Betrachtung über Johannes (Synopsis)
Kapitel 20
In diesem Kapitel finden wir in einer gedrängten Mitteilung der Haupttatsachen, die sich nach der Auferstehung Jesu zutrugen, eine Darstellung all der Folgen dieses großen Ereignisses in unmittelbarer Verbindung mit der Gnade, die sie hervorrief, sowie mit der Liebe, die in den Gläubigen gesehen werden sollte, wenn sie von neuem mit dem Herrn in Berührung gebracht sein würden. Zugleich haben wir ein Gemälde vor uns von all den Wegen Gottes bis zur Offenbarung Christi für den Überrest vor dem Tausendjährigen Reiche, welches letztere uns in Joh 21 bildlich vorgestellt wird.
Maria Magdalene, von der der Herr sieben Teufel ausgetrieben hatte, erscheint zuerst auf dem Schauplatze – ein rührender Ausdruck der Wege Gottes! Ich zweifle nicht daran, dass sie uns den jüdischen Überrest jener Tage darstellt, der persönlich an den Herrn gefesselt ist, aber die Macht Seiner Auferstehung nicht kennt. Sie steht hier in ihrer Liebe allein; gerade die Stärke dieser Liebe sondert sie ab. Sie ist nicht die einzige Gerettete; aber sie kommt allein, um den Herrn zu suchen – auf eine verkehrte Weise, wenn man will, aber um Jesum zu suchen, ehe das Zeugnis Seiner Herrlichkeit in einer Welt der Finsternis hervorstrahlt. Sie kommt, weil sie Ihn liebt. Sie kommt vor den anderen Weibern zur Gruft, als es noch finster war. Es ist ein liebendes Herz (wovon wir bereits in den gläubigen Weibern ein Beispiel gesehen haben), ein Herz, das mit Jesu beschäftigt ist, wenn das öffentliche Zeugnis des Mannes noch gänzlich fehlt; und diesem Herzen offenbart Sich Jesus zuerst nach Seiner Auferstehung. Dennoch wusste dieses Herz, wo es ein Echo finden würde. Als Maria den Leib Jesu nicht findet, läuft sie zu Petrus und zu dem anderen Jünger, den Jesus liebte. Diese eilen herbei und finden die Beweise einer geschehenen Auferstehung, und zwar (was Jesum betraf) geschehen mit all der Ruhe, die der Macht Gottes geziemte, wie groß auch der Schrecken gewesen sein mochte, den sie in dem Geiste des Menschen hervorrief. Das Ereignis hatte sich nicht in Eile vollzogen; alles war in Ordnung, und Jesus war nicht mehr im Grabe. Die beiden Jünger wurden jedoch nicht durch dieselbe Anhänglichkeit getrieben, die das Herz derjenigen erfüllte, die eine so mächtige Befreiung 1 von Seiten des Herrn erfahren hatte. Sie sehen, und auf diese sichtbaren Beweise hin glauben sie (V. 8). Es war nicht ein geistliches Verständnis der Gedanken Gottes vermittelst Seines Wortes. sie sahen und glaubten. In dieser also erkannten Tatsache gibt es nichts, was die Jünger miteinander vereinigen, nichts, was die Kirche oder Versammlung bilden könnte. Jesus war nicht mehr da; Er war auferstanden. Die Jünger sind über diesen Punkt befriedigt, und sie kehren nach Hause zurück.
Maria aber, weit mehr durch ihre Liebe als durch ihr Verständnis geleitet, begnügt sich nicht mit der kühlen Anerkennung, dass Jesus wirklich auferstanden war 2. Sie hielt Ihn noch für tot, weil sie Ihn nicht besaß. Sein Tod, der Umstand, dass sie Ihn nicht wieder fand, erhöhte die Innigkeit ihrer Liebe, weil Er Selbst deren Gegenstand war. Alle Zeichen dieser Liebe werden hier in der rührendsten Weise hervorgerufen. Maria setzt voraus, der Gärtner müsse wissen, ohne dass sie es ihm sage, um wen es sich handle (V. 15); denn sie dachte nur an Einen, gerade wie wenn ich mich nach einem geliebten Kranken in einer Familie erkundigen und, ohne ihn zu nennen, fragen würde: „Wie geht es ihm?“ Über die Gruft gebeugt wendet sie sich um, als Jesus naht; dann aber ruft der gute Hirte, der aus den Toten auferstanden ist, Sein Schäflein mit Namen; und die wohlbekannte und geliebte Stimme – mächtig, entsprechend der Gnade, die sie also rief – offenbart Ihn alsbald der Maria. Sie wendet sich zu Ihm und antwortet: „Rabbuni!“, das heißt: „Lehrer“ (V. 16).
