Betrachtung über das Evangelium nach Johannes

Kapitel 14

Betrachtung über das Evangelium nach Johannes

Nachdem der Herr so im Geist die Nacht durchschritten und Seinen Platz am Tag danach eingenommen hat, wendet Er sich zu Seinen Jüngern und belehrt sie in diesen Kapiteln als der Prophet der himmlischen Dinge, tröstet sie, teilt ihnen die Geheimnisse Seines eigenen himmlischen Priestertums mit, ihre Berufung, ihre Segnungen und Pflichten als Kirche Gottes, die während der Ausübung jenes Priestertums noch auf der Erde weilt.

Das Priestertum des Sohnes Gottes oder die gegenwärtige Haushaltung, während der Er auf Seines Vaters Thron sitzt und wir uns in dem Reich des Sohnes der Liebe Gottes befinden, war ein Geheimnis bei Gott, das den Gedanken Israels gänzlich verborgen war. Die Zeit, die der Herr mit „eine kleine Zeit” (Joh 14,19) bezeichnet, war eine Epoche der Wege Gottes, über die sowohl die Juden als auch die Jünger gleicherweise in Unkenntnis waren (Joh 7,36; 16,17). Sie hatten alle gedacht, der Christus bliebe in Ewigkeit (Joh 12,34), denn die Propheten hatten von Ihm in Verbindung mit irdischer Herrschaft gesprochen. Trotzdem gab es manche Andeutungen in der Prophetie und der Geschichte, die sie hätten vorbereiten sollen. Josephs Aufenthalt und Herrlichkeit in Ägypten und sein völliges Vergessensein seitens seiner Verwandtschaft in Kanaan während dieser Zeit, bis die Hungersnot sie zu ihm führte, hatten dieses Geheimnis vorgebildet, ebenso wie auch Moses Aufenthalt in Midian (s. Apg 7). Wir können zweifellos annehmen, dass sowohl Joseph als auch Mose sich ständig ihres Volkes erinnerten, und dass ihr Verlangen dorthin ging, während sie von ihrem Volk getrennt waren, aber es war ein unausgesprochenes Begehren. So wissen wir auch, dass der Herr Jesus an Jerusalem denkt; seine Mauern sind beständig vor Ihm, eingezeichnet in Seine beiden Handflächen (Jes 49,16). Aber Er verhält sich augenscheinlich zu ihnen „wie ein bestürzter Mann, wie ein Held, der nicht zu retten vermag” (Jer 14,9).

Abgesehen von diesen vorbildlichen Erzählungen, hatten auch die Propheten unmittelbar von diesem Geheimnis gesprochen. Sie hatten Jerusalems Witwenschaft angekündigt, die eine Zeitlang dauern sollte. Mose hatte schon vor langer Zeit ein beständiges Zeugnis an Israel hinterlassen, dass der Herr für eine Zeit Sein Angesicht vor ihnen verbergen und sie durch ein „Nicht-Volk” zur Eifersucht reizen würde (5. Mo 32,21). David hatte gesagt, dass der Messias, sein Herr, eine Weile zur Rechten Gottes sitzen würde (Ps 110). Jesaja hatte ein Gesicht gesehen, welches von Christus in Seiner himmlischen Herrlichkeit zu einer Zeit des Gerichts über Israel sprach (Jes 6). Hesekiel sah die Herrlichkeit die Stadt verlassen und nach einer Zeit wieder zurückkehren. Und durch Hosea hatte der Herr gesagt: „Ich werde davongehen, an meinen Ort zurückkehren, bis sie sich schuldig bekennen und mein Angesicht suchen. In ihrer Bedrängnis werden sie mich eifrig suchen” (Hos 5,15). Der Herr Jesus hatte während Seines eigenen Dienstes von diesem Geheimnis gesprochen. Im Matthäusevangelium berichtigt Er den Gedanken, dass der Christus in Ewigkeit bleibe, durch eine Anführung jener Schriften, die von dem von den Bauleuten verworfenen Stein redeten. Im Lukas-Evangelium hatte Er durch das Gleichnis von dem hochgeborenen Mann, der in ein fernes Land zog, gezeigt, dass zwischen Seinem ersten Auftreten als Messias und Seinem Wiedererscheinen in Seinem Reich ein Zwischenraum lag. Aber hier in unserem Evangelium behandelt Er diesen Gegenstand ausführlicher und zeigt den Charakter dieser Zwischenzeit, während Er für eine Weile zur Rechten Gottes im Himmel sitzt.

