Betrachtung über das Buch Klagelieder (Synopsis)
Kapitel 3
Im Blick auf das Gericht über Jerusalem, wo Gott gewohnt hatte, finden wir hier die Sprache des Glaubens, des leidtragenden Glaubens, des Geistes Christi in dem Überrest. Vorher hatte der Prophet (oder vielmehr der Geist Christi in ihm) im Namen Jerusalems gesprochen, indem er ihre Leiden beklagte und ihre Sünde bekannte, während er zugleich wegen ihrer Feinde zu dem HERRN schrie. Er hatte aufgezählt, was der HERR getan hatte, indem Er sein Heiligtum verließ, und (von Klgl 2, 11 an), angesichts des Unglücks, der Tiefe ihrer Trübsal Ausdruck gegeben. Im 3. Kapitel dagegen nimmt er seinen Platz inmitten des Unglücks ein, um den Gefühlen des Geistes Christi Worte zu leihen, allerdings nicht in völlig unvermischter Weise entsprechend der Vollkommenheit Christi selbst, sondern nach dem, wie der Geist in seinem Herzen wirksam war (wie dies im allgemeinen bei Jeremia der Fall ist), indem der Prophet seinen eigenen Schmerz ausdrückt, einen Schmerz, der durch den Geist hervorgerufen, aber in die Gefühle des Herzens des Propheten gekleidet ist. Auf diese Weise sollte das zum Ausdruck gebracht werden, was in Wirklichkeit das Herz eines treuen Israeliten damals bewegte, die Echtheit dessen, was an jenem Tag der Angst und der Bedrängnis das Erhabenste war – einem Tag, an dem leider von dem Volk nicht mehr zu hoffen war als von den Feinden, die es bedrängten, und an dem das Herz des Treuen ohne Hoffnung auf ein Heilmittel litt, und zwar viel mehr litt um des Volkes willen, das nicht der Stimme des HERRN Gehör geben wollte, als wegen der Feinde, die ihm zum Gericht erweckt worden waren. – Wieviel hat Christus gelitten! Was sein Geist in einem menschlich schwachen Herzen hervorruft, das hat Er selbst erfahren und seiner ganzen Ausdehnung nach empfunden; nur dass Er in all der Trübsal, die sein Herz durchmachen musste, Sich vollkommen erwies.
Im 3. Kapitel drückt also der Prophet in seiner eigenen Person durch den Geist Christi alles das aus, was er fühlte, indem er an der Trübsal Israels teilnahm und zu gleicher Zeit der Gegenstand ihrer Feindschaft war, – eine Stellung, die derjenigen Christi merkwürdig ähnlich ist. Welches Leiden könnte den Gefühlen eines Mannes gleichkommen, der die Leiden des Volkes Gottes teilt, ohne imstande zu sein, das Unglück abzuwenden, weil das Volk sich weigert, auf die Botschaft Gottes zu hören, und der diese Trübsale mit dem Gefühl auf seinem Herzen trägt, dass, wenn das törichte Volk nur hätte hören wollen, der Zorn Gottes abgewendet worden wäre? So lautete der klagende Ausruf Christi selbst: „O wenn du erkannt hättest usw.!“ Im Grund nahm Jeremia an denselben Empfindungen teil; doch sehen wir bei ihm mehr, dass er zum Volke gehört und in seiner eigenen Person an den Folgen des Unglücks teilnimmt, indem er sich mit dem Volk zusammen diesen Folgen ausgesetzt sieht, weil es sein Zeugnis verworfen hatte. Dies kann auch von dem Herrn am Ende seines Lebens oder auf dem Kreuz gesagt werden. Indes nimmt diese Empfindung, die auch bei Hiob ein wenig zu Tage tritt, hier die Form eines persönlichen Gebets an, in dem Klagen über persönliche Leiden geäußert werden. Jeremia leidet für das Zeugnis und infolge der Verwerfung des Zeugnisses. In den ersten neunzehn Versen des 3. Kapitels kommt dieser Zustand zum Ausdruck. Es ist ganz und gar der Geist des Überrestes und mit Ausnahme der Empfindung, die ich soeben erwähnt habe, ist es das, was sich in vielen Psalmen ausgedrückt findet. Christus selbst ist, wenn wir das Kreuz mit in Betracht ziehen 1, tatsächlich in alles dieses eingegangen.
