Betrachtung über Matthäus (Synopsis)
Kapitel 23
Dieses Kapitel zeigt klar, inwieweit die Jünger als Juden in Verbindung mit der Nation betrachtet werden, obwohl der Herr die Führer verurteilte, die das Volk irreleiteten und Gott durch ihre Heuchelei verunehrten. Zu der Volksmenge und zu seinen Jüngern redend, sagt Jesus: „Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf Moses' Stuhl gesetzt“; und obwohl ihr Verhalten nur Heuchelei war, hatten sie ihnen, als den Auslegern des Gesetzes, doch in allem zu folgen, was sie in Übereinstimmung mit demselben redeten.
Wichtig ist hier die Stellung der Jünger; sie ist tatsächlich diejenige des Herrn selbst. Sie stehen in Verbindung mit allem, was von Gott ist in der Nation, d. h. mit der Nation als dem anerkannten Volk Gottes, und infolgedessen mit dem Gesetz, als dem, was von Seiten Gottes Autorität besitzt. Zu gleicher Zeit spricht der Herr sein Urteil aus; und auch die Jünger sollten den Wandel der Nation, insoweit dieselbe durch ihre Führer öffentlich dargestellt wurde, im Praktischen beurteilen. Während sie noch einen Teil dieser Nation bildeten, sollten sie sorgfältig den Wandel der Pharisäer und Schriftgelehrten vermeiden. Nachdem der Herr diesen Hirten des Volkes ihre Heuchelei vorgeworfen hat, beschreibt Er die Art und Weise, in welcher sie selbst die Taten ihrer Väter verdammten, indem sie die Gräber der durch dieselben ermordeten Propheten bauten. Sie waren also Kinder derer, welche die Propheten getötet hatten, und Gott wollte auch sie durch die Sendung von Propheten, Weisen und Schriftgelehrten auf die Probe stellen (V. 34); und indem sie diese Gesandten verfolgten und töteten und so sich selbst ihr Urteil sprächen, würden sie das Maß ihrer Gesetzlosigkeit vollmachen, damit alles gerechte Blut, welches vergossen worden war, von dem Blut Abels an bis auf das des Propheten Zacharias, über dieses Geschlecht käme (V. 35 u. 36). In der Tat, ein entsetzliches Gewicht von Schuld, aufgehäuft durch den sündigen Menschen seit dem Beginn der Feindschaft, die er, wenn unter Verantwortlichkeit gestellt, stets wider das Zeugnis Gottes bewiesen hatte und die täglich größer wurde, weil das Gewissen jedes Mal, wenn es sich diesem Zeugnis widersetzte, härter wurde. Die Wahrheit war umso völliger offenbart worden, weil ihre Zeugen für sie gelitten hatten. Diese Zeugen der Wahrheit zu verwerfen und zu verfolgen, war eine Klippe, die vor aller Augen bloßlag, und die das Volk auf seinem Weg hätte vermeiden sollen; allein es beharrte im Bösestun, und jeder Schritt vorwärts, jede ähnliche Tat war der Beweis seiner stetig zunehmenden Verhärtung. Während Gott in Gnaden durch das Zeugnis tätig gewesen war, hatte seine Geduld ihr Tun nicht unbeachtet gelassen; und unter dieser Geduld war alles zu seinem Höhepunkt gekommen. Alles sollte auf das Haupt dieses ruchlosen Geschlechts kommen.
Man beachte hier die Bezeichnung, die den Aposteln und christlichen Propheten beigelegt wird. Sie sind die „Schriftgelehrten, Weisen und Propheten“, die Gott zu den Juden, dieser stets aufrührerischen Nation, gesandt hat. Das lässt uns sehr deutlich den Gesichtspunkt erkennen, unter welchem sie in diesem Kapitel betrachtet werden. Selbst die Apostel sind „Weise und Schriftgelehrte“, die zu den Juden als solchen gesandt wurden.
Doch die Nation – Jerusalem, die geliebte Stadt Gottes – ist schuldig und wird verurteilt. Wie wir gesehen haben, stellt sich Christus seit der Heilung des Blinden bei Jericho als den HERRN, den König Israels, dar. Wie oft hatte Er die Kinder Jerusalems versammeln wollen, aber sie hatten nicht gewollt! (V. 37–39). Deshalb sollte ihr Haus jetzt wüst bleiben, bis sie, von Herzen bekehrt, sich der Ausdrücke des 118. Psalms bedienen und mit Verlangen die Ankunft Dessen begrüßen würden, der da kommt im Namen des Herrn, indem sie auf Befreiung durch seine Hand warten und sie von Ihm erflehen, mit einem Wort, bis sie rufen würden: „Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn!“ Sie sollten Jesum nicht mehr sehen, bis sie, von Herzen gedemütigt, Ihn den Gesegneten nennen würden, den sie erwarteten, und den sie jetzt verwarfen – kurz, bis ihre Herzen zubereitet sein würden. Friede würde seiner Erscheinung folgen, das Verlangen danach ihr vorangehen.
Die drei letzten Verse zeigen uns also deutlich genug die Stellung der Juden oder Jerusalems, als des Mittelpunktes des jüdischen Systems vor Gott. Seit langer Zeit hatte Jesus, Jehova, der Heiland, die Kinder Jerusalems oftmals versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel versammelt; aber sie hatten nicht gewollt. Ihr Haus sollte wüst und verlassen bleiben; jedoch nicht für immer. Nachdem sie die Propheten getötet und die zu ihnen gesandten Boten gesteinigt hatten, kreuzigten sie auch ihren Messias und verwarfen und töteten dann die, die Er zu ihnen sandte, um ihnen sogar noch nach seiner Verwerfung Gnade anzubieten. Sie sollten Ihn daher nicht mehr sehen, bis sie Buße getan hätten, und bis der Wunsch, Ihn zu sehen, in ihren Herzen geweckt wäre, so dass sie bereit sein würden, Ihn zu preisen, ja, dass sie in ihren Herzen Ihn preisen und ihre Bereitwilligkeit dazu bekennen würden. Der Messias, der im Begriff stand, sie zu verlassen, sollte nicht mehr von ihnen gesehen werden, bis die Buße ihre Herzen Dem zugewandt haben würde, den sie jetzt verwarfen. Dann würden sie Ihn sehen. Der im Namen Jehovas kommende Messias wird seinem Volk Israel offenbart werden. Jehova, ihr Heiland, wird erscheinen, und dasselbe Israel, das Ihn verworfen hat, wird Ihn als Solchen sehen; und so wird das Volk wieder eintreten in den Genuss seiner Beziehungen zu Gott.
Das ist das sittliche und prophetische Bild von Israel. Die Jünger (als Juden) werden als ein Teil der Nation betrachtet, wenngleich als ein Überrest, der in geistlicher Beziehung von ihr getrennt ist und Zeugnis ablegt in ihrer Mitte.