Deshalb zieht Er sich, nachdem Er Seinen öffentlichen Dienst beendet hat, mit Seinen Jüngern zurück und beschäftigt sich selbst mit diesem Gegenstand. In der Handlung des 13. Kapitels, den Belehrungen des 14., 15. und 16. Kapitels und im 17. Kapitel ist es das himmlische Priestertum, das Er in verschiedener Weise darlegt und erklärt, indem Er zeigt, dass Er in der gegenwärtigen Zeit der Trennung von Israel in gesegneter Weise für die Kirche tätig ist. In Liebe und Fürbitte, mit beharrlicher Fürsorge und der Wachsamkeit Dessen, der Seine Augen auf sie gerichtet hat, ist Er jetzt ganz und gar für die Seinen tätig. Gewiss, Er ist getrennt von Seinen Brüdern nach dem Fleisch, aber mittlerweile führt Er wie Mose die Herde Seines Vaters an den Berg Gottes, fern von den Befleckungen Ägyptens und dem Unglauben Israels, und genießt die Erquickungen eines lieblichen Hauses und einer geliebten Familie in heiliger Zurückgezogenheit.

Ein wahrhaft glückseliger Gedanke kommt mir beim Lesen der Eingangsworte des 14. Kapitels: Unser Herr setzt voraus, dass Sein Dienst Seinen Jüngern den Vater so nahe gebracht hat, dass sie Sein Haus als ihr Heim betrachten sollten. Das ist eine große Ermunterung für uns. Der Dienst des Herrn war eine solche Offenbarung der Liebe des Vaters zu ihnen, dass es in der Tat befremdend gewesen wäre, „wenn es nicht so wäre”. Es wäre so außergewöhnlich gewesen, dass es deshalb besonders erwähnt werden musste. Dass es in des Vaters Haus ebenfalls Wohnungen für sie gab wie für Ihn, stand in so völliger Übereinstimmung mit allen Seinen vorangegangenen Werken und Worten, dass eine solche Tatsache, eine solche Wahrheit, keinerlei Erwähnung bedurfte. Das war eine notwendige Schlussfolgerung. Alle familiären Vorrechte gehörten ihnen, und die Wohnung der Familie war selbstverständlich auch ihr Heim.

Welche Schlüsse für den Glauben sind wir berechtigt daraus zu ziehen, selbst ohne unmittelbare Belehrung! Wir machten uns geistlicher Trägheit schuldig, wenn wir diese Folgerungen nicht für uns in Anspruch nähmen. Unmöglich konnte ein Dienst wie der des Herrn Jesus, des Sohnes des Vaters, Geringeres als diese Zuversicht schenken, dass des Vaters Haus auf ewig auch unser Heim sein soll.

Unergründliches Wunder, göttliches Geheimnis! – möchte ich wiederum sagen. Was wir bedürfen, ist jener Geist kindlichen Glaubens, der in der Wirklichkeit einer so überschwänglichen Gnade ruht.

Möchte doch Seine Familie die Einsamkeit des Sohnes Gottes mehr erfreuen, mehr als sie es tut! Möchte sie doch mehr eine „herrliche Herde” Seiner Fürsorge und Pflege am Berg Gottes sein, ein freundlicher Anblick für Ihn, um Ihn für den Verlust Israels zu entschädigen! Er ließ Sein Leben für sie, gab sich selbst hin für Seine Schafe und bleibt in Seiner Liebe treu.

