Betrachtung über den Propheten Hesekiel (Synopsis)

Kapitel 26-28

Betrachtung über den Propheten Hesekiel (Synopsis)

Obgleich in gewissem Sinne gleichfalls auf Israels Gebiet liegend, trägt Tyrus doch einen von den erwähnten Nationen verschiedenen Charakter und wird daher der Gegenstand einer besonderen Prophezeiung. Es stellt nämlich die Welt und ihre Reichtümer dar im Gegensatz zu Israel, als dem Volke Gottes; und der Grund seiner Freude ist nicht, wie bei den anderen, persönlicher Haß, sondern die Befriedigung seiner natürlichen Selbstsucht. Seine Interessen waren denjenigen Israels entgegengesetzt, und nun sieht es das zerstört, was seinem Laufe hemmend in den Weg trat. Wir mögen hierbei beachten, wie Gott in diesen Weissagungen alle Gedanken der Menschen über Sein Volk bloßlegt und zeigt, was sie Ihm gegenüber gewesen sind.

In Kapitel 27 wird Tyrus gerichtet wegen seiner bösen Gesinnung gegenüber dem Volke und der Stadt Gottes. Als ein weltliches System wird es umgestürzt, und vor dem Hauche Jehovas verschwindet alles, was seine Herrlichkeit ausmachte.

In Kapitel 28 werden der Fürst und der König von Tyrus um ihres Stolzes willen gerichtet. Die Verse 1 - 10 stellen uns den Fürsten der Herrlichkeit dieser Welt als einen Menschen vor Augen, der sich durch seine Weisheit Reichtum und Ehre erworben hat, und der sich nun selbst erhebt und als einen Gott darzustellen sucht. Die Verse 11 - 19 sprechen zwar immer noch von Tyrus, haben aber, wie ich glaube, eine noch viel weitergehende Bedeutung, indem sie, wenn auch nur dunkel, den Fall und die Wege Satans enthüllen, der durch unsere Sünde zum Fürsten und Gott dieser Welt geworden ist. Der Fürst von Tyrus (V. 1 - 10) stellt Tyrus und den Geist von Tyrus dar, während die folgenden Verse (11 - 19) viel bestimmter von einer Person reden. Ich zweifle nicht daran, daß dieselben geschichtlich auf Tyrus selbst Anwendung finden, denn das geht aus Vers 16 - 19 hervor. Doch ich wiederhole, der Sinn des Geistes geht viel weiter. Wegen der Vorzüge, die sie genießen, werden die Welt und ihre Könige als der Garten Jehovas bezeichnet (es handelt sich hier um die äußere Regierung Gottes, und diese hatte bis dahin die verschiedenen Nationen, welche um Israel her wohnten, anerkannt). Indessen findet das Gesagte auf Tyrus insofern seine besondere Anwendung, als es in dem Gebiete Israels, in lmmanuels Land selbst lag, und ferner in der Person Hirams, der mit Salomo verbündet gewesen war und sogar beim Tempelbau geholfen hatte. Diesem Verhältnisse entsprach die Größe seiner Schuld. Es ist die Welt in ihrer Beziehung zu Gott; und wenn nun der Fürst von Tyrus diesen Zustand der Dinge als Bild der Welt darstellt, und zwar einer Welt, deren Kräfte und Fähigkeiten sich vermöge dieser Stellung auf einer hohen Stufe befinden, um welcher Ursache willen sie sich prahlerisch für einen Gott ausgibt, - so stellt der König die Stellung selbst dar, in welche die Welt (von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet) versetzt worden ist und durch deren Verlassen sie zu einer abgefallenen Welt geworden ist. Dieser letztere Charakter der Welt gibt Veranlassung, in diesen Versen auf den Abfall des Feindes hinzuweisen. Er war dort gewesen, wo die Pflanzen Gottes blühen 1; er war mit kostbaren Steinen bedeckt gewesen, das heißt mit all den verschiedenen Formen von Schönheit und Vollkommenheit, in denen das Licht Gottes sich widerspiegelt und in die es sich umwandelt, sobald es sich in der Schöpfung oder in Beziehung zu ihr offenbart. Hier war es das Geschöpf gewesen in welchem sich diese verschiedenen Formen von Vollkommenheit widergespiegelt hatten; ein Geschöpf war das Mittel zu ihrer Offenbarung. Es war nicht Licht im eigentlichen Sinne (Gott ist Licht; Christus ist das Licht hienieden, und insoweit Er in uns lebt, sind wir Licht in Ihm). Es war vielmehr die Wirkung des Lichtes in dem Geschöpf, ähnlich wie ein Sonnenstrahl in einem Prisma wirkt. Es ist eine Offenbarung der Schönheit des Lichtes, nicht die Vollkommenheit seines Wesens selbst, sondern etwas, was aus ihr hervorgeht.

