Betrachtung über Matthäus (Synopsis)
Kapitel 9
In diesem Kapitel handelt der Herr in dem Charakter und der Macht des HERRN nach den Worten von Psalm 103: „Der da vergibt alle deine Ungerechtigkeit, der da heilt alle deine Krankheiten.“ Die an Israel und für sie tätige Gnade, in der Er kam, ist es, die hier an und für sich dargestellt wird. Offenbarte das vorhergehende Kapitel die Würde seiner Person das, was Er war, so macht uns dieses mit dem Charaktr seines Dienstes bekannt. Er stellt sich Israel vor als sein wahrer Erlöser und Befreier. Zur Erweisung seines Rechts (dem der Unglaube sich schon widersetzte), diese Segnung für Israel zu sein und ihm alle seine Ungerechtigkeiten zu vergeben, die eine Scheidewand zwischen Israel und seinem Gott bildeten, erfüllt Er den zweiten Teil des aus Psalm 103 angeführten Verses und „heilt die Krankheiten“. Schönes und köstliches Zeugnis von der Güte gegen Israel, und zugleich ein Beweis der Herrlichkeit Dessen, der sich in der Mitte seines Volkes befand! In demselben Geist, in dem der Herr vergeben und geheilt hatte, ruft Er den Zöllner und kehrt in dessen Haus ein; denn Er war nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
Wir kommen jetzt zu einem anderen Teil der Belehrung in diesem Evangelium, nämlich zu der Entwicklung des Widerstandes der Ungläubigen, besonders der gelehrten und der religiösen Menschen, sowie der Verwerfung des Werkes und der Person des Herrn.
Die Idee, die bildliche Darstellung dessen, was sich ereignete, ist uns bereits in der Geschichte des besessenen Gergeseners vor Augen gestellt worden: die Macht Gottes, gegenwärtig, um sein Volk und die Welt (wenn man Ihn aufgenommen hätte) gänzlich zu befreien, wurde von den Dämonen als diejenige anerkannt, die sie später richten und austreiben würde, und während sie allen Bewohnern jener Gegend sich in Segnung offenbarte, wurde sie von ihnen verworfen, weil sie nicht wünschten, dass eine solche Macht unter ihnen wohne; sie wollten nicht die Gegenwart Gottes.
Mit dem 9. Kapitel beginnt nun die Mitteilung der Einzelheiten und des Charakters dieser Verwerfung.
Beachten wir, dass Mt 8,1–27 die Offenbarung der Macht des Herrn schildert als der wirklichen Macht des HERRN auf Erden; und dass uns von Vers 28 an die Aufnahme, die diese Macht in der Welt fand, sowie der Einfluss gezeigt wird, der diese Welt beherrschte, sei es als Macht, sei es innerlich in den Herzen der Menschen.
Wir kommen also in Matthäus 9 zu der geschichtlichen Entwicklung der Verwerfung dieser Dazwischenkunft Gottes auf Erden. Die Menge, die die Wirkung der Worte Jesu auf den Gichtbrüchigen sieht, verherrlicht Gott, der solche Macht einem Menschen gegeben hatte. Jesus nimmt diesen Platz an. Er war Mensch; die Menge sah Ihn als solchen und erkannte die Macht Gottes an, ohne jedoch diese beiden Begriffe in der Person Jesu vereinigen zu können.
Die Gnade, die die Ansprüche des Menschen auf Gerechtigkeit verachtet, wird jetzt ans Licht gestellt: Matthäus, der Zöllner, wird berufen; denn Gott sieht das Herz an, und die Gnade beruft die auserwählten Gefäße. Der Herr kündigt die Gedanken Gottes in dieser Hinsicht sowie seine eigene Sendung an (V. 13). Er ist gekommen, Sünder zu rufen; Er wollte Barmherzigkeit. Es war Gott in Gnade, und nicht der Mensch mit seiner vermeintlichen Gerechtigkeit, der sich auf seine Verdienste stützt.
Dann bezeichnet der Herr zwei Gründe, die es unmöglich machten, Seinen Weg mit den Forderungen der Pharisäer in Übereinstimmung zu bringen. Wie konnten die Jünger fasten, während der Bräutigam da war? Wenn der Messias weggegangen war, dann mochten sie es tun. Auch war es unmöglich, die neuen Grundsätze und die neue Kraft seiner Sendung in die alten pharisäischen Formen einzuführen.