Der Prophet spricht wie einer, der in seinem eigenen Herzen den tiefen Kummer über alles das getragen hat, was der HERR über Jerusalem gebracht hatte; aber er fühlte ihn wie jemand, der Gott als seinen Gott kennt, so dass er erproben konnte, was es heißt, der Gegenstand des Zornes Gottes zu sein. Er litt mit Jerusalem, und er litt für Jerusalem. Aber die Wirklichkeit dieses Verhältnisses zu dem HERRN hielt ihn, während es ihn einerseits die Trübsal tiefer empfinden ließ, andererseits aufrecht (V. 22). Er beginnt zu fühlen, dass es schließlich doch besser ist, es mit dem HERRN zu tun zu haben, obgleich, von einer anderen Seite aus betrachtet, gerade dieser Umstand die Sache nur um so schmerzlicher machte. Er fühlt, dass es gut ist, betrübt zu sein und auf den HERRN zu harren, der schlägt; denn er verstößt nicht auf ewig. Er plagt nicht von Herzen, sondern weil es notwendig ist. Warum sich über die Bestrafung der Sünden beklagen? Besser wäre es, zu dem HERRN umzukehren. Er ermuntert Israel, dies zu tun, und während er der Bedrängnis seines trauernden Volkes gedenkt, ist der Glaube in Tätigkeit, bis der HERR einschreiten wird. Es ist gut, wenn eine derartige Bedrängnis gefühlt wird; der einzige Schaden wäre der, wenn ihr gestattet würde, das Vertrauen auf den Herrn zu schwächen.
Der Prophet ruft die Drangsal Jerusalems ins Gedächtnis zurück, und indem er der Art und Weise gedenkt, wie ihm selbst Hilfe zuteil geworden war, benutzt er die ihm widerfahrene Güte dazu, seine Zuversicht, dass Gott dem Volk dieselbe Güte erzeigen werde, zu stärken. Was aber die Stolzen und Leichtfertigen betrifft, die die Wahrheit verwerfen, deren Feindschaft gegen Gott sich in der Feindschaft gegen diejenigen, die die Träger seines Wortes waren, offenbart, so ruft er das Gericht Gottes auf sie herab 2. So im Geist erleichtert, indem sein Herz von dem Bewusstsein erfüllt ist, dass gerade das, was den Kummer so tief machte (nämlich dass das Unglück von dem HERRN kam), zugleich ein Trost für das Herz war, kann Jeremia sich zu der Trübsal selbst wenden, indem er ihre ganze Ausdehnung überschaut, die die Angst seiner Seele ihn nicht hatte völlig erkennen lassen, bis er zu ihrer wahren Quelle zu gelangen vermochte. Jetzt kann er, obgleich mit tiefem Schmerz, aber doch mit mehr Ruhe, auf Einzelheiten eingehen, weil sein Herz in der Gegenwart Gottes ist. Das Gefühl der Unruhe und des Schmerzes bei dem Gedanken, dass Gottes Gericht auf diejenigen fällt, die Er liebt, ist nicht sündig, obgleich in Jeremias Fall sein Herz ihn manchmal irre führte.
Es ist recht, traurig und gleichsam überwältigt zu sein, wenn Gott wohl nicht gerade das Verhältnis, aber doch seine gegenwärtige Verbindung mit dem abbricht, was der Gegenstand seiner Gunst war und was den Namen und das Zeugnis Gottes trug. Christus fühlte dies für Sich selbst, doch ging bei Ihm der Schmerz viel weiter: „jetzt ist meine Seele bestürzt, und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde!“ Nur ist in Christus alles vollkommen; und wenn Er in Vollkommenheit den tiefen Schmerz fühlt, dass der Gegenstand der Liebe Gottes zum Gegenstande seines Gerichtes wird – ein Gefühl unvergleichlichen Kummers, da Er diese Tatsache zugleich nach der Vollkommenheit der Wege Gottes sieht – so kann Er sagen: „Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen!“ Er war selbst notwendigerweise der Gegenstand der ganzen Zuneigung Gottes und darum (wenn das Gericht Gott verherrlichen sollte) auch der Gegenstand eines vollkommenen Gerichts, das heißt eines völligen Verlassenseins von seiten Gottes. Das Schreckliche bei diesem Gedanken besteht darin, dass der Wechsel seiner Stellung in Beziehung zu Gott, entsprechend der Vollkommenheit des Verhältnisses, in dem Er stand, ein unbedingter und vollkommener war. Er erlitt das Verlassensein von Gott, anstatt die unendliche Gunst zu genießen, die Er kannte.
