Betrachtung über Johannes (Synopsis)
Kapitel 5
In diesem Kapitel steht die lebendig machende Kraft Christi, die Kraft und das Recht, den Toten das Leben zu geben, im Gegensatz zu der Ohnmacht der gesetzlichen Verordnungen. Diese forderten Kraft von Seiten dessen, der Nutzen aus ihnen ziehen wollte. Christus brachte die Kraft mit Sich, die heilen und in der Tat lebendig machen sollte; weiter wird hinzugefügt, dass Ihm auch alles Gericht übergeben sei, so dass die, die das Leben empfangen hätten, nicht ins Gericht kommen würden. Das Ende des Kapitels zählt die Zeugnisse auf, die für Jesum abgelegt worden sind, und stellt dadurch die Strafbarkeit derer ans Licht, die nicht zu Ihm kommen wollten, um das Leben zu haben. Das eine offenbart unumschränkte Gnade, das andere die Verantwortlichkeit, weil das Leben gegenwärtig war. Um dieses Leben zu besitzen, war Seine göttliche Macht notwendig; wer Ihn aber verwarf, wer sich weigerte, zu Ihm zu kommen, um das Leben zu haben, tat dies ungeachtet der bestimmtesten Zeugnisse, die von Ihm abgelegt worden waren. Gehen wir jedoch in die Einzelheiten dieses Kapitels etwas näher ein.
Der arme, seit achtunddreißig Jahren kranke Mann war durch die Natur seiner Krankheit gänzlich gehindert, solche Mittel zu benutzen, die von seiner Seite Kraft erforderten. Dies charakterisiert einerseits die Sünde und andererseits das Gesetz. Einige Überreste des Segens waren noch unter den Juden vorhanden. Die Engel, die Diener jener Haushaltung, wirkten noch unter dem Volke. Jehova ließ Sich nicht unbezeugt. Allein es bedurfte der Kraft, um sich diesen Dienst der Engel nutzbar zu machen. Was nun das Gesetz nicht zu tun vermochte, weil es durch das Fleisch kraftlos war, das hat Gott durch Jesum getan. Der Lahme hatte wohl Verlangen, aber keine Kraft; das Wollen war bei ihm, aber die Kraft zum Vollbringen fehlte. Die Frage des Herrn offenbart dieses. Ein einziges Wort von Christo tut alles. „Stehe auf“, sagt Er, „nimm dein Bett auf und wandle!“ Kraft wird mitgeteilt: der Kranke erhebt sich und geht mit seinem Bett von dannen.
„Es war aber an jenem Tage Sabbat“, – ein wichtiger Umstand, der in dieser interessanten Szene einen hervorragenden Platz einnimmt. Der Sabbat war als Zeichen des Bundes zwischen den Juden und dem Herrn gegeben worden. Allein es hatte sich erwiesen, dass das Gesetz dem Menschen die Ruhe Gottes nicht geben konnte; es bedurfte der Macht eines neuen Lebens, es bedurfte der Gnade, um den Menschen mit Gott in Verbindung zu bringen. Die Heilung dieses armen Mannes war eine Wirkung dieser Gnade und dieser Macht, aber ausgeübt in der Mitte Israels. Der Teich von Bethesda setzte Kraft im Menschen voraus; aber die Tat des Herrn Jesu benutzte dieselbe in Gnade zu Gunsten eines Unglücklichen aus dem Volke Jehovas. Deshalb sagt Er auch zu dem Menschen: „Sündige nicht mehr, damit dir nichts Ärgeres widerfahre“ (V. 14). Es war Jehova, der durch Seine Gnade und Segnung inmitten Seines Volkes wirkte; aber es war in zeitlichen Dingen, den Zeichen Seiner Gunst und Güte, und in Verbindung mit Seiner Regierung in Israel. Dennoch war es göttliche Macht und Gnade.
