Betrachtung über Matthäus (Synopsis)
Kapitel 14
Hier nimmt unser Evangelium den geschichtlichen Lauf seiner Offenbarungen wieder auf, aber in einer Weise, die den Geist zeigt, von dem das jüdische Volk beseelt war. Herodes, der seine irdische Macht und seine Herrlichkeit mehr liebte als die Unterwerfung unter das Zeugnis Gottes, und der (obgleich er, wie es scheint, die Kraft der Wahrheit in vielen Dingen erkannte) mehr durch einen falschen Ehrbegriff als durch sein Gewissen beherrscht wurde, hatte den Vorläufer des Messias, Johannes den Täufer, enthaupten lassen, nachdem er ihn zuvor schon wegen des treuen Verweises betreffs seiner Sünde mit der Herodias ins Gefängnis geworfen hatte.
Jesus empfindet tief die Tragweite dieser Tat, die Ihm berichtet wird. Da Er mit Johannes, wie hoch Er persönlich auch über ihm stand, in gemeinsamem demütigem Dienst das Zeugnis Gottes in der Gemeinde Israels erfüllte, fühlte Er sich mit ihm im Herzen und auch in seinem Werk verbunden; denn Treue inmitten all des Bösen bindet die Herzen sehr eng zusammen, und Jesus war herabgekommen, um einen Platz einzunehmen, an dem es sich um Treue handelte (siehe Ps 40,9+10). Als Er daher den Tod des Johannes vernahm, zog Er sich an einen öden Ort zurück. Indem Er sich aber von der Volksmenge entfernt, die das Zeugnis Gottes öffentlich zu verwerfen beginnt, hört Er nicht auf, ihren Bedürfnissen entgegenzukommen und dadurch Zeugnis abzulegen, dass Der, welcher alle ihre Bedürfnisse in göttlicher Weise zu befriedigen vermochte, unter ihnen gegenwärtig war. Denn die Menge, die diese Bedürfnisse fühlte und die Macht Jesu, wenn auch ohne Glauben, bewunderte, folgt Ihm in die Wüste; und von Mitleid bewegt, heilt Jesus alle ihre Kranken. Am Abend bitten Ihn seine Jünger, die Menge zu entlassen, damit sie sich nach Speise umsehe. Er aber lehnt das ab und legt dann ein bemerkenswertes Zeugnis ab, dass in seiner Person Der gegenwärtig war, der die Armen seines Volkes mit Brot sättigen sollte (Ps 132). Der HERR, Herr, der den Thron Davids aufgerichtet hatte, war gegenwärtig in der Person des Erben jenes Thrones (V. 13 – 21). – Ich zweifle nicht daran, dass wir durch die „zwölf“ mit Brocken gefüllten Körbe, von denen hier die Rede ist, an die Zahl erinnert werden, die in der Heiligen Schrift immer die Vollkommenheit der verwaltenden Macht im Menschen bezeichnet.
Beachten wir auch, dass der Herr hier bei seinen zwölf Jüngern die Fähigkeit erwartet, als Werkzeuge zur Ausübung seiner Segens- und Machttaten zu dienen, indem sie seiner eigenen Macht gemäß die Segnungen des Reiches spenden. „Gebet Ihr ihnen zu essen“, sagt Er. Es handelt sich hier um die Segnung des Reiches des Herrn Und um die zwölf Jünger Jesu, als Verwalter derselben; aber wir begegnen zugleich einem höchst wichtigen Grundsatz hinsichtlich des Ergebnisses des Glaubens bei jeder Dazwischenkunft Gottes in Gnade. Der Glaube sollte fähig sein, die Macht zu benutzen, die in einer solchen Dazwischenkunft wirksam ist, um so die Werke hervorzubringen, die jener Macht eigen sind, entsprechend der jeweiligen Zeitverwaltung und dem Verständnis, das der Glaube von derselben hat. Wir werden diesen Grundsatz anderswo völliger entwickelt wieder finden. Die Jünger wollten die Menge entlassen, weil sie nicht wussten, wie sie die Macht Christi benutzen sollten. Sie hätten Imstande sein sollen, sich ihrer zugunsten Israels zu bedienen, gemäß der Herrlichkeit Dessen, der unter ihnen war.
Wenn der Herr jetzt in vollkommener Geduld durch seine Taten zeigt, dass Er, der Israel also zu segnen vermochte, inmitten seines Volkes war, so legt Er nichtsdestoweniger Zeugnis ab von seiner Absonderung von diesem Volk infolge seines Unglaubens. Er lässt seine Jünger in ein Schiff steigen und ohne Ihn an das jenseitige Ufer fahren. Dann entlässt Er die Volksmenge und steigt auf den Berg, um allein zu sein und zu beten, während das Schiff, in dem die Jünger sich befinden, von einem ungestümen Wind auf den Wogen des Sees hin – und hergeworfen wird: ein lebendiges Bild von dem, was sich seither zugetragen hat. Gott hat in der Tat sein Volk ausgesandt, um das sturmbewegte Meer dieser Welt allein zu durchkreuzen, wo es einem Widerstand begegnet, gegen den schwer anzukämpfen ist. Unterdessen betet Jesus droben allein. Er hat das jüdische Volk entlassen, das Ihn während der Zeit seiner Anwesenheit hienieden umgeben hatte.
