Betrachtung über den Propheten Hesekiel (Synopsis)
Kapitel 4-7
Außer dem allgemeinen Gericht, welches Gott über den Zustand Israels ankündigte, und von dem bisher die Rede war, sehen wir hier, wie im besonderen Jerusalem vor dem Gott erscheint, den es verachtet hatte; denn in dieser Stadt offenbarte sich die ganze Bosheit des Volkes, welche jetzt ihren Höhepunkt erreicht hatte. Der Prophet sollte die Belagerung Jerusalems darstellen und dabei besonders auf die Jahre der Dauer ihrer Bosheit, welche schließlich das Gericht herbeigeführt hatte, hinweisen; es waren dies für Israel im allgemeinen 390, für Juda 40 Jahre. Offenbar beziehen sich diese Zeitbestimmungen weder auf die Dauer des von Juda getrennten Reiches Israel, noch auf diejenige des Reiches Juda; denn erstere betrug nur etwa 254 Jahre, während das Reich Juda noch 134 Jahre nach dem Fall Samarias bestanden hat. Danach scheint der erwähnte längere Zeitraum von der Trennung der zehn Stämme unter Rehabeam bis zur babylonischen Gefangenschaft gerechnet zu sein, wobei jene Jahre deswegen als solche Israels gelten, weil dieses von dem Augenblick der Trennung an unabhängig dastand und den Hauptteil der Nation umfaßte, während andererseits unter der Regierung Salomos, welche vierzig Jahre währte, Juda gleichsam alles war. Von der Zeit der Regierung Salomos ab würde dann Juda unter dem allgemeinen Namen Israel mit einbegriffen sein. Dies entspricht der Gewohnheit Hesekiels, obgleich er auch bei bestimmten Veranlassungen, z. B. um der Stellung Zedekias willen und dann wieder im Blick auf zukünftige Handlungen Gottes, Juda von Israel unterscheidet. Man kann leicht verstehen, warum der Name Israel für das Ganze gebraucht wird: die Gefangenschaft hatte die ganze Nation in dieselbe Lage und unter ein gemeinsames Gericht gebracht, und Israel war eben der Name des ganzen Volkes. Die ganze Nation war jetzt beiseite gesetzt, und ein heidnisches Königtum war aufgerichtet. Juda wird zuweilen besonders genannt, weil zu Jerusalem noch ein Überrest war, der allerdings noch strenger als die Masse des Volkes gerichtet wurde, nichtsdestoweniger aber doch noch bestand, und der, was seine Geschichte betrifft, selbst bis zu den letzten Tagen hin seine besonderen Schicksale haben wird. Im Neuen Testament finden wir dasselbe. Die Apostel reden von den zwölf Stämmen als miteinander vermengt, und doch treten in der Geschichte die „Juden“ (d. h. die zu dem Stamme Juda Gehörigen) immer besonders hervor. Im wesentlichen prophezeit ja Hesekiel unter denselben Umständen wie jene. Daher rührt auch zum Teil, wie wir schon bemerkten, die ihm gegebene Bezeichnung „Menschensohn“ her. Auch Daniel wird so genannt, ebenso wie „Vielgeliebter“. Nebukadnezar war der Mann der Macht; aber der, welcher das Volk vor Gott vertrat, war ein Hesekiel, und der Mann des Begehrens war ein Daniel, ein Vielgeliebter Gottes. Kehren wir jetzt zu der Zeitbestimmung zurück.
Die 390 Jahre entsprechen fast genau der Zeit des Bestehens Israels vom Tode Salomos an bis zur Zerstörung des Tempels. Einige sind der Meinung gewesen, die vierzig Jahre Judas wären von dem Passah Josias bis zu dem erwähnten Zeitpunkt zu rechnen, in der Annahme, die Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar wäre erst vier oder fünf Jahre nach der Wegführung Zedekias erfolgt. Letzteres ist aber ein Irrtum; die Zerstörung fand noch in demselben Jahre statt, nur einen Monat später. Jojakim wurde im achten Jahre Nebukadnezars weggeführt (2.Kön 24, 12); Zedekia regierte elf Jahre. Im neunzehnten Jahre Nebukadnezars verbrannte Nebusaradan das Haus Jehovas (Jer 52, 12 ff.), und wenn wir vom 6. Verse des angeführten Kapitels an lesen, so können wir sehen, daß dies noch in demselben Jahre, nur einen Monat nach der Einnahme Jerusalems, stattfand. Wenn man demnach die vierzig Jahre Judas als die Regierung Salomos annimmt, so würde damit gesagt sein, daß Israel seit Errichtung des Königtums nichts als Sünde getan hat; denn nur zu Salomos Zeiten herrschte eine friedliche Regierung. David gründete das Königtum; die Verantwortlichkeit seiner Familie begann mit Salomo (2.Sam 7).
