Betrachtung über Matthäus (Synopsis)
Kapitel 18
In diesem Kapitel werden den Jüngern die Hauptgrundsätze mitgeteilt, die der neuen Ordnung der Dinge angemessen waren.
Werfen wir einen kurzen Blick auf diese lieblichen und köstlichen Unterweisungen des Herrn. Wir können sie von zwei Seiten aus betrachten. Sie offenbaren einerseits die Wege Gottes in Ansehung dessen, was den Platz des Herrn auf Erden einnehmen sollte, als Zeugnis für die Gnade und Wahrheit; und sie beschreiben anderseits den Charakter, der in sich selbst das wahre, abzulegende Zeugnis bildet.
Das 18. Kapitel setzt Christus als verworfen und abwesend voraus, indem die Herrlichkeit des 17. Kapitels noch nicht gekommen ist. Es übergeht das letztere und verbindet sich mit dem 16. Kapitel, ausgenommen insoweit, als die letzten Verse des 17. Kapitels in praktischer Weise bezeugen, dass Christus seinen wahren Rechten so lang entsagt hat, bis Gott sie geltend machen wird. Der Herr redet von den beiden Gegenständen des 16. Kapitels, von dem Reich und von der Kirche.
Dem Reich war der Geist der Abhängigkeit und der Demut, die sanfte Gesinnung eines Kindes angemessen, das seine Rechte nicht geltend zu machen versteht gegenüber einer Welt, die seiner nicht achtet. Sie mussten werden wie die Kindlein. Das war die Gesinnung, die den Nachfolgern Jesu während der Abwesenheit ihres verworfenen Herrn geziemte (V. 1–4). Wer irgendein Kindlein im Namen Jesu aufnahm, nahm Ihn selbst auf; und anderseits: Wer irgend auf den Weg eines dieser Kleinen, die an Jesum glaubten 1, einen Stein des Anstoßes legte, sollte mit dem schrecklichsten Gericht heimgesucht werden (V. 5+6). Ach, die Welt legt solche Steine vor die Kleinen; aber wehe der Welt dieser Ärgernisse wegen! Was die Jünger betraf, so sollten sie, wenn das Teuerste, das sie besaßen, zu einem Fallstrick für sie werden würde, dieses abhauen und ausreißen; sie sollten die größte Sorgfalt in Gnade anwenden, um nicht für einen Kleinen, der an Christus glaubte, zu einem Fallstrick zu werden, sowie gegen sich selbst die unnachgiebigste Strenge gebrauchen im Blick auf alles, was sich für sie selbst als ein Fallstrick erweisen konnte. Der Verlust des Kostbarsten hienieden war nichts im Vergleich mit ihrer ewigen Stellung in einer anderen Welt; denn darum handelte es sich jetzt, und die Sünde konnte keinen Platz im Haus Gottes haben. Sorge für andere, selbst für die Schwächsten, und Strenge gegen sich selbst war die Richtschnur für das Reich, damit kein Fallstrick noch irgendetwas Böses vorhanden sein möchte. Gegenüber einer Beleidigung sollte völlige Gnade und Vergebung geübt werden.
Auch sollten jene Kleinen nicht verachtet werden; denn sie, die sich ihren Weg in dieser Welt nicht selbst zu bahnen wissen, sind Gegenstände der besonderen Gunst des Vaters, gleich jenen, die an irdischen Höfen das besondere Vorrecht hatten, das Angesicht des Königs zu schauen (V. 10). Nicht als ob keine Sünde in den Kleinen wäre; doch sie sollten wissen, dass der Vater jene nicht verachtete, die fern von Ihm waren. Der Sohn des Menschen war gekommen, das Verlorene zu erretten 2; und es war nicht der Wille des Vaters, dass eines dieser Kleinen verloren ging (V. 11–14). Der Herr redet hier, wie ich nicht bezweifle, von kleinen Kindern, denen gleich, die Er so oft in seine Arme nahm; aber Er prägt seinen Jüngern einerseits die Notwendigkeit eines Geistes der Demut und der Abhängigkeit ein, und stellt ihnen anderseits die Gesinnung des Vaters vor, die sie nachzuahmen hatten, um wahrhaft Kinder des Reiches zu sein. Er belehrt sie, nicht nach der Gesinnung des Menschen zu wandeln, der stets seinen Platz zu behaupten und seine Wichtigkeit geltend zu machen sucht, sondern vielmehr Spott und Verachtung willig zu erdulden, sich selbst zu erniedrigen und zu gleicher Zeit (und das ist wahre Herrlichkeit) dem Vater nachzuahmen, der an die Niedrigen denkt und sie in seine Gegenwart nahen lässt. Der Sohn des Menschen war um der Unwürdigen willen gekommen. Das ist der Geist der Gnade, von der am Ende des 5. Kapitels die Rede ist; es ist der Geist des Reiches.
