Betrachtung über Johannes (Synopsis)
Kapitel 3
Doch da war ein Mensch, und zwar ein Pharisäer, der, mit jener leeren, unwirksamen Überzeugung nicht befriedigt war. Sein Gewissen war getroffen. Er hatte Jesum gesehen und Sein Zeugnis gehört, und dadurch waren in seinem Herzen Bedürfnisse geweckt worden. Freilich war das, was sich in ihm zeigte, nicht die Erkenntnis der Gnade; allein hinsichtlich des Zustandes des Menschen war es eine gänzliche Veränderung. Nikodemus versteht nichts von der Wahrheit; aber er hat gesehen, dass sie in Jesu ist, und er verlangt nach ihr. Zugleich hat er das unwillkürliche Gefühl, dass die Welt gegen ihn sein werde; und deshalb kommt er bei der Nacht. Sobald das Herz mit Gott zu tun hat, fürchtet es die Welt; denn die Welt ist gegen Gott. „Die Freundschaft der Welt ist Feindschaft wider Gott.“ Nikodemus war gleich den anderen überzeugt worden, aber diese hatten keine Bedürfnisse wie er; darin lag der Unterschied. Er sagt demgemäß zu Jesu: „Wir wissen, dass Du ein Lehrer bist, von Gott gekommen“; und die Quelle dieser Überzeugung waren die Wunder. Allein der Herr unterbricht ihn sofort, und zwar infolge des wahren Bedürfnisses, das in dem Herzen des Nikodemus gefühlt wurde. Das Segenswerk sollte nicht durch Belehrung des alten Menschen vollführt werden. Der Mensch musste in der Quelle seiner Natur erneuert werden, anders konnte er das Reich Gottes nicht sehen. Die Dinge Gottes werden geistlich beurteilt und der Mensch ist fleischlich: er hat den Geist nicht. Der Herr geht nicht über das Reich hinaus (das übrigens nicht das Gesetz war), und Nikodemus hätte etwas über dasselbe wissen sollen. Er beginnt aber nicht damit, die Juden zu belehren, gleich einem Propheten unter dem Gesetz. Er stellt das Reich Selbst dar; und um es zu sehen, musste, Seinem Zeugnis zufolge, ein Mensch von neuem geboren werden. Nikodemus sieht nicht weiter als das Fleisch. Der Herr erklärt Sich deshalb deutlicher. Zwei Dinge waren nötig: geboren zu werden aus Wasser und aus dem Geiste. Das Wasser reinigt; und geistlich angewandt, findet diese Reinigung statt in Bezug auf die Neigungen, auf das Herz, das Gewissen, auf die Gedanken und Handlungen usw. Der Mensch lebt; und in praktischer Beziehung ist er moralisch gereinigt mittels der Anwendung des Wortes Gottes durch die Kraft des Geistes. Dieses Wort richtet alles und wirkt in lebendiger Weise neue Gedanken und Neigungen in uns. Das ist das Wasser; zugleich ist es der Tod des Fleisches. Das wahre Wasser, das in christlichem Sinne reinigt, ist aus der Seite eines gestorbenen Christus geflossen. Er kam durch Wasser und Blut in der Macht der Reinigung und der Versöhnung. Er heiligt die Versammlung, indem Er sie reinigt „durch die Waschung mit Wasser durch das Wort“. Er sagt zu den Seinigen: „Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.“ Es ist daher das mächtige Wort Gottes, das – da der Mensch in dem Grundsatz und in der Quelle seines moralischen Wesens von neuem geboren werden muss – alles, was vom Fleische ist, als tot richtet 1. Indes ist die Mitteilung eines neuen Lebens in der Tat vorhanden: „was vom Geiste geboren ist, ist Geist“, nicht Fleisch – es hat seine Natur von dem Geiste. Es ist nicht der Geist; denn das wäre eine Fleischwerdung des Geistes Gottes, sondern dieses neue Leben ist „Geist“. Es hat teil an der Natur dessen, woraus es entspringt. Ohne dieses neue geistliche Leben kann der Mensch nicht in das Reich eingehen. Doch das ist nicht alles. War die neue Geburt für den Juden, der dem Namen nach doch schon ein Kind des Reiches war, eine Notwendigkeit, so war sie auch eine unumschränkte Handlung Gottes und vollzog sich mithin überall da, wo der Geist Gottes in dieser Macht wirkte. „Also ist jeder, der aus dem Geiste geboren ist“ (V. 8). Dies öffnet dem Grundsatze nach den Heiden die Tür.
