Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Kapitel 21

Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Über alles verfügend, was seinem willigen Volk angehörte, hält Jesus dann, dem Zeugnis Sacharjas gemäß, als König und Herr seinen Einzug in Jerusalem. Doch obwohl Er als König einzieht und dadurch gegenüber der vielgeliebten Stadt, die (zu ihrem Verderben) im Begriff stand, Ihn zu verwerfen, das letzte Zeugnis ablegt, kommt Er dennoch als ein sanftmütiger und demütiger König. Die Macht Gottes wirkt auf das Herz der Volksmenge, und sie begrüßt Ihn als König, als Sohn Davids, indem sie sich dabei der Ausdrücke des 118. Psalms 1 bedient, welcher den 1000-jährigen Sabbat besingt, der durch den alsdann vom Volk anerkannten Messias herbeigeführt werden wird. Die Volksmenge breitet ihre Kleider aus, um den Weg ihres sanftmütigen, obwohl herrlichen Königs zu bereiten. Sie schneiden Zweige von den Bäumen, um Zeugnis für Jesum abzulegen; und Er wird im Triumph nach Jerusalem geführt unter dem Ruf des Volkes: „Hosanna (errette jetzt!) dem Sohn Davids! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosanna in der Höhe!“ (V. 9). Wie glücklich wären sie gewesen, wenn ihre Herzen erneuert gewesen wären, um dieses Zeugnis im Geist zu bewahren! Doch Gott bereitete in seiner unumschränkten Macht ihre Herzen zu, um dieses Zeugnis von Ihm abzulegen. Er konnte nicht erlauben. dass sein Sohn verworfen wurde, ohne dasselbe empfangen zu haben.

Und jetzt steht der König im Begriff, alles seiner Beurteilung zu unterwerfen, obwohl Er immer noch seine Stellung der Demut und des Zeugnisses beibehält. Scheinbar kommen die verschiedenen Klassen des Volkes herbei, um Ihn zu richten oder in Verlegenheit zu bringen; in Wirklichkeit aber treten sie alle vor Ihn hin, um eine nach der anderen aus seinen Händen das göttliche Urteil über sich zu empfangen.

Der Vorgang, der sich vor unseren Augen abspielt, ist äußerst eindrucksvoll. Der wahre Richter, der ewige König, zeigt sich zum letzten Mal seinem aufrührerischen Volk mit dem vollständigsten Zeugnis seiner Rechte und seiner Macht, und sie, die gekommen waren, um Ihn zu quälen und zu verurteilen, werden gerade durch ihre Bosheit veranlasst, einer nach dem anderen an Ihm vorüber zu ziehen, um so ihren wahren Zustand an den Tag zu legen und ihr Urteil aus seinem Mund zu vernehmen. Dabei verlässt Er nicht für einen Augenblick (es sei denn bei der Reinigung des Tempels vor Beginn dieses Vorgangs) die Stellung des treuen und wahren Zeugen in aller Sanftmut auf der Erde.

Der Unterschied zwischen den beiden Teilen dieser Geschichte ist bemerkenswert. Der erste zeigt uns den Herrn in seinem Charakter als Messias und HERR. Als Herr befiehlt Er die Eselin zu holen (V. 2. 3); als König zieht Er der Verheißung gemäß in die Stadt ein (V. 4–11). Er reinigt den Tempel mit Machtvollkommenheit (V. 12 u. 13). Den Einwürfen der Priester stellt Er den 8. Psalm (Ps 8) entgegen, der von der Art und Weise redet, wie der HERR einst den Grund zu seiner Verherrlichung legte und sich das Ihm gebührende Lob aus dem Mund der Kinder und Säuglinge zubereitete (V.15 u. 16). Im Tempel heilt Er auch Israel (V 14). In dem zweiten Teil (V.17 u. f.) sehen wir, wie der Herr die Juden verlässt und nicht mehr in der Stadt, die Er nicht länger anerkennen konnte, sondern mit dem Überrest außerhalb derselben übernachtet. Am folgenden Tag zeigt Er in einem bemerkenswerten Bild den Fluch, der die Nation treffen sollte. Israel war der Feigenbaum des HERRN, aber dieser Feigenbaum hinderte das Land; er war mit Blättern bedeckt, hatte aber keine Frucht. Vom Herrn verflucht, verdorrt er sogleich – ein Bild der unglücklichen Nation, des Menschen im Fleisch, der, obwohl er mit allen Vorrechten ausgestattet ist, für den Hausherrn keine Frucht bringt.