Der König von Tyrus, mit anderen Worten: der Feind Gottes, der Fürst dieser Welt, wird hier folgendermaßen geschildert: Er ist der gesalbte Cherub, er ist mit Edelsteinen bedeckt, er war in Eden, dem Paradiese Gottes, auf dem Berge Gottes; er wandelte inmitten feuriger Steine; er war vollkommen in seinen Wegen, bis Unrecht an ihm gefunden wurde. Er ist entweiht worden vom Berge Gottes hinweg um seiner Missetaten willen; sein Herz hatte sich ob seiner Schönheit erhoben, und er hatte sich verderbt. Wir sehen hier das Geschöpf in der höchsten Stellung, die es überhaupt einnehmen kann. Er handelt in den richterlichen Wegen der göttlichen Regierung, geleitet von der Einsicht Gottes (das ist es, was den gesalbten Cherub kennzeichnet); in sittlicher Beziehung ist er mit der Schönheit bekleidet, die den Charakter Gottes als Licht in mannigfaltiger Weise widerspiegelt 2; unter den Pflanzen Gottes, die Er geschaffen und in denen Er Seine Macht und Weisheit, wie es ihm als Schöpfer wohlgefiel, entfaltet hat, hat er seinen anerkannten Platz; selbst dort, von wo aus Gott Sich in Seiner Machtvollkommenheit erwies - auf dem Berge Gottes - war er gewesen; er wandelte dort, wo sich die Vollkommenheit der sittlichen Eigenschaften Gottes in ihrer ganzen Herrlichkeit entfaltete, einer Herrlichkeit, vor welcher das Böse nicht bestehen konnte. Inmitten feuriger Steine; seine Wege waren vollkommen gewesen. Aber alle diese Vorzüge wurden die Veranlassung zu seinem Fall und sind für denselben bezeichnend. Denn die Vorrechte, die wir genossen haben, kennzeichnen stets die Größe unseres Falles. Die Frage ist: von wo sind wir gefallen? Denn daß wir in solcher Stellung, im Besitz solcher Vorzüge, fehlen konnten, das ist es eben, was uns so tief herabwürdigt. Überdies ist hier nicht, wie bei dem Menschen, eine äußere Versuchung die Veranlassung des Falles (dieser Umstand beseitigt allerdings nicht die Schuld des Menschen, verändert aber ihren Charakter), sondern wir lesen: „Dein Herz hat sich erhoben ob deiner Schönheit.“ Er erhob sich gegen Gott und wurde deshalb entweiht vom Berge Gottes hinweg. Als er zu Boden geworfen wurde, da wurde sein sicherer, sich unabhängig fühlender Geist gedemütigt. Seine Nacktheit wurde allen offenbar, und am Ende werden auch alle seine Torheit erkennen.

Schließlich wird noch das Gericht über Zidon angekündigt. Und dann, wenn das Gericht an dem Volke völlig ausgeführt und Israel aller Hoffnung beraubt sein wird, dann will Gott es wieder sammeln und in seinem Lande für immer im Frieden wohnen lassen.

Fußnoten

  • 1 Aus Hes 31,8.9. 16 können wir ersehen, daß unter diesem Ausdruck die Könige der Erde zu verstehen sind, wenigstens diejenigen, welche vor Nebukadnezar herrschten. Er war der erste, der anstelle der vielen Könige der Nationen eine einzige Herrschaft aufrichtete, die ihm von Gott verliehen war. Jene waren aus der Verwirrung von Babel hervorgegangen, und Gott hatte sie anerkannt und Sein Volk in ihre Mitte gesetzt, damit vermittels desselben Seine Regierungswege bekannt werden möchten. Zu der Stellung, die Tyrus als Handelsstadt einnahm, kam noch der besondere Verkehr hinzu, in welchem es mit Israel gestanden hatte; auch aus diesem Grunde konnte die Geschichte seines Königs als ein Vorbild oder Abbild des Fürsten dieser Welt benutzt werden.
  • 2 Man beachte, daß dies hier in der Schöpfung stattfindet. Bei Aaron (2. Mo 28), der Christum als Priester vorbildet, geschieht dasselbe in der unübertrefflichen Vollkommenheit der Gnade, welche uns so vor Gott darstellt, daß wir Seiner Vollkommenheit im Lichte entsprechen. Späterhin (Off 21) begegnen wir derselben Sache in der Herrlichkeit als Grundlage der Stadt, der Braut, des Weibes des Lammes. Mit anderen Worten: Die an diesen Stellen erwähnten kostbaren Steine stellen das dar, was das vollkommene Licht (das heißt das, was Gott in Seinem Wesen ist) in dem Geschöpf hervorbringt, indem es in demselben und durch dasselbe leuchtet, und zwar in der Schöpfung, in der Gnade und in der Herrlichkeit.
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