Aber wiewohl Christus Sich so dem geliebten Überrest, den Er errettet hatte, offenbart, sind dennoch sowohl die Stellung dieses Überrestes als auch die Beziehungen Christi zu diesem gänzlich verändert. Er stand jetzt nicht im Begriff, leiblich inmitten Seines Volkes auf der Erde zu wohnen; Er kehrte nicht zurück, um das Reich in Israel wieder aufzurichten. „Rühre mich nicht an!“ sagt Er zu Maria. Allein durch die Erlösung hatte Er etwas viel Wichtigeres zuwege gebracht; Er hatte Seine Jünger in dieselbe Stellung zu Seinem Vater und zu Seinem Gott versetzt, in der Er Selbst war; und Er nennt sie – was Er vorher nie getan hatte und nie hätte tun können – „Seine Brüder“. Bis an Seinen Tod blieb das Weizenkorn allein. Als Sohn Gottes, rein und vollkommen, konnte Jesus nicht in dem gleichen Verhältnis zu Gott stehen wie der Sünder; aber in der herrlichen Stellung, die Er als Mensch einzunehmen im Begriff stand, konnte Er Sich durch die Erlösung mit denjenigen verbinden, die Er erkauft hat und die gereinigt, wiedergeboren und in Ihm zu Kindern angenommen sind. Er lässt ihnen durch Maria die neue Stellung verkündigen, die sie gemeinsam mit Ihm haben sollten. Er sagt zu ihr: „Rühre mich nicht an! ... Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott“ (V. 17). Der Wille des Vaters (erfüllt mittels des glorreichen Werkes des Sohnes, der als Mensch, von der Sünde getrennt, bei Seinem Gott und Vater Seinen Platz eingenommen hat) und das Werk des Sohnes, die Quelle des ewigen Lebens für sie, haben die Jünger in die gleiche Stellung gebracht, die Er vor dem Vater einnimmt.
Das Zeugnis, das von dieser Wahrheit abgelegt wird, führt die Jünger zusammen. Sie versammeln sich bei verschlossenen Türen; denn die Fürsorge und Macht Jesu, des Messias, des Jehova auf Erden, beschirmt sie nicht mehr. Doch wenn sie jetzt nicht mehr den Schutz der Gegenwart des Messias besitzen, so haben sie doch Jesum in ihrer Mitte, der ihnen das bringt, was sie vor Seinem Tode nicht besitzen konnten, nämlich den Frieden. Aber Er brachte ihnen diese Segnung nicht bloß als ihr eigenes Teil, sondern nachdem Er ihnen die Beweise Seiner Auferstehung gegeben und ihnen gezeigt hat, dass Er in Seinem Leibe der nämliche Jesus sei, versetzt Er sie in diesen vollkommenen Frieden als den Ausgangspunkt ihrer Sendung. Der Vater, die ewige und unversiegbare Quelle der Liebe, hatte den Sohn gesandt, der in dieser Liebe blieb und der Zeuge derselben war, sowie des Friedens, den Er, der Vater, um Sich her verbreitete, da wo die Sünde nicht existieren konnte. Jesus, verworfen in Seiner Sendung, hatte bezüglich einer Welt, in der die Sünde existierte, für alle diejenigen Frieden gemacht, die das Zeugnis der Gnade, die diesen Frieden bewirkt hat, aufnehmen würden. Und jetzt sendet Er Seine Jünger aus dem Schoße dieses Friedens, in den Er sie vermittels der Vergebung der Sünden durch Seinen Tod eingeführt hat, damit sie in der Welt Zeugnis davon ablegen möchten (V. 21). Er sagt wiederum: „Friede euch!