tun (Joh 4,34). Er befand sich ausdrücklich dazu auf der Erde, um Gott zu verherrlichen. Macht und Liebe waren für jeden gekommen, der Nutzen daraus ziehen wollte. Wenn es eine Rechtfertigung der Beschneidung durch Glauben gab, dann zweifellos auch eine Rechtfertigung der Vorhaut durch deren Glauben (Röm 3,30). Es war egal, wer oder was Ihm in den Weg trat. Wer immer Ihn anrief, für den war Er da. Und Er war Jesus, Emmanuel. Als Er das Haus erreichte, fand Er dort Flötenspieler und eine lärmende Volksmenge als Ausdruck, wenn überhaupt des Jammers, dann doch auf jeden Fall der kraftlosen Verzweiflung. Sie spotteten der ruhigen Äußerung Dessen, der Dinge ins Dasein ruft, die es vorher nicht gab. Der Herr trieb die Ungläubigen hinaus und demonstrierte die herrliche Wahrheit, dass das Mädchen nicht tot war, sondern lebte.
Das ist jedoch nicht alles. Er gibt den Blinden das Gesicht. „Und als Jesus von dort weiterging, folgten ihm zwei Blinde, die schrien und sprachen: Erbarme dich unser, Sohn Davids!“ (V. 27). Dies fehlte noch, um das Bild vollständig zu machen. Dem schlafenden Mädchen aus Zion wurde Leben mitgeteilt. Die Blinden riefen Ihn als Sohn Davids an – und nicht vergebens. Sie bekannten ihren Glauben; und Er berührte ihre Augen. Auch angesichts der Besonderheit der neuen Segnungen konnten die alten weiterhin aufrechterhalten werden – wenn auch auf neuer Grundlage und natürlich aufgrund des Bekenntnisses, dass Jesus Herr ist zur Verherrlichung Gottes, des Vaters (Phil 2,11). Die beiden Blinden riefen Ihn an als Sohn Davids. Das ist ein Muster von dem, was am Ende sein wird, wenn sich das Herz Israels zum Herrn wendet und die Decke weggetan worden ist (2. Kor 3,16). „Euch geschehe nach eurem Glauben“ (V. 29).
Es genügte nicht, dass Israel aus dem Schlaf des Todes aufgeweckt wurde und richtig sah. Neben Augen, die an Ihm hingen, musste auch ein Mund da sein, um den Herrn zu preisen und von dem herrlichen Ruhm seiner Majestät zu sprechen. Deshalb finden wir hier noch eine weitere Szene. Am strahlenden Tag seines Kommens muss Israel ein volles Zeugnis ablegen. Folglich sehen wir jetzt einen Zeugen davon. Dieses Zeugnis ist umso lieblicher, weil die völlige Verwerfung, welche die Herzen der Führer erfüllte, dem Herrn offenbarte, was bevorstand. Doch nichts konnte die Absicht Gottes oder die Aktivität seiner Gnade aufhalten. „Als sie aber weggingen, siehe, da brachten sie einen stummen Menschen zu ihm, der besessen war. Und als der Dämon ausgetrieben war, redete der Stumme. Und die Volksmengen verwunderten sich und sprachen: Niemals wurde so etwas in Israel gesehen“ (V. 32–33). Die Pharisäer waren zornig auf eine Macht, die sie nicht leugnen konnten und die sie wegen ihrer beharrlichen Gnade umso mehr tadelte. Jesus überhörte damals noch alle Lästerung und ging seinen Weg weiter. Nichts hinderte seinen Lauf der Liebe. „Und Jesus zog umher durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium des Reiches und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen“ (V. 35). Der treue und wahrhaftige Zeuge musste jene Macht in Güte entfalten, welche in der zukünftigen Welt völlig herausgestellt wird. An jenem großen Tag wird der Herr sich jedem Auge als Sohn Davids, sowie als Sohn des Menschen, offenbaren.