Als nun aber der Geheilte den Juden sagte, dass Jesus ihn gesund gemacht habe, stehen sie wider Ihn auf unter dem Vorwande, Er habe den Sabbat entheiligt. Die Antwort des Herrn ist ergreifend und voll Belehrung – in der Tat eine ganze Offenbarung. Sie zeigt die Verbindung, die zwischen Ihm (dem Sohne) und Seinem Vater bestand, und die sich jetzt durch Seine Ankunft öffentlich kundtat. Sie erklärt – welche Tiefen der Gnade! – dass weder der Vater, noch Er Selbst ihren Sabbat inmitten des Elends und der traurigen Früchte der Sünde finden konnten. Jehova mochte den Sabbat in Israel als eine Verpflichtung durch das Gesetz auferlegen und ihn zum Zeichen jener kostbaren Wahrheit machen, dass Sein Volk in die Ruhe Gottes eingehen sollte; tatsächlich aber war keine Ruhe in den bestehenden Dingen zu finden, sobald Gott wirklich gekannt war. Doch das war nicht alles: Gott wirkte auch in Gnade. Er hatte in Verbindung mit der Schöpfung, als diese sehr gut war, eine Ruhe (1. Mo 2) angeordnet; allein Sünde, Verderben und Elend sind in diese Schöpfung eingedrungen. Gott, der Heilige und Gerechte, fand in ihr keinen Sabbat mehr, und der Mensch ging nicht wirklich in die Ruhe Gottes ein (vgl. Heb 4). Jetzt musste unter zwei Dingen gewählt werden. Entweder musste Gott in Gerechtigkeit das schuldige Geschlecht vernichten, oder Er musste – und dies ist es, was Er nach Seinen ewigen Ratschlüssen tat – in Gnade zu wirken beginnen gemäß der Erlösung, die der Zustand des Menschen erforderte, und in der sich alle Seine Herrlichkeit entfaltete. Er musste, mit einem Wort, von neuem anfangen, in Liebe zu wirken. Deshalb sagt der Herr: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke“ (V. 17). Gott kann nicht da befriedigt sein, wo die Sünde ist; Er kann nicht ruhen mit Verderben und Elend vor Seinen Augen. Er hat keinen Sabbat, sondern Er wirkt noch in Gnade.
Aus den Worten des Herrn ging indes noch eine andere Wahrheit hervor. Er stellte Sich Seinem Vater gleich. Die Juden aber, eifersüchtig auf ihre Zeremonien (denn das war es, was sie von den anderen Nationen unterschied), sahen nichts von der Herrlichkeit Christi und suchen Ihn zu töten, indem sie Ihn als einen Gotteslästerer behandeln. Das gibt Jesu Gelegenheit, die ganze Wahrheit bezüglich dieses Punktes klarzustellen. Er war nicht wie ein unabhängiges Wesen mit gleichen Rechten wie Gott, ein anderer Gott, der nach eigenem Gutdünken handelte, – was ohnehin unmöglich ist, weil es nicht zwei höchste und allmächtige Wesen geben kann. Der Sohn ist in völliger Einheit mit dem Vater und tut nichts ohne den Vater; aber Er tat alles, was Er den Vater tun sieht. Der Vater Seinerseits tut nichts, was Er nicht in Gemeinschaft mit dem Sohne tut; und es sollten noch größere Beweise hiervon gesehen werden, so dass man sich verwundern würde (V. 20). Dieser letzte Teil der Worte Jesu sowie der ganze Inhalt dieses Evangeliums zeigen, dass Jesus – indem Er in absoluter Weise offenbart, dass Er und der Vater eins sind – dies offenbart und davon redet, als in einer Stellung sich befindend, in der Er von den Menschen gesehen werden konnte. Das, wovon Er redet, ist in Gott; die Stellung, in der Er davon redet, ist eine eingenommene und in gewissem Sinne eine untergeordnete Stellung. Nichtsdestoweniger sieht man allenthalben, dass Er dem Vater gleich und eins mit Ihm ist, wiewohl Er alles von dem Vater empfängt und alles nach den Gedanken des Vaters tut. (Dies zeigt sich in Kap. 17 auf eine sehr bemerkenswerte Weise.) Es ist der Sohn, aber der im Fleische geoffenbarte Sohn, der der Sendung gemäß handelt, mit deren Erfüllung der Vater Ihn betraut hat.