“ um sie, mit diesem Frieden bekleidet und erfüllt und an ihren Füßen mit demselben beschuht, in die Welt zu senden, gleichwie der Vater Ihn gesandt hatte. Zu dem Ende gibt Er ihnen den Heiligen Geist, damit sie, gemäß Seiner Macht, die Vergebung der Sünden einer Welt verkündigen sollten, die unter das Joch der Sünde gebeugt war. Ich zweifle nicht daran, dass, geschichtlich betrachtet, die Mitteilung des Geistes hier von derjenigen in Apg 2 verschieden ist, indem es hier ein Odem des inneren Lebens ist. Gleichwie Gott einen Odem des Lebens in die Nase Adams blies, so teilt Christus, der ein lebendigmachender Geist ist, den Jüngern nach der Macht der Auferstehung 3 geistliches Leben mit. Was die allgemeine bildliche Darstellung dieser Stelle betrifft, so haben wir hier den der Versammlung verliehenen Geist, wie diese ganze Szene die Versammlung in ihren gegenwärtigen Vorrechten repräsentiert. Wir finden hier also zunächst den durch die Liebe an Christum gefesselten Überrest; dann Gläubige, die persönlich als Kinder Gottes anerkannt sind und sich vor Ihm in derselben Stellung befinden wie Christus; dann die Versammlung (gegründet auf dieses Zeugnis) zusammen vereinigt, mit Jesu in ihrer Mitte, im Genusse des Friedens; und endlich deren Glieder, die, persönlich eingefügt, in Verbindung mit dem Frieden, den Christus gemacht hat, Zeugen sind von der Vergebung der Sünden gegenüber der Welt, als solche, denen die Verwaltung dieser Vergebung anvertraut ist. Thomas repräsentiert die Juden in den letzten Tagen, die glauben werden, wenn sie sehen. Glückselig alle, die geglaubt haben ohne zu sehen! (V. 29). Allein der Glaube des Thomas ist nicht mit der Stellung der Sohnschaft verbunden. Er erkennt an, wie es der Überrest tun wird, dass Jesus sein Herr und sein Gott ist. Er war nicht bei den Jüngern gelegentlich ihres ersten Zusammenkommens als Versammlung.
Durch Seine Handlungsweise weiht der Herr hier den ersten Tag der Woche für Sein Zusammenkommen mit den Seinigen im Geiste hienieden. Der Evangelist bleibt weit hinter einer erschöpfenden Mitteilung alles dessen, was Jesus getan hat, zurück. Der Zweck dessen, was er erzählt hat, steht in Verbindung mit der Mitteilung des ewigen Lebens in Christo: 1. Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes, und 2. wenn wir glauben, so haben wir das Leben durch Seinen Namen. Das sind die beiden Punkte, von denen das Evangelium des Johannes handelt.
Fußnoten
- 1 „Sieben Teufel“, dies stellt die völlige Besitznahme jenes armen Weibes durch die unreinen Geister dar, deren Beute sie gewesen war. Es kennzeichnet zugleich den tatsächlichen Zustand des jüdischen Volkes.