In besonderer Weise aber sollte die Versammlung den Platz Christi auf Erden einnehmen. Was persönliche Beleidigungen betraf, so geziemte seinen Jüngern auch der eben beschriebene Geist der Sanftmut; sie sollten ihre Brüder dadurch gewinnen (V 15). Wenn der Mann, der wider seinen Bruder gesündigt hatte, auf diesen hörte, so sollte die Sache in dem Herzen des Beleidigten begraben bleiben; wenn er nicht hörte, so sollte der Beleidigte zwei oder drei mit sich nehmen, um das Gewissen des anderen zu erreichen oder um als Zeugen zu dienen; blieben aber diese verordneten Mittel erfolglos, so musste die Sache vor die Versammlung gebracht werden, und falls auch das keine Unterwerfung herbeiführte, so sollte der, der das Unrecht begangen hatte, für ihn sein, was ein Fremder, ein Heide und ein Zöllner für Israel war. Es handelt sich hier nicht um die öffentliche Zucht seitens der Versammlung, sondern um die Gesinnung, in der Christen wandeln sollten. Beugte sich der Beleidiger, wenn mit ihm gesprochen wurde, so sollte ihm sogar siebenzigmal siebenmal an einem Tag vergeben werden. Allein wenn auch nicht von der kirchlichen Zucht die Rede ist, so sehen wir doch, dass die Versammlung auf der Erde an die Stelle Israels trat; das „drinnen“ und „draußen“ bezog sich fortan auf sie. Im Himmel würde das, was die Versammlung auf Erden band, bestätigt werden, und auch der Vater würde die Bitte von Zweien oder dreien, die in ihrem Verlangen einstimmig sein würden, gewähren; denn Christus würde in der Mitte sein, wo zwei oder drei in seinem Namen (oder zu seinen Namen hin) versammelt wären 3. Sowohl hinsichtlich der zu fassenden Beschlüsse als auch der Bitten waren sie also Christus auf der Erde gleichgestellt; denn Christus selbst war unter ihnen. Welch eine ernste Wahrheit! Eine unendliche Gunst ist zweien oder dreien gewährt, wenn sie wirklich in seinem Namen versammelt sind. Aber gerade das wird auch ein Anlass zu tiefster Trauer, wenn diese Einheit wohl vorgegeben, aber nicht verwirklicht wird 4.
Ein anderer Zug des dem Reich eigentümlichen Charakters ist die vergebende Gnade, die in Gott und in Christus offenbart worden ist. Auch darin sollen die Kinder des Reiches Nachahmer Gottes sein, sie sollen stets vergeben. Selbstredend handelt es sich hier um Unrechte, die uns persönlich zugefügt werden, nicht um öffentliche Zucht. Es geziemt uns, bis ans Ende hin zu vergeben oder vielmehr ohne Ende, gleichwie Gott uns alles vergeben hat. Ich glaube indes, dass uns hier zugleich die Wege Gottes mit Israel beschrieben werden. Die Juden hatten nicht nur das Gesetz übertreten, sie töteten schließlich auch den Sohn Gottes. Christus legte für sie Fürsprache ein mit den Worten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34); und als Antwort auf diese Bitte wurde durch den Heiligen Geist, durch den Mund des Petrus, eine einstweilige Vergebung gepredigt. Aber auch diese Gnade ist verworfen worden, und als es sich um die Begnadigung der armen Heiden handelte, die den Juden ohne Zweifel die 100 Denare schuldeten, wollten diese nichts davon hören; und daher sind sie den Peinigern überliefert worden, bis der Herr sagen kann: „Sie haben Zwiefältiges empfangen für alle ihre Sünden“ (Jes 40,2) 5.