Dessen ungeachtet hätte Nikodemus als ein Lehrer in Israel dies verstehen sollen. Die Propheten hatten bereits angekündigt, dass Israel diese Veränderung an sich erfahren müsse, wollte es anders die Erfüllung der Verheißungen (siehe Hes 36), die Gott ihm hinsichtlich seiner Segnung im heiligen Lande gegeben hatte, genießen. Doch der Herr redete von diesen Dingen in einer unmittelbaren Weise und in Verbindung mit der Natur und der Herrlichkeit Gottes Selbst. Ein Lehrer in Israel hätte wissen sollen, was das zuverlässige Wort der Prophezeiung enthielt. Der Sohn Gottes verkündigte, was Er wusste und was Er bei Seinem Vater gesehen hatte. Die verunreinigte Natur des Menschen konnte nicht mit Dem in Verbindung sein, der Sich im Himmel offenbarte, woher Jesus kam. Die Herrlichkeit, aus deren Schoß Er kam und die daher als eine von Ihm geschaute der Gegenstand Seines Zeugnisses war – die Herrlichkeit, von der das Reich seinen Ursprung herleitete, konnte nichts Unreines dulden. Man musste von neuem geboren sein, um sie besitzen zu können.
Jesus legte daher Zeugnis ab als Der, welcher von oben kam und wusste, was Gott, Seinem Vater, angemessen war. Der Mensch nahm Sein Zeugnis nicht an. Äußerlich mochte er durch Wunder überführt werden; aber das annehmen, was der Gegenwart Gottes geziemte, war eine andere Sache. Und wenn Nikodemus die Wahrheit in ihrer Verbindung mit dem irdischen Teile des Reiches, wovon selbst die Propheten geredet hatten, nicht anzunehmen vermochte, was würde er, und mit ihm die anderen Juden, getan haben, wenn Jesus von himmlischen Dingen geredet hätte? Und doch konnte niemand auf einem anderen Wege etwas davon lernen. Jesus allein konnte kraft dessen, was Er war, diese Dinge offenbaren – Er, der Sohn des Menschen auf Erden, der zu gleicher Zeit im Himmel existierte, der für die Menschen die Offenbarung der himmlischen Dinge, ja, die Offenbarung Gottes Selbst in dem Menschen war – Er, der als Gott im Himmel und allenthalben war, und der als Sohn des Menschen vor den Augen des Nikodemus und aller stand. Nichtsdestoweniger musste Er gekreuzigt und auf diese Weise erhöht werden von der Welt, in die Er hernieder gestiegen war als die Offenbarung der Liebe Gottes in allen Seinen Wegen und als die Offenbarung Gottes Selbst.
Dies brachte indes eine andere Grundwahrheit ans Licht. Wenn es sich um den Himmel handelte, so war etwas mehr nötig als von neuem geboren zu werden. Die Sünde war da: sie musste hinweg getan werden für diejenigen, die das ewige Leben besitzen sollten. Und wenn Jesus vom Himmel gekommen war, um anderen dieses ewige Leben mitzuteilen, so musste Er, indem Er dieses Werk unternahm, die Sünde hinweg tun – Er musste also zur Sünde gemacht werden, damit die an Gott geschehene Unehre abgewaschen und die Wahrheit Seines Charakters (außer dem es nichts Zuverlässiges, nichts Gutes, nichts Gerechtes gibt) aufrecht erhalten werde. Der Sohn des Menschen musste erhöht werden, so wie die Schlange in der Wüste erhöht worden war, damit der Fluch, unter dem das Volk den Tod fand, hinweg genommen würde. Indem nun der Mensch das göttliche Zeugnis verwarf, erwies er sich, so wie er hienieden war, unfähig, die Segnung von oben zu empfangen. Er musste erlöst, seine Sünde gesühnt und hinweg getan werden; er musste nach seinem wirklichen Zustande und nach dem Charakter Gottes, der sich nicht verleugnen kann, behandelt werden. Jesus hat es in Gnade unternommen, dieses zu tun. Es war notwendig, dass der Sohn des Menschen, durch den Menschen von der Erde verworfen, erhöht wurde und also das Versöhnungswerk vor dem Gott der Gerechtigkeit erfüllte. Mit einem Worte, Christus kommt mit der Kenntnis dessen, was der Himmel und die göttliche Herrlichkeit sind; und damit der Mensch daran teil habe, muss der Sohn des Menschen sterben und den Platz der Versöhnung außerhalb der Erde 2 einnehmen. Beachten wir hier den tiefen und herrlichen Charakter dessen, was Jesus brachte, den Charakter der durch Ihn gemachten Offenbarung.