Diese Kapitel, möchte ich ferner sagen, zeigen uns, dass der Dienst des Sohnes nichts hervorgebracht hatte, was in den Herzen Seiner Jünger einen Widerhall gefunden hätte. Denn die göttliche Reihenfolge verlief so: Bisher hatte der Vater gewirkt, nun wirkte der Sohn, aber auch der Heilige Geist musste wirken, ehe die Kirche ihren Platz finden konnte. Daher war der Name Gottes bis jetzt noch nicht völlig geoffenbart. Die Offenbarung des Namens Gottes leuchtete im Verlauf der einzelnen Haushaltungen allmählich immer heller, doch das ist ein großer Gegenstand.

In 1. Mose 1 ist es einfach „Gott”, den wir sehen und hören, der das Sechstagewerk vollführt und dann am siebten Tag ruht. Aber in 1. Mose 2 finden wir „Gott den HERRN”. Das sind zwei Stufen der Offenbarung Gottes. Im ersten Kapitel erscheint Er einfach als „Gott”, zu Seiner eigenen Freude und Herrlichkeit. Er findet Seine vollkommene Wonne an Seinem Werk, indem Er sieht, dass alles „sehr gut” ist, und verherrlicht sich selbst durch die Schöpfung, über die Er jemand „in Seinem Bild”, einen Vertreter Seiner selbst, setzt. Aber im 2. Kapitel sehen wir „Gott den HERRN” als Bundes-Gott, der durch Vorsätze und Ratschlüsse ein Bündnis zum Segen für Sein Geschöpf eingeht. Deshalb werden manche der vorhergehenden Einzelheiten des Werkes, das aus der Hand „Gottes” hervorgegangen war, übergangen und manche anderen Dinge vor unsere Blicke gestellt, die vorher keinen Platz hatten. So finden wir jetzt in deutlicher Hervorhebung Dinge, die wir durchaus nicht im 1. Kapitel fanden, den Garten, den Strom, die Art der Erschaffung des Menschen, seine Einsetzung in die Herrschaft, die Bildung der Frau und ihre Vereinigung mit dem Mann, ebenso die geheimnisvollen Bäume und das Gebot mit der Strafe, denn alle diese Dinge betrafen die Stellung und die Segnung des Geschöpfes im Bund mit „Gott dem HERRN1.

So begann Gott, uns Seinen Namen zu offenbaren. Nach dieser ersten Erwähnung von „Gott” und „Gott der HERR” begegnen wir dem Abraham geoffenbarten Namen „Gott der Allmächtige”. Das war eine weitere Offenbarung Seiner selbst. Sie wurde Abraham gegeben, als er schon über das Alter hinaus war und sich allein auf die Allmacht oder das Allvermögen Gottes stützen konnte (1. Mo 17,1). In diesem Namen, der die für den Menschen notwendige Macht ausdrückte, leitete Gott ihn und Isaak und Jakob nach ihm, denn sie alle waren Fremdlinge und Pilgrime auf dieser Erde und hatten nur die Verheißungen eines allmächtigen Gottes als Stütze (1. Mo 28,3; 35,11; 48,3). Im Lauf der Zeit machte Gott sich Seinem Volk jedoch unter einem anderen Namen bekannt. Als Er Seinen Bund mit ihnen aufrichtete, um sie in das verheißene Erbteil zu bringen, nannte Er sich „HERR”, den Bundes-Gott Israels (2. Mo 6,1–6), und in diesem Namen ergriffen sie von Kanaan Besitz.

Aber das alles zeigte Gott noch nicht in der vollen Herrlichkeit Seines Namens. In Gott war Gnade und gab es Gaben der Gnade, welche Seine Wege noch nicht völlig enthüllt hatten. Dies geschah erst in dem Namen, der uns jetzt geoffenbart ist, in dem Namen „Vater, Sohn und Heiliger Geist”. Das ist der volle Name der Herrlichkeit unseres Gottes. Gnade und die Gaben der Gnade werden erst wirksam in jener Haushaltung, die diesen Namen kundtut 2.

