Betrachtung über den Propheten Hesekiel (Synopsis)
Kapitel 1-3
Im 1. Kapitel finden wir eine Zeitbestimmung, die sich auf das Jahr bezieht, in welchem unter dem König Josia das Passah gefeiert wurde; aus welchem Grunde aber hierauf Bezug genommen wird, kann ich nicht sagen. Man hat gedacht, daß die dreißig Jahre mit dem Jubeljahre in Verbindung ständen; doch kann ich betreffs dieses Punktes nicht mit Gewißheit reden. Aber es werden hier andere Umstände erwähnt, die von großer Wichtigkeit sind.
Der Thron Gottes wird nicht in Jerusalem gesehen, sondern ohne Verbindung mit der Stadt und außerhalb derselben. Es ist der Thron der allgemeinen, unumschränkten Regierung Gottes, von welchem aus Er sogar die Stadt selbst richtet. Mit der Beschreibung dieses Thrones beginnt die Weissagung. Wir sehen den Thron durch bildliche Darstellungen der charakteristischen Eigenschaften Gottes gestützt, wozu die vier Arten der auf Erden geschaffenen Wesen benutzt werden, und zwar sind die vier, wenigstens die Häupter derselben, in eins vereinigt. Fast genau dieselben Sinnbilder sind von den heidnischen Erfindern des Götzendienstes zur Darstellung ihrer Götter gebraucht worden. Der förmliche Götzendienst nahm damit seinen Anfang, daß die Menschen die Eigenschaften Gottes als ebenso viele einzelne Personen zu betrachten und dementsprechend bildlich darzustellen begannen. Diese Eigenschaften wurden ihre Götter, und zwar waren es Dämonen, welche die Menschen hierbei leiteten und durch dieses Mittel beherrschten, so daß eigentlich die Dämonen von den Menschen angebetet wurden. Diese Anbetung sank bald auf eine so tiefe Stufe herab, daß die Menschen für alles das, was irgendwie ein Gegenstand ihrer Wünsche oder ihrer Befürchtungen sein oder was den Begierden entsprechen konnte, welche jene Wünsche oder Befürchtungen hervorriefen, sich einen Gott machten (aber auch hier war es der Dämon, der alle solche Gefühle in den Menschen bildete und pflegte, damit ihm die Gott allein gebührende Anbetung zuteil würde). - Die hier bildlich dargestellten Eigenschaften nun gehörten ausschließlich dem alleinigen Gott, dem Schöpfer und Haupt aller Schöpfung, an; allein so mächtig und herrlich sich ihre Tätigkeit auch entfalten mochte, es waren doch nur die Stützen des Thrones, auf welchem der Gott der Wahrheit Seinen Sitz genommen hat 1. Welche Werkzeuge Er auch gebrauchen mag, es ist immer die mächtige Kraft Gottes, die sich offenbart. Einsicht, Stärke, Festigkeit, Schnelligkeit in Vollstreckung der Gerichte, dazu die Bewegung des ganzen Laufs irdischer Ereignisse - alles war von dem Throne abhängig. Majestät, Regierung und Vorsehung sehen wir vereinigt, um den Thron Seiner Herrlichkeit zu bilden. Aber alle Werkzeuge Seiner Herrlichkeit befanden sich unter der „Ausdehnung“, Der, welchen sie verherrlichten, über derselben. Er ist es, den die Heiden nicht kannten.