So zeigt sich uns die Gnade den Sündern gegenüber; aber da die Gnade verworfen wird, kommt jetzt sofort ein höherer Beweis davon, dass der Messias, der HERR, da war, und zwar in Gnade. Gebeten, ein junges Mädchen von ihrem Totenbett wieder aufzurichten, folgt Jesus der Aufforderung; und auf diesem Weg wird eine arme Frau, das bereits alle Heilmittel erfolglos angewandt hatte, durch das gläubige Berühren des Saumes seines Kleides augenblicklich geheilt.
Diese Geschichte zeigt uns die beiden Gesichtspunkte, unter denen die in Jesu offenbarte Gnade erschienen war. Christus kam, um das tote Israel aufzuerwecken: Er wird das später in der vollen Bedeutung des Wortes tun. Wer inzwischen aus der Mitte der Ihn begleitenden Menge Christus im Glauben anrührte, wurde geheilt, mochte der Fall auch noch so hoffnungslos sein. Was in Israel damals geschah, als Jesus gegenwärtig war, ist dem Grundsatz nach auch für uns wahr. Die Gnade in Jesu ist eine Macht, die von den Toten auferweckt und die heilt. So öffnete Er die Augen derer in Israel, die Ihn als den Sohn Davids anerkannten und die an seine Macht, ihren Bedürfnissen begegnen zu können, glaubten. Er trieb Dämonen aus und gab Stummen die Sprache wieder (V. 27 u. f.).
Doch als Jesus diese Wunderwerke in Israel vollbracht hatte, so dass das Volk Ihn deswegen mit Bewunderung anerkannte, schrieben die Pharisäer, der religiöseste Teil der Nation, diese Macht dem Obersten der Dämonen zu. Das war die Wirkung der Gegenwart des Herrn auf die Leiter des Volkes, die eifersüchtig waren auf die also offenbarte Herrlichkeit Jesu inmitten derer, über die sie ihren Einfluss ausübten. Allein dieser Widerstand hemmt Jesum keineswegs auf seiner Bahn des Wohltuns. Noch kann Er in der Mitte des Volkes Zeugnis ablegen; noch kann Er ungeachtet der Pharisäer seine langmütige Güte ausüben. Er fährt fort zu predigen und zu heilen. Er hat Mitleid mit dem Volk, das, einer Herde ohne Hirten gleichend, in sittlichem Sinn seiner eigenen Leitung überlassen war. Noch sieht Er, dass die Ernte groß ist und der Arbeiter wenige; noch sieht Er alle Türen geöffnet, um sich an das Volk wenden zu können, und die Bosheit der Pharisäer beachtet Er nicht.
Lasst uns den Inhalt dieses Kapitels, in dem die Gnade in Israel offenbart wird, noch einmal kurz zusammenfassen. Wir sehen zuerst die Gnade, heilend und vergebend, wie in Psalm 103; dann die Gnade, die gekommen ist, Sünder zu rufen, nicht Gerechte. Der Bräutigam war da, auch konnte die Gnade in Macht nicht in jüdische oder pharisäische Gefäße getan werden; sie war neu, selbst im Blick auf Johannes den Täufer. Der Herr kommt in Wirklichkeit, um den Toten das Leben zu geben, nicht nur um zu heilen; aber wer irgend Ihn im Glauben anrührte – und es gab solche – wurde auf dem Weg geheilt. Er öffnet, als Sohn Davids, die Augen, um zu sehen, und Er öffnet den stummen Mund des vom Teufel Besessenen. Alles das wird von den selbstgerechten Pharisäern mit Gotteslästerung verworfen. Doch die Gnade betrachtet die Volksmenge bis jetzt noch als Schafe, die keinen Hirten haben; und solange der Türhüter die Tür offen hält, hört der Herr nicht auf, zu suchen und den Schafen zu dienen. Solange Ihm der Zugang zum Volke von Gott gestattet ist, setzt Er seine Arbeit der Liebe fort. Nichtsdestoweniger hatte der Herr, obwohl Er nicht seine eigene Ehre suchte, das Bewusstsein von der Ungerechtigkeit, die das Volk beherrschte.