Von zwei Dingen wird in diesem Kapitel gesprochen, die die Herrlichkeit des Sohnes ans Licht stellen (V. 21 u. 22). Er macht lebendig, und Er richtet. Es handelt sich hier nicht um eine Heilung – ein Werk, das im Grunde genommen derselben Quelle entspringt, sondern um die Gabe des Lebens auf eine augenscheinlich göttliche Weise. „Gleichwie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, also macht auch der Sohn lebendig, welche er will“ (V. 21). Der erste Beweis Seiner göttlichen Rechte ist also: Er gibt das Leben, und Er gibt es, wem Er will. Da Er jedoch Mensch geworden ist, so kann Er von den Menschen persönlich verunehrt, verkannt und verachtet werden. Infolgedessen ist Ihm alles Gericht übergeben, indem der Vater Selbst niemanden richtet, auf dass alle, selbst die, welche Ihn verworfen haben, den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren, den sie als Gott anerkennen. Weigern sie sich, dies zu tun, während Er in Gnaden handelt, so werden sie dazu gezwungen werden, wenn Er im Gericht auftritt. Im Leben haben wir durch den Heiligen Geist Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne (und lebendig zu machen oder das Leben zu geben ist sowohl das Werk des Vaters als auch des Sohnes); im Gericht aber werden es die Ungläubigen mit dem Sohne des Menschen, den sie verworfen, zu tun haben. Diese beiden Dinge sind ganz verschieden. Der, den Christus lebendig gemacht hat, wird nicht durch das Gericht gezwungen werden müssen, Ihn zu ehren; Jesus wird nicht den ins Gericht rufen, den Er errettet hat, indem Er ihn lebendig machte.
Wie aber können wir wissen, welcher von diesen beiden Klassen wir angehören? Der Herr gibt, gepriesen sei Sein Name! Antwort auf diese Frage, indem Er sagt: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat (d. h. wer dem Vater glaubt, indem er Christum hört), hat ewiges Leben (so groß ist die lebendig machende Kraft Seines Wortes) und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen“ (V. 24). Welch ein einfaches und bewundernswürdiges Zeugnis 1! Das Gericht wird den Herrn in denen verherrlichen, die Ihn hienieden verachtet haben. Der Besitz des ewigen Lebens ist das Teil derer, die glauben, so dass sie nicht ins Gericht kommen können.
Dann bezeichnet der Herr zwei bestimmte Zeitabschnitte, in denen die Macht ausgeübt werden soll, die der Vater Ihm, als auf die Erde hernieder gekommen, übertragen hat. Die Stunde nahte heran – ja, sie war schon gekommen – in welcher die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören sollten, und die sie gehört hatten, sollten leben. Das ist die Mitteilung des geistlichen Lebens durch Jesum, den Sohn Gottes; es wird dem Menschen, der durch die Sünde tot ist, mitgeteilt, und zwar vermittels des Wortes, das er hören soll; denn der Vater hat dem Sohne, Jesu, der also auf der Erde geoffenbart ist, gegeben, „Leben zu haben in sich selbst“ (vgl. 1. Joh 1,1+2). Auch hat Er Ihm Gewalt gegeben, Gericht zu halten, weil Er des Menschen Sohn ist; denn nach den Ratschlüssen Gottes gehören das Reich und das Gericht Ihm als dem Sohne des Menschen – in jenem Charakter, in dem Er verachtet und verworfen wurde, als Er in Gnade erschien. Diese Stelle zeigt uns auch, dass Jesus, obwohl Er der ewige Sohn und eins mit dem Vater war, stets betrachtet wird als hienieden im Fleische geoffenbart, und mithin als Einer, der alles vom Vater empfing. So haben wir Ihn vorhin am Brunnen von Samaria gesehen: als den Gott, der gab, zugleich aber auch als Den, der das arme Weib bat, Ihm zu trinken zu geben.