So war die völlige Offenbarung des Namens und der Herrlichkeit Gottes dem gegenwärtigen Zeitalter vorbehalten. Sicher hatte der Vater zu allen Zeiten der jüdischen Haushaltung gewirkt, aber als Volk hatte Israel es noch mit Gott als „HERR” zu tun. Die Offenbarung des Vaters musste auf den Dienst des Sohnes warten, und bestimmte Haushaltungen mussten ihr Ende finden, ehe der Sohn kommen konnte. Der Sohn konnte kein Diener des Gesetzes sein, denn ein solcher Dienst wäre Dessen nicht würdig gewesen, der im Schoß des Vaters ist; er war den Engeln anvertraut. Der Sohn konnte Seinen Dienst erst aufnehmen, als die „große Errettung” bereit war, geoffenbart zu werden (Heb 2,1–3). So musste auch die Offenbarung des Heiligen Geistes ihre bestimmte Zeit abwarten, denn Er konnte den Dienst des Gesetzes ebenso wenig begleiten wie der Sohn. Rauch, Blitze und Donner waren dort (2. Mo 19). Aber der Heilige Geist kam mit Seinen Gaben und Seiner Kraft, um den Dienst des Sohnes und die Offenbarung der „großen Errettung” zu begleiten (Heb 2,3). Der Geist Gottes konnte kein Geist der Knechtschaft sein, der Furcht hervorrief – so wie es das Gesetz tat – sondern er musste Vertrauen erwecken. „So viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes.”

Der Heilige Geist konnte erst herabkommen, nachdem der Herr Sein Werk vollbracht hatte. Das Herz musste erst vom bösen Gewissen gereinigt, der Tempel für das Wohnen des Geistes geheiligt und der heilige Hausrat für diesen Tempel (der Geist der Freiheit und Sohnschaft und die Erkenntnis der Herrlichkeit) zubereitet sein. Alles das konnte nur durch den Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt des Sohnes geschehen, und darauf wartete die Offenbarung des Heiligen Geistes. Selbstverständlich war Er von Anfang an die heilige Kraft von allem. Er hatte durch die Propheten gesprochen, Er war die Stärke der Richter und Könige und die Macht des Glaubens, des Dienstes und der Leiden des ganzen Volkes Gottes. Aber das war eine niedrigere Stellung als die, die Er jetzt in der Kirche einnimmt. Ein Wohnen in dem Gläubigen als Seinem Tempel gab es vorher nicht. Aber jetzt wohnt Er so in uns und breitet ein Reich von Gerechtigkeit, Frieden und Freude aus. Als der Geist der Weisheit gibt Er uns „Christi Sinn”, geistliche Sinne zur Unterscheidung von Gutem und Bösem. Als Geist der Anbetung macht Er uns fähig, Gott „Vater” und Jesus „Herr” zu nennen. Auch verwendet Er sich für uns in unaussprechlichen Seufzern. Er erfüllt das Herz mit der „Liebe Gottes” und befähigt uns „überreich in der Hoffnung” zu sein. Er ist in uns eine Quelle Wasser, das ins ewige Leben quillt. Er ist auch die Quelle von „Strömen lebendigen Wassers”, die von uns ausgehen zur Erfrischung der Müden. Er bildet aus den Gläubigen „ein geistliches Haus”, wo „geistliche Schlachtopfer” dargebracht werden und wo kein Raum mehr ist für ein „weltliches Heiligtum” und ein „fleischliches Gebot”, denn sie werden zusammen aufgebaut zu einer Behausung Gottes im Geist. Und Er teilt Gaben unter sie aus, um sie zu Christus hin wachsen zu lassen.