Außer ihrem allgemeinen Charakter stellt diese Fahrt der Jünger besonders den jüdischen Überrest vor unsere Augen. Indem Petrus aus dem Schiff steigt, geht er persönlich im Vorbild über die Stellung des Überrestes hinaus. Er stellt den Glauben dar, der die irdische Bequemlichkeit des Schiffes verlässt und Jesu, der sich ihm offenbart hat, entgegengeht. Petrus wandelt auf dem Gewässer: ein kühnes Unternehmen, das aber gestützt ist auf das Wort Jesu: „Komm!“ Bemerken wir jedoch, dass dieses Wandeln auf dem Gewässer keine andere Grundlage hat als: „Herr, wenn du es bist...“, d. h. Jesus selbst. Da ist keine Stütze, keine Möglichkeit wandeln zu können, wenn Christus aus dem Auge verloren wird; von Ihm hängt alles ab. Ein Schiff ist ein bekanntes Mittel, um über ein Wasser zu kommen; aber auf dem Wasser wandeln kann nur der Glaube, der auf Jesum schaut. Der Mensch, einfach als Mensch betrachtet, sinkt unter, sobald er das Wasser betritt. Der Glaube allein, der die in Jesus wohnende Kraft aus Ihm schöpft und der deshalb Ihm nachahmt, kann sich über dem Gewässer erhalten. Es ist lieblich, Jesus nachzuahmen: man ist Ihm dann näher, man ist Ihm ähnlicher. Petrus auf dem Gewässer ist ein Bild der wahren Stellung der Kirche, im Gegensatz zu dem Überrest in seinem gewöhnlichen Charakter. Jesus wandelt auf dem Wasser wie auf festem Boden; Er, der die Elemente so geschaffen hat, wie sie sind, kann wohl auch nach seinem Wohlgefallen über ihre Eigenschaften verfügen. Er erlaubt Stürme, um unseren Glauben zu erproben. Er wandelt auf den stürmischen Wogen geradeso gut wie auf den ruhigen. Der Sturm macht eigentlich keinen Unterschied; wer im Wasser sinkt, sinkt bei der Windstille wie im Sturm, und wer auf dem Gewässer wandeln kann, wird dies im Sturm wie bei Windstille vermögen, d. h. so lange, bis er auf die Umstände blickt und so des Glaubens ermangelt und den Herrn vergisst. Denn oft lassen uns die Umstände Jesum da vergessen, wo der Glaube uns befähigen sollte, über den Umständen erhaben zu sein, indem wir durch Glauben an Den wandeln, Der über ihnen allen steht.
Doch Gott sei Dank! Er, Der in seiner eigenen Machtvollkommenheit auf dem Gewässer wandelt, ist gegenwärtig, um den Glauben und den wankenden Schritt seines armen Jüngers zu stützen. In jedem Fall hatte dieser Glaube den Petrus so nahe zu Jesus geführt, dass dieser seine Hand ausstrecken und ihn aufrecht halten konnte. Der Fehler des Petrus war der, dass er auf die Wellen und auf den Sturm sah (die doch schließlich mit seinem Wandeln nichts zu schaffen hatten), anstatt auf Jesum zu blicken, Der unverändert blieb und auf denselben Wellen wandelte; das hätte der Glaube des Petrus beachten sollen. Doch sein Notschrei tut das, was sein Glaube hätte tun sollen: er setzt die Macht des Herrn in Tätigkeit. Nur diente das jetzt zu seiner Beschämung; er hätte stattdessen die Gemeinschaft des Herrn genießen und wandeln sollen, wie Er wandelte.
Sobald Jesus in das Schiff gestiegen war, legte sich der Wind. Gerade so wird es sein, wenn Er zu dem Überrest seines Volkes in dieser Welt zurückkehrt. Dann wird Er auch als Sohn Gottes angebetet werden von all denen, die im Schiff sind, samt dem Überrest Israels. In Genezareth übt Jesus abermals die Macht aus, die am Ende der Tage alles Böse, das Satan auf diese Erde gebracht hat, von ihr vertilgen wird. Denn wenn Er zurückkehrt, wird die Welt Ihn anerkennen. Wir haben hier ein schönes Gemälde von dem Ergebnis der Verwerfung Jesu, womit uns unser Evangelium schon bekannt gemacht hat, als vorgehend inmitten des jüdischen Volkes.