Israel besaß in der Tat alle äußeren Formen der Religion. Es eiferte für das Gesetz und die Satzungen, aber es brachte keine Frucht für Gott; und insofern es unter die Verantwortlichkeit des Fruchttragens, d. h. unter den alten Bund gestellt ist, wird es niemals solche bringen. Die Verwerfung Jesu von seiner Seite hat alle Hoffnung abgeschnitten. Gott wird unter dem Neuen Bund in Gnade handeln; allein davon ist hier nicht die Rede. Der Feigenbaum stellt Israel in seinem wirklichen Zustand dar, den Menschen, der von Gott in jeder Beziehung, aber ohne Erfolg, gepflegt worden war. Alles war vorbei. Obgleich das, was hier der Herr über das Versetzen des Berges zu seinen Jüngern sagt, ein wichtiger, allgemeiner Grundsatz ist, zweifle ich doch nicht daran, dass wir auch an das zu denken haben, was Israel mittelst ihres Dienstes widerfahren sollte. Als eine Körperschaft auf Erden, als eine Nation betrachtet, sollte Israel verschwinden und sich inmitten der Heiden verlieren. Die Jünger waren solche, die Gott ihrem Glauben gemäß annahm.

Wir haben gesehen, wie der Herr als ein König, als der HERR, der König Israels, in Jerusalem einzieht und das Gericht über die Nationen ausspricht. Dann folgen die Einzelheiten dieses Gerichts über die verschiedenen Klassen des Volkes. Zuerst kommen die Hohenpriester und Ältesten, die Führer des Volkes hätten sein sollen; sie nahen dem Herrn und stellen seine Machtvollkommenheit in Frage (V. 23 u. f.). Indem sie sich so an Ihn wandten, nahmen sie die Stellung als Häupter der Nation ein und maßten sich an, Richter zu sein, fähig, über die Rechtmäßigkeit irgendwelcher Ansprüche, die erhoben werden konnten, zu entscheiden. Denn weshalb hätten sie sich sonst mit Jesu beschäftigt? Der Herr richtet in seiner unendlichen Weisheit eine Frage an sie, die ihre vermeintliche Fähigkeit auf die Probe stellt, und sie müssen selbst ihre Unfähigkeiten bekennen. Wie also konnten sie Ihn beurteilen 2? Ihnen gegenüber seine Machtvollkommenheit zu begründen, wäre nutzlos gewesen; dazu war es jetzt zu spät. Hätte Er ihnen die wahre Quelle derselben genannt, so würden sie Ihn gesteinigt haben; darum antwortet Er ihnen durch die Frage: „Die Taufe Johannes', woher war sie?“ (V. 25). Konnten sie über die Sendung Johannes' des Täufers nicht entscheiden, warum kümmerten sie sich dann um die Seinige? Sie sind außerstande zu antworten. Johannes als von Gott gesandt anerkennen, hieß Jesum anerkennen; die Sendung leugnen, hieß ihren Einfluss bei dem Volk verlieren. Von Gewissen war gar keine Rede bei ihnen. Sie bekennen ihre Unfähigkeit, und Jesus spricht ihnen daraufhin die Befugnis als Leiter und Glaubenswächter des Volkes ab; sie hatten sich selbst ihr Urteil gefällt. Hierauf stellt ihnen der Herr (von V. 28 bis Mt 22,14) ihr Betragen und die sie betreffenden Wege Gottes klar vor Augen.

Zunächst, obwohl sie vorgaben, den Willen Gottes zu tun, taten sie ihn nicht, während die offenbar Bösen Reue getragen und seinen Willen getan hatten. Obgleich sie das sahen, blieben sie dennoch verhärtet. Weder durch das Zeugnis des Johannes noch durch das Wahrnehmen der Buße bei anderen war ihr natürliches Gewissen berührt worden. Aber nicht nur das, Gott hatte auch nichts als Verkehrtheit und Empörung bei ihnen gefunden, trotzdem Er alle Mittel angewandt hatte, um eine seiner Pflege würdige Frucht aus ihnen zu gewinnen. Die Propheten waren verworfen worden, und die Verwerfung des Sohnes selbst stand bevor; das Erbe des Sohnes wollten sie sich zueignen (V. 38). Sie konnten nicht anders als anerkennen, dass ein solches Verbrechen notwendigerweise das Verderben der bösen Weingärtner zur Folge haben, und dass der Weinberg anderen übergeben werden müsse (V. 41). Nunmehr wendet Jesus das Gleichnis auf sie an, indem Er Psalm 118 anführt, welcher ankündigte, dass der durch die Bauleute verworfene Stein zum Eckstein werden würde; ferner sagt Er ihnen, dass der, der auf diesen Stein falle (was mit der Nation damals geschah), zerschmettert, und dass der, auf den der Stein fallen würde (was in den letzten Tagen das Schicksal der rebellischen Nation sein wird), zermalmt werden würde. Die Hohenpriester und Pharisäer erkannten, dass Er von ihnen redete; aber sie wagten nicht Ihn zu greifen, denn das Volk hielt Ihn für einen Propheten. Das ist die Geschichte Israels, als unter Verantwortlichkeit gestellt, selbst bis zu den letzten Tagen hin. Der HERR suchte Frucht in seinem Weinberg.

Fußnoten

  • 1 Dieser Psalm sagt in besonderer Weise seine zukünftige Aufnahme voraus und wird oft in Verbindung damit angeführt.
  • 2 Dieses Zurückgehen auf das Gewissen des Fragenden ist, wenn dessen Wille böse ist, oft die weiseste Antwort.
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