- 2 Da ich zur Unterstützung derer, die das Wort zu verstehen suchen, nur die großen Grundsätze und Hauptzüge andeute, so ist es mir nicht möglich, all das Rührende und Interessante dieses 20. Kapitels zu entwickeln, das ich oft und (durch die Gnade) mit stets wachsender Teilnahme erforscht habe. Die Offenbarung des Herrn an das arme Weib, das nicht ohne seinen Heiland sein konnte, ist von ergreifender Schönheit; jede Einzelheit dient nur dazu, diese Schönheit zu erhöhen. Indes gibt es einen Gesichtspunkt, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchte. Das Wort Gottes stellt uns hier vier Seelenzustände vor Augen, die, im Verein miteinander betrachtet, sehr lehrreich sind und sich alle, der eine oder der andere, bei Gläubigen vorfinden: Erstens: Petrus und Johannes, die sehen und glauben, sind wirklich Gläubige; aber sie erblicken in Christo nicht den einzigen Mittelpunkt aller Gedanken Gottes für Seine eigene Herrlichkeit, für die Welt und für die Seelen. Auch ist Er nicht der einzige Mittelpunkt ihrer Liebe, wiewohl sie Gläubige sind. Nachdem sie sich überzeugt haben, dass Er auf erstanden ist, gehen sie heim; Sie werden sozusagen ohne Ihn fertig. Maria dagegen, die dies nicht wusste und sich sogar in einer tadelnswerten Unwissenheit befand, konnte nicht ohne Jesum sein; Ihn musste sie besitzen. Petrus und Johannes kehren nach Hause zurück; dort ist der Mittelpunkt ihres Interesses. Sie glauben zwar, aber das Ich und ihr Haus genügen ihnen. Zweitens: Thomas glaubt zufolge unumstößlicher Beweise und erkennt mit wahrem orthodoxen Glauben an, dass Jesus sein Herr und sein Gott ist. Er glaubt wirklich für sich, aber er besitzt nicht die Mitteilungen über die Wirkung des Werkes des Herrn und über das Verhältnis zu Seinem Vater, in das Jesus die Seinigen, die Versammlung, einführt. Er hat vielleicht Frieden, aber er geht der ganzen Offenbarung über die Stellung der Versammlung verlustig. Wie viele Seelen, ja, selbst gerettete Seelen, befinden sich in diesen beiden Zuständen! Drittens: Maria Magdalena ist äußerst unwissend; sie weiß nicht, dass Christus auferstanden ist. Davon, dass Er Herr und Gott ist, kennt sie so wenig, dass sie meint, jemand habe Seinen Leib weggenommen; aber Christus ist ihr Alles, das Bedürfnis ihrer Seele, der einzige Wunsch ihres Herzens; ohne Ihn hat sie kein Heim, keinen Herrn, mit einem Wort, nichts. Diesem Bedürfnis nun, das das Werk des Heiligen Geistes verrät, antwortet Jesus. Er ruft Sein Schäflein mit Namen, zeigt Sich ihr zu allererst und belehrt sie darüber, dass Seine Gegenwart jetzt nicht eine leibliche Rückkehr auf die Erde nach jüdischen Begriffen bedeute, sondern dass Er auffahren müsse zu Seinem Vater, dass die Jünger jetzt Seine Brüder seien, mit Ihm in dieselbe Stellung Seinem Gott und Vater gegenüber versetzt, mit Ihm als dem auferstandenen, zu Seinem Gott und Vater aufgefahrenen Menschen. Die ganze Herrlichkeit der neuen persönlichen Stellung wird ihr eröffnet. Viertens: Diese Offenbarung ist es, die die Jünger zusammenführt. Jesus bringt ihnen dann den Frieden, den Er gemacht hat, und sie genießen die volle Freude eines gegenwärtigen Heilandes, der ihnen diesen Frieden bringt. Er macht diesen Frieden (den sie kraft Seines Werkes und Seines Sieges besitzen) zu ihrem Ausgangspunkt, sendet sie, wie der Vater Ihn gesandt hatte, und teilt ihnen den Heiligen Geist als den Odem und die Macht des Lebens mit, damit sie fähig seien, diesen Frieden auch anderen zu bringen. Das sind die Mitteilungen hinsichtlich der Wirkung Seines Werkes, wie Er der Maria bezüglich des Verhältnisses zum Vater, das aus diesem Werke hervorging, Mitteilungen gemacht hatte. Das Ganze ist die Antwort auf die Anhänglichkeit der Maria an Christum, oder die Frucht, die dieselbe hervorbrachte. Wenn durch die Gnade Liebe vorhanden ist, so wird sicherlich die Antwort nicht ausbleiben. Das, was der Herr hier offenbart, ist die Wahrheit, die aus dem Werke Christi hervorquillt. Kein anderer Zustand als der, den Christus hier darstellt, ist im Einklang mit dem, was Er getan hat, und mit der Liebe des Vaters; und Christus kann uns durch Sein Werk in keinen anderen Zustand versetzen.
- 3 Vergleiche Römer 4-8. Die Auferstehung war die Macht des Lebens, die sie der Herrschaft der Sünde entriss, die im Tode ihr Ende gefunden hatte, und im Tode Jesu gesühnt worden war. Die Auferstehung stellte sie lebend vor Gott dar, in einem Leben, in dem Jesus (und sie durch Ihn) in Seiner Gegenwart gemäß der Vollkommenheit göttlicher Gerechtigkeit erschien.