Mit einem Wort, der Geist des Reiches ist nicht äußere Macht, sondern Demut. Aber in dieser Stellung der Niedrigkeit ist man dem Vater nahe, und dann ist es leicht, in dieser Welt sanftmütig und demütig zu sein. Jemand, der die Gunst Gottes geschmeckt hat, trachtet nicht nach Größe auf der Erde. Er ist von dem Geist der Gnade durchdrungen: – er liebt die Kleinen; er vergibt denen, die ihm unrecht getan haben; er ist in der Nähe Gottes und Ihm ähnlich in seinen Wegen. Derselbe Geist der Gnade herrscht sowohl in der Versammlung als auch in ihren Gliedern. Die Versammlung allein stellt Christus auf der Erde dar; und auf sie beziehen sich jene Vorschriften, die auf die Annehmlichkeit eines Volkes als Gott angehörend gegründet sind. Zwei oder drei, die wirklich in dem Namen Jesu versammelt sind, handeln mit seiner Autorität und genießen seine Vorrechte bei dem Vater; denn Jesus selbst ist in ihrer Mitte.
Fußnoten
- 1 Hier unterscheidet der Herr einen „Kleinen, der glaubt“, während Er in den anderen Versen von einem kleinen Kind redet, indem Er dessen Charakter als Muster des christlichen Charakters in dieser Welt hinstellt.
- 2 Als Lehre ist hier der sündhafte Zustand des Kindes und sein Bedürfnis für das Opfer Christi klar ausgedrückt. Der Herr sagt in Bezug auf die Kinder nicht: „zu suchen“ Die Einführung des Gleichnisses von dem verlorenen Schaf an dieser Stelle ist auffallend und charakteristisch.
- 3 Es ist wichtig, sich hier daran zu erinnern, dass - obwohl in Matthäus der Heilige Geist persönlich vollkommen anerkannt wird, wie in der Geburt des Herrn als handelnd und in Mt 10 als redend in den Jüngern bei ihrem Dienst, ferner als eine göttliche Person und als die alleinige Kraft, durch die wir richtig zu handeln vermögen - dass doch das Kommen des Heiligen Geistes, nach der göttlichen Ordnung der Verwaltung der Zeiten, keinen Teil der Lehre dieses Evangeliums bildet, obwohl es als Tatsache in Kap. 10 anerkannt wird. Die Darstellung, die von Christus in Matthäus gegeben wird, schließt mit seiner Auferstehung ab, und seine Jüngerschar wird als eine angenommene Körperschaft von Galiläa aus in die Welt gesandt, um den Heiden das Evangelium zu verkündigen, und der Herr erklärt, dass Er bei ihnen sein werde bis zur Vollendung des Zeitalters. So ist Er hier in der Mitte von zweien oder dreien, die zu seinem Namen hin versammelt sind. Die Kirche ist hier nicht der Leib, wie er durch die Taufe mit dem Heiligen Geist gebildet ist; es ist auch nicht das Haus, in welchem der Heilige Geist auf Erden wohnt; sondern wo zwei oder drei zu seinem Namen hin sich versammeln, da ist Christus. Ich zweifle natürlich nicht daran, dass alles Gute, vom Leben und dem Wort des Lebens an, von dem Heiligen Geist kommt, aber das ist etwas anderes; hier ist die Versammlung weder der Leib noch das Haus, als gebildet durch das Herniederkommen des Heiligen Geistes. Diese Lehre, diese Offenbarung sollte später mitgeteilt werden und bleibt stets in gesegneter Weise wahr; aber hier handelt es sich darum, dass Christus in der Mitte derer ist, die zu seinem Namen hin versammelt sind. Selbst in Mt 16 ist Er es, der baut; aber das ist eine andere Sache. - Selbstredend ist Er geistlicherweise gegenwärtig.
- 4 Es ist sehr auffallend, hier zu sehen, dass die einzige Nachfolge in dem Dienst oder Amt des Bindens und Lösens, das der Himmel bestätigt, sich bei den Zweien oder dreien findet, die in dem Namen Christi versammelt sind.
- 5 Dieses Überliefern und der ausdrückliche Hinweis auf den jetzigen himmlischen Platz, der mit dem Sohn des Menschen in der Herrlichkeit in Verbindung steht, finden wir in Apg 7, wo Stephanus die Geschichte der Juden von Abraham, dem zuerst als Wurzel der Verheißung Berufenen, bis zu jenem Tag hin erzählt.