Dieser Thron des höchsten und unumschränkten Jehova-Gottes wird in Chaldäa 2 gesehen (an dem Platze, wo der Prophet sich damals befand) unter den Nationen, aber nicht länger in Jerusalem in Verbindung mit dem Lande. Auch ist in dem Throne nicht irgendein Gesetz verkörpert (wenn ich mich so ausdrücken darf), demgemäß eine unmittelbare Regierung ausgeübt würde. Daher redet die Stimme Gottes auch Hesekiel als einen „Menschensohn“ an, welche Bezeichnung dem Charakter des damaligen Zeugnisses Gottes entsprach, denn Er redete außerhalb Seines Volkes, als Einer, der nicht länger inmitten desselben wohnte, sondern im Gegenteil es von dem Throne Seiner unumschränkten Herrschaft aus richtete. Es ist der Titel Christi Selbst, wenn Er als von Israel verworfen und außerhalb desselben stehend betrachtet wird, obgleich Er ja nie aufhört, der Segnung dieses Volkes in Gnade zu gedenken. Auf diese Weise kommt der Prophet in Verbindung mit der Stellung Christi Selbst. Als Christus von Israel verworfen war, wollte Er Seinen Jüngern nicht länger erlauben, Ihn als den Christus zu verkündigen (Lk 9), denn der Sohn des Menschen sollte leiden.
Dem Zeugnis nach und als Beispiel, was seine Stellung als Prophet betrifft, geschieht in dem Falle Hesekiels dasselbe. Da Gott verworfen ist, nimmt Sein Prophet ebendenselben Platz mit Seinem Throne ein, um die ganze Nation und besonders Jerusalem zu richten; gleichzeitig kündigt er (für den Glauben) ihre Wiederherstellung in Gnade an. Er wird von Jehova zu einem empörerischen Volke gesandt, um ihnen zu sagen, daß Jehova gesprochen habe, mochten sie nun hören wollen oder nicht. Das Gericht würde es offenbar machen, daß ein Prophet unter ihnen gewesen war. Sein erstes Zeugnis ist aus Klagen und Seufzen und Wehrufen zusammengesetzt; trotzdem ist die Mitteilung des Wortes Gottes, wenn sie als eine Offenbarung von Ihm, die zwischen Ihm und dem Menschen stattfindet, betrachtet wird, stets voll Süßigkeit (vgl. Hes 3, 1-3).
In Kapitel 3 werden dann einige wichtige Grundsätze, die Beziehungen Gottes zu Israel betreffend, dargelegt.
Ehe wir weitergehen, müssen wir jedoch noch einen Charakterzug erwähnen, durch welchen sich das Buch Hesekiels von demjenigen Jeremias unterscheidet. Der letztere wendet sich unmittelbar an seine Zeitgenossen, d. h. an das Volk Gottes, und zwar in einem Zeugnis, das sich erst durch das zerschlagene und verwundete Herz des Propheten seinen Weg bahnt und so dazu dient, die wunderbare Geduld Gottes an den Tag zu legen, der bis zum letzten Augenblick Sein Volk zur Buße einladet. Bei Hesekiel ist es nicht so. Er macht auf das aufmerksam, was das Gericht notwendig herbeiführen muß. Er ist allerdings zu Israel gesandt, aber zu einem Israel, das sich in einem verhärteten Zustand befindet. Sein Mund ist dem Volke gegenüber verschlossen; er soll es nicht zurechtweisen. Wohl mag er in einem passenden Augenblick, wenn Jehova seinen Mund öffnet, um das Volk erkennen zu lassen, daß ein Prophet in seiner Mitte weilt, diesem Volk bestimmte Erklärungen Jehovas mitteilen; aber er wendet sich nie unmittelbar an das Herz und Gewissen desselben, als beschäftige Gott Sich noch mit ihm. Jehova offenbart ihm die Sünden Seines Volkes, welche Ihn nötigen, Israel zu verwerfen und ihm gegenüber nicht länger nach den von Ihm Selbst festgesetzten Regierungsgrundsätzen zu verfahren. Er konnte es nicht länger wie ein von Ihm anerkanntes Volk behandeln. Gott Selbst stellt das Verhalten Israels als die Veranlassung zum Abbruch Seiner Beziehungen zu ihm dar. Gleichzeitig werden bestimmte neue Grundsätze geoffenbart, die fernerhin für das Verhalten maßgebend sein sollen. Ich spreche hier nur von demjenigen Teil der Weissagung, welcher Israel zum Gegenstand hat; denn das Buch enthält außerdem verschiedene Gerichte, die an den Nationen vollzogen werden sollen, sowie eine Beschreibung des zukünftigen Zustandes des Landes und des Tempels; indessen sollte der Prophet dem Volke diese Beschreibung nur mitteilen, wenn es Buße täte.