In der Offenbarung, welche Hesekiel empfängt, wird Jerusalem eingenommen und seine Bevölkerung beinahe gänzlich vernichtet. Der zerstreute Überrest wird durch das Schwert verfolgt, und nur ein Teil desselben wird verschont. Und selbst von diesem Teil sollten noch einige ins Feuer geworfen werden. Dieses Feuer sollte das ganze Haus Israel erreichen; mit anderen Worten: das Gericht, welches den Überrest traf, der nicht in der Stadt umkam, sollte ein Bild des allgemeinen Zustandes Israels sein. So wird der Prophet beständig dahin geleitet, von der ganzen Nation zu reden. Denn solange zu Jerusalem noch ein Überrest war, hatte das Volk noch eine Stätte auf der Erde; sobald aber die gottlose Empörung Zedekias die Zerstörung Jerusalems herbeigeführt hatte, war dies nicht länger der Fall. Indessen enthält dieses Gericht über Jerusalem einige Punkte, die für das Verständnis dieses ganzen Teiles der Geschichte des Volkes und der Handlungen Gottes von großer Wichtigkeit sind. „So spricht der Herr, Jehova: Dieses Jerusalem, inmitten der Nationen habe ich es gesetzt; und Länder rings um dasselbe her“ (Hes 5, 5). Statt daß nun Jerusalem ein Zeugnis inmitten der Nationen gewesen wäre, so daß diese durch das Haus Jehovas angezogen oder doch wenigstens durch ein wahres Zeugnis für den dort wohnenden Gott unter Verantwortlichkeit gestellt worden wären - statt alles dessen waren die Bewohner Jerusalems in ihrer Bosheit noch weitergegangen als selbst die götzendienerischen Nationen um sie her. Deshalb wollte Gott vor den Augen aller Nationen Seine Gerichte an der Stadt vollziehen - eine gerechte Vergeltung ihrer Sünden. Auch sollte sie zur Einöde und zum Hohn unter den Nationen rings um sie her gemacht werden.
Dieses Gericht sollte sich indes nicht nur auf Jerusalem beschränken; es sollte an allen Höhen, an allen Bergen Israels zur Ausführung kommen (Kap. 6). Alle ihre Städte sollten verödet, alle ihre Götzen zerstört und das Volk zerstreut werden. Sie sollten erkennen, daß der Herr ihnen nicht umsonst mit Seinen Gerichten gedroht hatte. Das Feuer sollte sowohl die erreichen, die in der Ferne weilten, als auch die, welche im Lande waren. Das Land selbst sollte zu einer Wüste werden, und die Anbeter der Götzen sollten rings um ihre schändlichen Bilder her erschlagen liegen. Trotzdem wollte Gott Selbst mitten in der Ausführung des Gerichts nicht Seiner Barmherzigkeit vergessen. Von den Zerstreuten wollte Er einen kleinen Überrest verschonen, und die Entronnenen sollten wegen der Übeltaten, die sie begangen hatten, an sich selbst Ekel empfinden. Damit war sowohl Jerusalem gerichtet, als auch die Berge Israels, die ihrer Götzen und ihrer Höhen wegen nur zu bekannt waren.
Schließlich sehen wir im 7. Kapitel das ganze Land, „die vier Ecken des Landes“, unter dem Urteilsspruch Gottes. Diejenigen, welche dem allgemeinen Gericht entrinnen, trauern einsam auf den Bergen; in ihrer Verzweiflung haben sie alles im Stich gelassen; sie haben keine Kraft zum Widerstand. Die bösesten der Nationen sollten das Land in Besitz nehmen. Und da der zierende Schmuck Jehovas, den Er herrlich hingestellt hatte, durch ihre Greuelbilder entweiht worden war, so sollte er in die Hände von Fremden gegeben und durch sie entweiht werden. Die verborgene Stätte Seiner Heiligkeit sollte entweiht werden. Verderben auf Verderben sollte kommen und kein Heilmittel da sein. Jehova wollte mit dem Volke nach seinen eigenen Wegen handeln und mit seinen eigenen Rechten es richten.
Somit war ein feierliches Gericht über die ganze Nation ausgesprochen. Alles ist der Verwüstung preisgegeben, und was die Beziehungen Israels zu Gott betraf - seien es diejenigen des Volkes selbst, oder die durch das Haus Davids vermittelten, welches verantwortlich war, diese Beziehungen aufrechtzuerhalten -, so war alles endgültig verloren. Wohl mochte ja die Gnade immer noch in Ausübung kommen, aber das Volk und das Haus Davids hatten sich als völlig unfähig erwiesen, der ihnen von Gott zugewiesenen Stellung zu entsprechen. Der Name Gottes war durch Sein Volk nicht verherrlicht, sondern verlästert worden. Das einzige Zeugnis, das jetzt noch für Ihn abgelegt werden kann, ist die Ausführung des Gerichts. Das Gericht ist vollständig; es hat die vier Ecken des Landes getroffen; Israel ist nicht länger eine Nation. - Welch ein ernster Gedanke ist es, daß das einzige Zeugnis, welches noch für Gott abgelegt werden kann, in der Ausführung des Gerichts besteht.
Mit Kapitel 7 schließt diese erste Weissagung. Sie ist von weitgehender Bedeutung, da sie die volle Ausführung des Gerichts über das Volk Gottes auf Erden ausspricht.