Bei Jerusalem war es etwas Ähnliches; und Jeremia, der durch den Geist Christi die Kostbarkeit dieses Verhältnisses empfand und als einer, der daran teil hatte, in dasselbe einging, leidet mit dem, was so von Gott gerichtet wurde. Nur muss er, obgleich er vom Geist Christi getrieben wird, erst das Gleichgewicht seiner Seele wiederfinden; er muss den HERRN suchen, um inmitten all seines persönlichen Kummers und der wahren, aber menschlichen Regungen eines Herzens, das durch die Umstände erschüttert und zu Boden geschmettert war, Ihn in die Trübsal hineinzubringen. Er vereinigte sich mit Jerusalem, indem er sich auf dessen Stellung vor Gott stützte, und nicht, wie unser hochgelobter Herr es tat, einzig und allein für Gott und wie Gott selbst. Es befand sich ein Gegenstand (ein solcher zwar, der auch von Gott geliebt wurde) zwischen seiner Seele und Gott, den er nicht ausschließlich in Gott und mit der Liebe Gottes liebte. Doch die richtige Grundlage war da, und er findet den HERRN, zuerst trotz der Trübsal, aber bald auch in der Trübsal selbst, und er erholt sich sofort wieder, nicht von der Trübsal, sondern in derselben durch die Kraft Gottes. Christus kann sagen: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen usw.“ Das war die Liebe Gottes. Jeremia bekennt die Sünde und war schuldig, sie zu bekennen. Aber dieser Gedanke ändert insoweit den Charakter der Gefühle (siehe Klgl 1, 19. 20).
Christus sah sich in keiner Weise nach einer Hilfe um, als ob Er selbst bei der Sache beteiligt gewesen wäre. Seine Trübsal war unvermischt und wurde einzig und allein von Ihm gefühlt (sie war weit tiefer, denn wer konnte an ihr teilnehmen?), aber vollkommen, da sie über Ihn allein kam. So kann Er in Johannes 12, wenn es Ihn persönlich betrifft (denn dieses Evangelium setzt den alten Weinstock als verworfen beiseite), nicht wünschen, dass die Stunde des Verlassenseins von Gott über Ihn kommen möge; Er musste mit Furcht erfüllt und bestürzt sein, und darum wurde Er auch erhört. Aber es ist eine Sache zwischen Gott und Ihm allein. Kein anderer Gedanke tritt dazwischen: Er hat es ausschließlich mit Gott zu tun. Ach, wäre es möglich gewesen, dass es anders hätte sein können, so wäre alles verloren gewesen. Aber nein, wir sehen hier die völlige Unterwerfung des vollkommenen Menschen, der danach trachtet (und einzig und allein danach trachtet), dass der Name Gottes entsprechend der Vollkommenheit Gottes verherrlicht werde, dass, möge es Ihn selbst kosten, was es wolle, Gottes Name verherrlicht werde. Er handelt hier nicht als Gott, der notwendigerweise die Ehre seines Namens aufrechterhalten muss, sondern als Einer, der sich allem unterwirft, der Sich selbst aufopfert, damit Gott seinen Namen verherrlichen könne. Deswegen hat Er auch als Mensch die höchste Ehre und Herrlichkeit empfangen – ein bewundernswürdiges Geheimnis, das die Herrlichkeit Gottes von Ewigkeit zu Ewigkeit ausstrahlen lassen wird.
Fußnoten
- 1 Ich sage: wenn wir das Kreuz mit in Betracht ziehen; denn obwohl Christus vieles davon in seinem Kummer gefühlt haben mag, als Er sich dem Kreuz näherte, so gibt es hier doch Ausdrücke, die sich nur auf Ihn als dort leidend anwenden lassen. Die eigentliche, unmittelbare Anwendung geht auf den Überrest (wie es auch mit den Psalmen der Fall ist) und im Besonderen auf Jeremia.
- 2 In allem diesem steht der Geist dieser Stellen in wunderbarer Übereinstimmung mit demjenigen der Psalmen, was ja auch sehr natürlich ist. Die Art und Weise, in der Christus hierauf einging, ist in der Betrachtung über das Buch der Psalmen besprochen worden. Christus ging in Gnade durch alles hindurch, damit sie hinsichtlich ihres eigenen Zustandes und ihres Gefühls in einer solchen Stellung vollkommen gemacht würden. Vergleiche das, was oben folgt.