Dies sind einige der Wirkungen des Heiligen Geistes in Seinem Reich in den Heiligen, Seine Werke, die an dem Ort Seiner Herrschaft hervorstrahlen. Er ist ein Unterpfand, eine Salbung und ein Zeuge. Er verkündigt uns „offen von dem Vater” und nimmt von den Dingen Christi, um sie uns zu verkündigen (Joh 16,14–15). Seine Gegenwart in uns ist so rein, dass es nichts Böses gibt, über das Er nicht trauerte und betrübt wäre (Eph 4,30), und doch so zart und mitfühlend, dass Er jede gottgemäße Betrübnis fühlt und darüber seufzt (Röm 8,23). Er bewirkt überschwängliche Hoffnung; Er gibt uns das Bewusstsein völliger göttlicher Gunst; Er verleiht unserem Gewissen einen Anspruch auf Ruhe und völlige Sicherheit. An dem Ort Seiner Wirksamkeit gibt es keine Schwäche, keine Engherzigkeit, keine Unsicherheit. Seine Handlungen haben den Charakter des Reiches Gottes, das voller Lieblichkeit und Kraft ist. Wir müssen bekennen, dass wir so wenig in der Kraft und dem Licht dieses Reiches leben und unsere engen und verschlossenen Herzen es so unvollkommen besitzen. Der Heilige Geist ist bemüht, Lob in uns zu erwecken, und Seine Herrlichkeit soll in Seinen Tempeln kundgetan werden. Wohl ist diese Herrlichkeit zu Zeiten verdunkelt, wenn wir uns selbst hinsichtlich dieses in uns wohnenden Reiches prüfen, aber das Reich selbst darf daran nicht gemessen werden 3.

Dieses Geheimnis ist kostbar, Geliebte. Die ganze Ordnung der Dinge, in die wir eingeführt sind, sagt uns zu unserem großen Trost, dass wir es jetzt unmittelbar mit Gott zu tun haben und nicht mit uns selbst. Das Gesetz dagegen sagte: „Du sollst” und „Du sollst nicht”, aber jetzt ist es Gott, mit dem wir es in erster Linie zu tun haben. Wir werden aufgefordert, vollkommen von uns wegzuschauen und zu vergessen, ob wir Juden oder Griechen waren. Wir haben auf Gott zu schauen, auf Gott zu hören und es mit Gott zu tun. Das ist das höchste erreichbare Ziel des Segens für einen Sünder; es ist so herrlich, dass Satan alles versucht, uns davon abzuhalten, indem er das Ohr taub macht für die Stimme Gottes, das Auge trübt für die Wege und Werke Gottes und das Herz unempfänglich macht für die Liebe Gottes. Er möchte uns gern mit anderen Dingen beschäftigen, „damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist”. Satan beschäftigt die einen mit Gedanken über ihre Rechtschaffenheit, andere wieder mit ihren Sünden, um sie, sei es durch Selbstgefälligkeit oder Furcht, von Gott fernzuhalten.

In den Unterredungen dieser Kapitel (Joh 14–16) ist es nun die besondere Absicht des Herrn, die Jünger über den rein jüdischen Boden zu erheben und sie durch den Zweck Seiner Abwesenheit zu trösten. Es sind Unterredungen, wie sie niemals unter Menschensöhnen stattgefunden haben. Das Herz Gottes hatte niemals in so umfangreichem und gesegnetem Maß Seine Schätze vor den Wünschen und Gedanken Seines Volkes ausgebreitet, wie der Herr es hier tat. Es waren geheiligte Augenblicke der Gemeinschaft zwischen Himmel und Erde.

Gleich zu Beginn sagt der Herr: „Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr glaubt an Gott, glaubt auch an mich.” Dies macht sie sofort mit einem anderen Gegenstand des Glaubens bekannt, als sie ihn bis jetzt gehabt hatten. Im Sinn dieser Worte war Gott Israel bereits bekannt. Die Jünger glaubten in ihrer jüdischen Stellung schon an Gott. Der Herr räumt dies ein, wie Er früher zu der Frau am Jakobsbrunnen gesagt hatte: „Wir (die Juden) beten an und wissen, was.” Die Juden kannten Gott, und ihr Glaube war richtig, aber unvollständig, und der Herr wollte ihn jetzt vervollständigen. Er wollte, dass sie jetzt durch den Sohn den Vater kennen lernten; die ganze Unterredung mit Seinen Jüngern verfolgt dieses Ziel. Er spricht besonders vom Vater und verheißt den Sachwalter, der sie mit den Dingen des Vaters und des Sohnes bekannt machen sollte.