Das Kreuz und die unbedingte Absonderung zwischen dem Menschen auf der Erde und Gott – das ist der Punkt, wo der Glaube mit Gott zusammentrifft, denn dort finden sich zugleich die Wahrheit seines Zustandes und die Liebe, die demselben begegnet. Wenn man vom Lager her sich dem Heiligtum näherte, so traf man beim Eintritt durch die Tür des Vorhofs zuerst auf den Altar. Er bot sich den Blicken eines jeden dar, der die Außenwelt verließ und eintrat. Christus, von der Erde erhöht, zieht alle Menschen zu Sich. Wenn es aber (infolge des Zustandes der Feindschaft und Schuld des Menschen) notwendig war, dass der Sohn des Menschen von der Erde erhöht wurde, damit jeder an Ihn Glaubende das ewige Leben habe, so gab es noch eine andere Seite dieser herrlichen Tatsache: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ Auf dem Kreuze sieht man moralisch die Notwendigkeit von dem Tode des Sohnes des Menschen, und zugleich die unaussprechliche Gabe des Sohnes Gottes. Diese beiden Wahrheiten vereinigen sich in dem gemeinsamen Zwecke, allen Glaubenden das ewige Leben zu geben. Und wenn es für alle Glaubenden war, so handelte es sich um den Menschen, um Gott und um den Himmel, und es überschritt die den Juden gemachten Verheißungen und die Grenzen der Wege Gottes mit diesem Volke. „Denn Gott hat Seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, auf dass Er die Welt richte, sondern auf dass die Welt durch Ihn errettet werde.“ Indes ist die Errettung durch den Glauben; und wer an das Kommen des Sohnes glaubt, der jetzt alles auf die Probe stellt, wird nicht gerichtet: sein Zustand ist dadurch entschieden. Wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den eingeborenen Sohn Gottes geglaubt hat; er hat seinen Zustand geoffenbart. Und dies ist es, was Gott den Menschen zur Last legt. Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen haben die Finsternis geliebt, weil ihre Werke böse waren. Könnte es eine gerechtere Ursache zur Verdammung geben? Es handelte sich nicht darum, dass sie keine Vergebung finden konnten, sondern darum, dass sie die Finsternis dem Lichte vorzogen, um in der Sünde verharren zu können.
Der Schluss des Kapitels zeigt uns den Gegensatz zwischen der Stellung des Johannes und derjenigen Christi. Beide stehen vor unseren Blicken. Der eine ist der treue Freund des Bräutigams und lebt nur für Ihn; der andere ist der Bräutigam Selbst, dem alles gehört. Der eine war in sich selbst, wie groß auch die von oben empfangene Gabe sein mochte, ein Mensch von der Erde; der andere war vom Himmel und über allen. Ihm gehörte die Braut; der Freund des Bräutigams hörte Seine Stimme und war hoch erfreut. Nichts könnte schöner sein als dieser durch die Gegenwart des Herrn eingegebene Ausdruck des Herzens Johannes' des Täufers. Er war nahe genug bei Jesu, um darüber glücklich zu sein und sich zu freuen, dass Jesus alles war. So ist es immer.
Was das Zeugnis betrifft, so stand dasjenige des Johannes in Verbindung mit irdischen Dingen; zu diesem Zwecke war er gesandt. Er, der vom Himmel hernieder kam, war über allen und zeugte von himmlischen Dingen, von dem, was Er gesehen und gehört hatte. Niemand aber nahm Sein Zeugnis an; denn der Mensch war nicht vom Himmel. Ohne die Gnade glaubt man in Übereinstimmung mit seinen eigenen Gedanken. Wenn aber Jesus als Mensch auf der Erde redete, so redete Er die Worte Gottes; und wer sein Zeugnis annahm, der versiegelte, dass Gott wahrhaftig war; denn der Geist wird nicht nach Maß gegeben. Betrachtet man Jesum als Zeugen, so war Sein Zeugnis dasjenige Gottes Selbst; Seine Worte waren die Worte Gottes. Welch eine köstliche Wahrheit! Überdies war Er der Sohn, und der Vater liebte Ihn und hatte Ihm alles in Seine Hand gegeben. Dies ist ein anderer herrlicher Titel Christi, eine andere Seite Seiner Herrlichkeit. Aber die Folgen davon für den Menschen waren ewig. Es handelte sich nicht um eine allmächtige Hilfe für Pilgrime, noch um die Zuverlässigkeit der Verheißungen, so dass Sein Volk trotz allem auf Ihn vertrauen konnte, sondern es handelte sich um den lebendig machenden, lebengebenden Sohn des Vaters. Darin war alles enthalten. „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen“; er bleibt in seiner Straffälligkeit, und „der Zorn Gottes bleibt auf ihm“.