In Kapitel 3 bezeugt der Herr, daß Israel noch verhärteter sei als irgendeine der heidnischen Nationen; es ist „von harter Stirn und verstockten Herzens“. Damit nun Hesekiel die ihm aufgetragene Botschaft, nämlich: „sie mögen hören oder es lassen“, an das Volk ausrichten konnte, mußte auch seine Stirn so hart wie ein Diamant gemacht werden. Die Kraft des Geistes trägt ihn in die Mitte der Gefangenen zu Tel-Abib. Obgleich das Haus Israel, wie gesagt, verhärtet war, so unterschied Gott doch einen Überrest, und zwar in folgender Weise: der Prophet mußte einzelne warnen; zu diesem Werk war er bestimmt. Wurde sein Wort angenommen, so sollte derjenige, welcher ihm Gehör gab, verschont bleiben. Hesekiel war für die Ausführung dieses Auftrags verantwortlich; doch ein jeder sollte, nachdem er einmal das Wort gehört hatte, die Folgen seines eigenen Verhaltens tragen. Auf diese Weise wurde Israel nicht länger als ein Ganzes gerichtet, wie es einst der Fall gewesen war, als alles von dem öffentlichen Verhalten der Nation oder des Königs abhing. Israel, als Volk, hatte sich empört; wer indessen dem Worte noch Gehör gab, sollte am Leben bleiben. Gott handelte nach Seiner Langmut und Gnade.
Aufs neue sieht der Prophet in der Einsamkeit die Herrlichkeit Jehovas, und der Geist befiehlt ihm, nicht unter das Volk hinauszugehen, sondern vielmehr in seinem Hause ein Gefangener zu sein. Gott würde seine Zunge an seinem Gaumen kleben lassen; denn es war ein widerspenstiges Volk, das nicht mehr als Volk gewarnt werden sollte. Gott würde, wenn es Ihm gefiele, den Mund des Propheten öffnen, und dann sollte er dem Volke das Wort Jehovas in ganz entschiedener Weise vorstellen. Wer dann hören wollte, der mochte hören! Jehova wollte nicht länger in Liebe Vorstellungen machen, wie Er es vordem getan hatte.
Fußnoten
- 1 Ungläubige Gelehrte, die der Erkenntnis Gottes ermangeln und sich darum in ihren Anschauungen nicht über das Irdische und sinnlich Wahrnehmbare zu erheben vermögen, haben in den mit Flügeln und Menschenköpfen versehenen Stier- und Löwenbildern, die in Ninive aufgefunden worden sind, den Ursprung des Gesichts Hesekiels erkennen wollen. Sie täuschen sich aber, weil sie Den weder sehen noch erkennen können, der über jenen lebendigen Wesen thronte. Es ist mir ganz unzweifelhaft, daß jene Bilder wesentlich dasselbe darstellten wie die Cherubim; aber die armen Heiden, die sich, gleich den erwähnten Ungläubigen in ihrer Gelehrsamkeit, von Satan irreführen ließen, brachten dem, was sich unter „der Ausdehnung“ (Hes 1,22) befand, Anbetung dar. In dem Gesicht Hesekiels waren die lebendigen Wesen nur Sinnbilder, durch welche Eigenschaften Gottes dargestellt wurden, während Der, dem Anbetung gebührte, über „der Ausdehnung“ thronte. Das ist der große Unterschied (wenigstens was diese Seite der Sache betrifft) zwischen Götzendienst und der Offenbarung Gottes.
- 2 Ich meine damit nur: in dem Gebiet des chaldäischen Reiches. Es war an dem Flusse Kebar, welcher mehr im Nordwesten von Mesopotamien zu suchen ist.