Derselbe Charakter der Gnade begegnet uns schon zu Beginn des Evangeliums, wenn Johannes schreibt: „So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden.” Diese frühere Ankündigung von dem Wert und der Kraft des Dienstes des Sohnes wird in diesen Kapiteln weitgehend entfaltet. Währenddessen zeigen sich aber – notwendigerweise, möchte ich sagen – einige Formen jüdischer Unwissenheit, denn Israel hatte nicht die Erkenntnis, in die der Herr die Jünger jetzt einführen will. Thomas war unwissend über das Weggehen Christi und Seine Trennung von der Erde und sagt: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst”, denn Israel war belehrt, dass der Christus in Ewigkeit bleiben würde. Philippus verrät seine Unkenntnis über den Vater, denn Israel war in die Erkenntnis des Vaters im Sohn nicht eingeführt. Judas wundert sich darüber, dass es eine andere als die geoffenbarte weltliche Herrlichkeit des Messias geben sollte, auf der Israels Hoffnung beruhte. Und alle waren sie höchst erstaunt über das Geheimnis der Zeit, die der Herr „eine kleine Zeit” nannte. Aber der himmlische Prophet führt sie aus diesen Gedanken heraus. Sie hatten sich bereits von einer abtrünnigen Nation getrennt, indem sie als der Überrest Gottes Jesus als den von Gott gekommenen Messias angenommen hatten. Aber sie mussten Jesus noch als den vom Vater gekommenen Sohn kennen lernen, der ihnen, während Er bei ihnen war, den Vater kundgetan hatte, und der jetzt im Begriff stand, zum Vater zurückzukehren, und der wiederkommen würde, um sie in die Wohnungen des Vaters einzuführen. Diese großen Wahrheiten Seiner Liebe offenbart ihnen der göttliche Prophet, aber das waren bis jetzt noch fremde Dinge für sie.

Diese Gedankengänge unseres Herrn während dieser Unterredung werden nur eine Zeitlang von den fehlerhaften jüdischen Anschauungen Seiner Jünger unterbrochen. Seine Absicht war es, die Jünger zum Verständnis ihrer Berufung als Kirche Gottes zu erheben und sie auf diese Weise zu trösten. Diesen Zweck verfolgt Er stetig, obwohl Er ab und zu ihre Herzensträgheit tadeln muss. So sieht sich der Herr zum Beispiel aufgrund der durch Petrus verursachten Unterbrechung (Joh 13,36–14,1) veranlasst, in Seiner Antwort an Petrus dessen Treulosigkeit und Verleugnung anzukündigen, aber dadurch werden Seine Ihn bewegenden Gedanken der Liebe über ihn und die übrigen Jünger nicht beeinflusst. „Euer Herz werde nicht bestürzt”, sagt der gnädige Herr unmittelbar nach Seiner Warnung an Petrus. Und auch am Schlusse Seiner Worte (Joh 16,32) musste Er ihnen sagen, dass die Stunde kommen würde, wo sie zerstreut sein und Ihn allein lassen würden, wo ein jeder in das Seine gehen würde; dennoch nimmt Er, ohne den Strom Seiner Liebe zu ihnen auch nur für einen Augenblick zu unterbrechen, unmittelbar danach Seine Gedanken wieder auf und sagt: „Dies habe ich zu euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid guten Mutes, ich habe die Welt überwunden.”

Geliebte, so handelt Er seit jeher mit den Seinen. Wir müssen vielleicht durch unsere eigene Torheit das „Krähen des Hahnes” hören, Tadel einstecken, hinausgehen und bitterlich weinen, aber das Herz Jesu bleibt in Seiner Freundlichkeit gegen uns dasselbe. Es ist Seine Absicht, zu bewahren und zu segnen, und Er wird es tun. Wer will Ihn hindern? Er schaut keine Ungerechtigkeit in Seinem Volk. Sie sollen Frieden haben durch Seinen Tod, Leben durch Seine Auferstehung und Herrlichkeit später bei Seiner Wiederkehr. Von diesen ihren Segnungen spricht Er, trotz ihrer Herzensträgheit und Unwürdigkeit, um sie über Seinen Weggang zu trösten.