Alles dieses ist eine Art von Einleitung. Der eigentliche Dienst des Herrn kommt erst nachher; „denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen“ (V. 24). Erst nach diesem Ereignis begann der Herr Sein öffentliches Zeugnis. Unser Kapitel erklärt deutlich den Dienst des Herrn sowie den Charakter, in dem Er kam, ferner eine Stellung, die Herrlichkeit Seiner Person, den Charakter des Zeugnisses, das Er ablegte, und endlich die Stellung des Menschen in Verbindung mit den Dingen, von denen Er redete. Er beginnt mit den Juden und geht von der Wiedergeburt, dem Kreuze und der Liebe Gottes über zu Seinen Rechten als der in diese Welt Gekommene, zu der höchsten Würde Seiner eigenen Person, zu Seinem eigentlich göttlichen Zeugnis und zu Seinem Verhältnis zum Vater, für dessen Liebe Er der Gegenstand war und der alles in Seine Hand gegeben hatte. Für den Menschen beruhte alles auf dem Glauben an Ihn. Indem der Herr das Zeugnis des Propheten vorstellt, tritt Er aus dem Judentum heraus und bringt vom Himmel her das unmittelbare Zeugnis von Gott und von der Herrlichkeit. Johannes macht Ihm Platz, indem er – nicht in einem öffentlichen Zeugnisse an Israel, sondern an seine Jünger – die wahre Herrlichkeit der Person und des Werkes 3 Christi in dieser Welt ans Licht stellt. Die Ausdrücke „Braut und Bräutigam“ haben hier, wie mir scheint, eine ganz allgemeine Bedeutung. Johannes sagt in der Tat, dass Jesus der Christus sei, und dass die irdische Braut Ihm gehöre; allein Er hat dieselbe nie zu Sich genommen; und Johannes redet von den Rechten des Herrn, die sich für uns in einem besseren Lande und in einem anderen Klima verwirklichen werden, als diese Welt uns zu bieten vermag. Es ist, ich wiederhole es, der allgemeine Begriff von Braut und Bräutigam. Indes haben wir den neuen Boden einer neuen Natur betreten; das Kreuz, die Welt und die Liebe Gottes zu ihr sind uns vor Augen gestellt worden.
Fußnoten
- 1 Beachten wir hier, dass die Taufe, anstatt das Zeichen der Gabe des Lebens zu sein, das Zeichen des Todes ist: wir sind auf Seinen Tod getauft. Aus dem Wasser hervorgehend, beginnen wir ein neues Leben in Auferstehung. Alles, was dem natürlichen Menschen angehörte, wird als in Christo gestorben und für immer hinweg getan betrachtet. „Ihr seid gestorben“; und „wer gestorben ist, ist von der Sünde freigesprochen“. Aber wir leben auch und haben ein gutes Gewissen durch die Auferstehung Jesu Christi. In dieser Weise vergleicht Petrus die Taufe mit der Sintflut, durch die hindurch Noah gerettet wurde (dieswqh), die aber die alte Welt zerstörte, die, als sie aus der Flut hervorging, gleichsam ein neues Leben besaß.
- 2 Auf dem Kreuze war Christus; nicht auf der Erde, sondern von ihr erhöht, in schmählicher Weise von den Menschen verworfen, aber dadurch zugleich als ein Opfer auf dem Altar Gottes dargestellt.
- 3 Beachten wir hier, dass der Herr, ohne dass Er irgendwie den Charakter Seines Zeugnisses (V. 11-13) verbirgt, was tatsächlich unmöglich war, von der Notwendigkeit Seines Todes und der Liebe Gottes redet, während Johannes von der Herrlichkeit Seiner Person spricht. Jesus verherrlicht Seinen Vater, indem Er Sich der Notwendigkeit unterwirft, die der Zustand der Menschen Ihm auferlegte, wenn Er diese in ein neues Verhältnis zu Gott bringen wollte. „Gott“, sagt Er, „hat also geliebt.“ Johannes verherrlicht Jesum. Alles ist vollkommen und an seinem Platze. Das Zeugnis des Johannes von Jesu schließt vier Dinge in sich: die Oberhoheit des Herrn, Sein Zeugnis, die Tatsache, dass der Vater, der Ihn liebt, alles in Seine Hand gegeben hat, und endlich das ewige Leben im Gegensatz zu dem Zorn, der das Teil des Ungläubigen ist.