Jesus machte also zu jener Zeit Seelen lebendig, und Er tut es noch. Die Menschen sollten sich darüber nicht verwundern; denn ein Werk sollte getan werden, das in den Augen der Menschen noch wunderbarer sein würde; alle, die in den Gräbern waren, sollten hervorkommen (V. 28). Das ist der zweite Zeitabschnitt, von dem der Herr redet. In dem ersten macht Er Seelen lebendig, in dem zweiten erweckt Er Leiber vom Tode. Der eine hat während des Dienstes Jesu und nun schon länger als 1900 Jahre nach Seinem Tode gedauert; der andere ist noch nicht gekommen, aber während seiner Dauer werden zwei Dinge stattfinden: eine Auferstehung derer, die das Gute getan haben (dies wird eine Auferstehung des Lebens sein, in der der Herr Sein Werk des Lebendigmachens vollenden wird), und eine Auferstehung derer, die das Böse getan haben (dies wird eine Auferstehung zu ihrem Gericht sein). Dieses Gericht wird nach den Gedanken Gottes stattfinden und nicht nach einem abgesonderten, persönlichen Willen Christi. Insofern ist es allerdings eine unumschränkte Macht und, im Blick auf das Leben, eine unumschränkte Gnade, als Er lebendig macht, welche Er will. Was dann folgt, ist die Verantwortlichkeit des Menschen hinsichtlich der Erlangung des ewigen Lebens. Es war in Jesu gegenwärtig, und sie wollten nicht zu Ihm kommen, um es zu erhalten.
Weiterhin macht der Herr auf vier Zeugnisse aufmerksam, die von Seiner Herrlichkeit und Seiner Person abgelegt worden sind, und die die Juden ohne Entschuldigung ließen: das Zeugnis des Johannes, dasjenige Seiner eigenen Werke, das Seines Vaters und das der Schriften. Aber obwohl sie vorgaben, die Schriften anzunehmen, weil sie meinten, das ewige Leben in ihnen zu finden, wollten sie doch nicht zu Jesu kommen, um das Leben zu haben. Arme Juden! Der Sohn kam in dem Namen seines Vaters, und sie wollten Ihn nicht aufnehmen; ein anderer wird in seinem eigenen Namen kommen, und den werden sie aufnehmen; denn das entspricht dem Herzen des Menschen mehr. Sie suchten „Ehre von einander“ – wie konnten sie glauben? Lasst es uns stets bedenken: Gott passt Sich niemals dem Hochmut des Menschen an; Er richtet die Wahrheit nicht so ein, dass sie jenem Nahrung gebe. Jesus kannte die Juden. Nicht als ob Er sie bei dem Vater verklagen wollte; das würde Moses tun, auf den sie ihre Hoffnung setzten; denn wenn sie Mose geglaubt hätten, so würden sie auch Christo geglaubt haben. Wenn sie aber den Schriften Moses keinen Glauben schenkten, wie würden sie den Worten eines verachteten Heilandes glauben?
Um es also noch einmal kurz zu wiederholen, der Sohn Gottes gibt das Leben und vollzieht das Gericht; und in diesem Gericht lässt das Zeugnis, das von Seiner Person abgelegt worden ist, den Menschen ohne Entschuldigung auf Grund seiner eigenen Verantwortlichkeit.
Fußnoten
- 1 Beachten wir die Tragweite der Worte des Herrn. Wenn die Menschen nicht deshalb ins Gericht kommen, damit über ihren Zustand entschieden werde, wie der Mensch es darstellen würde, so sind sie als gänzlich „tot in der Sünde“ erwiesen. Die Gnade in Christo beschäftigt sich nicht mit einem ungewissen Zustande, den erst das Gericht entscheiden wird. Sie gibt das Leben und bringt in Sicherheit vor dem Gericht; aber sie beurteilt von vornherein alle Menschen als tot in der Sünde.