Im Matthäus-Evangelium tut Jesus die Werke des Sohnes Davids (Mt 12,23), sie sind das Siegel Seiner Sendung als Messias. Aber hier stellt sie der Herr Seinen Jüngern gegenüber als die Bestätigung Seiner Sohnschaft dar. Er wollte, dass sie Seine Werke nicht nur als Beweise Seines Anspruchs auf das Reich Israels entsprechend den prophetischen Verheißungen betrachten sollten (Jes 35,5–6), sondern als Zeugnis für Ihn als den Spender der Gnade und Macht des Vaters. Deshalb sagt Er: „Glaubt mir, dass ich in dem Vater bin und der Vater in mir ist; wenn aber nicht, so glaubt mir um der Werke selbst willen.” Das steht in völliger Übereinstimmung mit unserem Evangelium. Er verheißt ihnen unmittelbar danach, dass sie „größere Werke” tun würden, die, wie ich glaube, den gleichen Charakter tragen, Werke, die von der Gnade des Vaters zeugten, durch welche verdammungswürdige Sünder zu der Freiheit der Kinder Gottes geführt werden sollten. Paulus sagt: „In Christus Jesus habe ich euch gezeugt durch das Evangelium.” Und so ist es heute noch. Sünder werden noch immer zur Freiheit von geliebten Kindern geführt. „Ich werde euch nicht als Waisen lassen”, sagt der Herr an dieser Stelle, „ich komme zu euch”. „Weil ich lebe, werdet auch ihr leben.” Sie sollten keine Waisen sein und nicht, wie Israel einst, klagen müssen, dass sie „ohne Vater” wären (Joh 14,18; Klgl 5,3). Die Sohnschaft der Gläubigen während der Zeit der Verwaisung Israels wird hier vom Herrn in Ausdrücken von tiefer, wunderbarer Bedeutung vorgestellt. Sie sollten wissen, dass Er in dem Vater war, und sie in Ihm, und Er in ihnen! Der Vater ist hier der ständig wiederkehrende heilige Refrain.

Auf eine scheinbar unbedeutende Handlung des Herrn möchte ich noch aufmerksam machen. Am Schluss des 14. Kapitels sagte Er: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.” Er sagte ihnen dadurch, dass Er ihnen, ehe Er die Welt verließ, Seinen Frieden hinterlasse, den Frieden für sie als Sünder, den Er durch Seinen Tod gemacht hatte. Nachdem Er so von Frieden gesprochen hat, sagt Er: „Steht auf, lasst uns von hier weggehen!” Wir dürfen wohl annehmen, dass sie sich nun alle von der Tafel des Passahmahles erhoben und zu dem Ölberg aufbrachen.

Fußnoten

  • 1 Wir sind überzeugt, dass, wenn wir von „Gott der HERR“ sprechen, eine nähere Beziehung zum Ausdruck kommt, als wenn wir einfach „Gott“ sagen.
  • 2 Der Gläubige wird stets seine größte Freude an der letzten oder völligen Offenbarung Gottes haben. Darin unterscheiden sich die Gläubigen von den Männern der Wissenschaft. Die bloße menschliche Philosophie erkennt die göttliche Hand in der Schöpfung an; sie sieht z. B. „Gott“ in den Pflanzen und Tieren, aber der Garten, der Strom und das Menschenpaar, die mit „Gott dem HERRN“ zu tun haben, besitzen keine Anziehungskraft für sie. Doch gerade diese Gegenstände beschäftigen das Herz des Gläubigen.
  • 3 Ich muss hierzu einiges bemerken, was mir wieder als höchst charakteristisch für das Johannesevangelium auffällt. Der Name Gottes wird im Matthäus-Evangelium in formaler Art, d. h. in seinem buchstäblichen Sinn und seinem genauen eigentlichen Begriff bekannt gemacht (S. Mt 28,19). Aber im Johannesevangelium wird er, wie wir in diesen Kapiteln sahen, nach sittlichen Begriffen geoffenbart. Die Kenntnis jenes Namens „Vater, Sohn und Heiliger Geist“ wird der Seele durch eine Offenbarung der mannigfaltigen Handlungen und Wege in der Haushaltung unserer Errettung und Segnung vermittelt.
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