Betrachtung über den Propheten Jeremia (Synopsis)
Kapitel 15
Der Anfang des 15. Kapitels ist eine Antwort auf den Schluß des 14.; aber die Belehrung und die Grundsätze, welche es enthält, sind sehr bemerkenswert. Jehova erklärt: Wenn Mose und Samuel (deren Liebe für Israel und deren Treue in der Fürbitte für dasselbe unter allen Knechten Gottes, die des Volkes wegen vor Ihm gestanden hatten, ohnegleichen waren) - selbst wenn diese zwei geliebten Führer des Volkes da wären, so würde Er Israel doch nicht annehmen. Wer wollte sich nun über sie erbarmen? Jehova Selbst verließ sie. Von Vers 19 an finden wir die wahre Stellung des Überrestes in einem solchen Falle - eine eindringliche, ergreifende Belehrung für uns selbst!
Der arme Jeremia beklagt sein Los inmitten eines Volkes, dessen Kümmernisse er auf dem Herzen trug, während er zu gleicher Zeit ihren völlig grundlosen Haß erdulden mußte. Wir sehen in den Versen 11 - 14, daß er das Volk vor Gott darstellt, zugleich aber auch, daß der treue Überrest von der Menge der Gottlosen getrennt ist. Von Vers 15 an tritt dieser Überrest in seiner abgesonderten Stellung vor Gott hin, indem er gleichzeitig den ganzen Schmerz der Wunde des Volkes empfindet, selbst während er zum Vollziehen der Rache an den Gottlosen, den Widersachern der Wahrheit, bittet. Als Antwort werden genaue Anweisungen für den Wandel dessen gegeben, der in einer solchen Stellung treu ist. Das Wort Gottes, im Herzen gleichsam gegessen und verdaut, ist die Quelle dieser Stellung (V. 16).
Anstatt an dem Geist der Feinde und Spötter teilzunehmen, die an dem tief gesunkenen und heuchlerischen Zustande derer, welche den Namen des Volkes Gottes trugen, ihre Freude hatten, war es ohne Zweifel die Wirkung des Wortes im Herzen, sich von diesem Zustande des Volkes zu trennen, aber auch den Gottesfürchtigen abgesondert hinzustellen, als wenn er selbst der Gegenstand des Zornes Gottes, als wenn er selbst das Volk wäre. Das Wort, welches das Verhältnis zwischen Gott und dem Volke offenbarte und letzterem seine Vorrechte und seine Pflichten zeigte, veranlaßte den Treuen, den Zustand des Volkes zu richten und alle Folgen dieses Zustandes als das Gericht Jehovas zu empfinden - ein Gericht, das seinem Herzen um so schrecklicher war, als er fühlte, in welch einem innigen Bande der Zuneigungen und des Segens von Gott das Volk eigentlich hätte stehen sollen. „Du hast mich mit Grimm erfüllt“ (V. 17. 18), ist die Sprache des Propheten.
In den Versen 19-21 werden die genauen Unterweisungen Gottes für diese Lage gegeben. Gott redet auch Jeremia an, als ob er das Volk wäre, welches er so im Geiste vor Ihm darstellte, und zugleich seinem persönlichen Glauben gemäß. Er sagte zunächst: „Wenn du umkehrst, so will ich dich zurückbringen, daß du vor mir stehest.“ Diese offene Tür - offen, bis der Mensch sie verschließt - findet sich immer in den Wegen Gottes, obgleich Er wohl weiß, daß der Mensch sie nicht zunutze machen will.
Ist das nun alles, was geschehen soll, während es noch heute heißt und die Tür offen steht. dem widerspenstigen Volke zuzurufen, daß es umkehren solle? Nein, es gibt für den Treuen noch etwas anderes zu tun, und das ist der zweite leitende Grundsatz: „Wenn du das Köstliche vom Gemeinen ausscheidest, so sollst du wie mein Mund sein.“ Inmitten des Verfalls, der durch die Widerspenstigkeit des Volkes Gottes verursacht worden ist, ist dies das besondere Werk des Treuen, der das Wort in sich aufgenommen hat. Indem es das Verlangen seiner Seele ist, dieses Wort und die in demselben geoffenbarten Zuneigungen Gottes wieder hervorzubringen, kann er unmöglich das Volk in seiner Gesamtheit als böse verwerfen. Kann er es denn in einem Zustande der Widerspenstigkeit anerkennen, der um so schlechter ist, weil es Gott angehört? Das kann er ebensowenig. Er muß daher lernen, das zu tun, was Gott tut - nämlich auf alles das, was gut ist, Bedacht zu nehmen und, wenn es zu spät ist, um alles aufrechtzuerhalten, wenigstens nie das zu verurteilen, was von Gott ist. Das alles durchdringende Auge Gottes bleibt stets hierauf gerichtet; auch der Prophet hängt mit seinem ganzen Herzen daran.
Aber Gott hat Seine eigenen Gedanken, und Er handelt nach Seinem eigenen Willen. Er nimmt das, was kostbar ist, erkennt es an und trennt es von dem, was gemein ist. Dies ist nicht gerade das Gericht Gottes über das Böse; aber wenn das Gericht um des Bösen willen bevorsteht, so leiten uns die Wirksamkeit des Geistes und die Macht des Wortes dahin, uns dem Guten zuzuwenden, es zu unterscheiden und von dem Bösen abzusondern, ehe das Gericht kommt. Wenn Satan es zuwege bringen kann, wird er stets Gutes und Böses miteinander vermengen. Diejenigen, welche das eine von dem anderen abzusondern verstehen, sollen wie der Mund Gottes sein. Gott wird dies im Gericht tun, dadurch daß Er das Böse ausrottet; bei dem Treuen tut es der Geist Gottes, indem Er das Köstliche vom Gemeinen ausscheidet.
Doch es gibt noch einen dritten Grundsatz, und der ist folgender: Wenn man einmal von dem Pfade der Widerspenstigen durch diese geistliche Einsicht getrennt ist, so darf nicht einen Augenblick an eine Rückkehr zu ihnen gedacht werden: „Jene sollen zu dir umkehren, du aber sollst nicht zu ihnen umkehren.“ Endlich will Jehova den Treuen in dieser Stellung zu einer ehernen Mauer machen. Die Widerspenstigen, welche sich rühmen, das Volk Gottes zu heißen, streiten gegen Seinen treuen Diener, sollen aber nicht die Oberhand gewinnen, weil Jehova mit ihm ist. Dem Jeremia wird Befreiung zugesagt.
Alles dieses gibt uns, obwohl es seine unmittelbare Anwendung auf den Propheten findet, durch den darin enthaltenen Grundsatz eine höchst wertvolle Belehrung, wie wir uns in ähnlichen Zeiten zu verhalten haben. Geduld ist stets erforderlich, aber der Pfad wird uns klar und deutlich vorgezeichnet. Die Grundsätze, die Gott hier aufstellt, sind also folgende: Auf Gottes Seite ist immer eine offene Tür; die Scheidung des Köstlichen von dem Gemeinen macht uns dem Munde Gottes gleich; und wenn diese Stellung eingenommen ist, so haben wir uns entschieden zu weigern, zu den Untreuen umzukehren. Das im Herzen aufgenommene Wort ist die Quelle dieser Grundsätze. Zugleich ist deren Wirkung sehr weit von einer Verachtung des gefallenen Volkes entfernt; im Gegenteil nimmt das Herz des Treuen all den Kummer der Stellung auf sich, in welcher das Volk Gottes oder diejenigen, welche öffentlich als solches dastehen, sich befinden.