Betrachtung über das Evangelium nach Johannes
Kapitel 11
So stand es mit Israel. Sie wurden in Unglauben und Finsternis gelassen, da sie die Angebote des Sohnes Gottes verschmäht hatten. Aber die vorliegenden Kapitel zeigen, dass sie ihre Gnade wohl verzögern, aber nicht vereiteln konnten. Gottes Vorsatz ist es zu segnen, und Er wird segnen. Auf Grund Seines eigenen Bundes, das heißt in der Macht und Gnade der Auferstehung, wird Er Israel den Segen bringen. Als Der, der Leben aus dem Tod hervorbrachte, war Er einst mit ihrem Vater Abraham ein Bündnis eingegangen. In diesem Charakter erschien Er auch Mose am Horeb als die Hoffnung der Nation (2. Mo 3; Lk 20,37). Durch die Auferstehung wollte Er Israel den verheißenen Propheten gleich Mose geben (5. Mo 18; Apg 3). In diesem Sinn sprachen auch alle Propheten von Ihm als Dem, der in späteren Tagen für den Samen Israels handeln wird, und auch der Apostel Paulus teilt uns mit, dass die Auferstehung Jesu das Unterpfand alles den Vätern verheißenen Segens ist (Apg 13,33). Jehova wird das Leben und die Herrlichkeit Israels in Auferstehungsmacht und -gnade wiederherstellen. Wenn ihre ganze eigene Kraft dahin ist, wird Er selbst zu ihrer Hilfe aufstehen. Er wird Herrlichkeit pflanzen in dem Land der Lebendigen. Die Unfruchtbare wird ein Haus haben. Der Herr wird sie aus den Gräbern rufen und die verdorrten Gebeine lebendig machen. Alles was Er an Israel tun wird, wird in den beiden vorliegenden Kapiteln vorgebildet und angekündigt. Die vorhergehenden Kapitel hatten Israel in seinem Verderben und in seiner Entfernung von Gott gezeigt, aber hier, in der Auferweckung des Lazarus und ihren Ergebnissen, gibt ihnen der Herr, bevor Er sich selbst ganz vor ihnen verbirgt, das sichere Unterpfand des endgültigen Lebens und der schließlichen Herrlichkeit.
Das ist, wie ich nicht zweifle, der allgemeine Inhalt dieser beiden Kapitel (Joh 11; 12). Sie bilden daher eher eine Art Anhang zu dem vorigen Abschnitt, als einen besonderen Teil des Evangeliums.
Der Herr hatte Judäa verlassen und sich jenseits des Jordan zurückgezogen, als Ihn die Botschaft erreichte, dass in Judäa einer, den Er liebte, krank wäre. Er blieb an dem Ort, wo Er war, bis die Krankheit ihren Lauf genommen und mit dem Tod geendet hat. Dann begibt Er sich auf die Reise, denn jetzt kann Er es als der Sohn Gottes tun, als Der, der aus dem Tod lebendig macht. Und im vollen Bewusstsein, dass Er in diesem Charakter zu handeln im Begriff ist, geht Er voran und sagt: „Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken” (V. 11).
Hier muss ich ein wenig verweilen. Die Worte der beiden Schwestern im Verlauf dieses Kapitels lauten übereinstimmend: „Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben.” Sie waren nicht mit dem göttlichen Geheimnis, dem Geheimnis des Sohnes Gottes, vertraut. Er war jetzt in diese Welt gekommen, wie Er einst in das Haus Abrahams gegangen war, als Der, der aus den Toten wieder lebendig macht. Er brachte siegreiches Leben mit sich. In dieser Herrlichkeit musste Er geoffenbart werden. Das hatte schon stattgefunden, seit die Sünde in die Welt gekommen war und den Tod eingeführt hatte. Aber die Natur ist diesem großen Geheimnis nicht gewachsen. Der Glaube erfasst es und spricht davon. Glaube aber ist das Werk Gottes. Als Petrus dieses Leben in Jesu erkannte und Ihn als den Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, bezeugte, wurde ihm gesagt, dass der Vater ihm dies offenbart hätte (Mt 16). In unserem Kapitel finden wir nichts dergleichen. Alle sprechen vom Tod und nicht vom Leben, selbst Martha und Maria. Aber Jesus hatte Leben in sich und sah es vor sich. „Ich bin die Auferstehung und das Leben”, sagt Er, „wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit”.
Das so gekennzeichnete Leben, das der Sohn uns mitteilt, ist ewiges, untrügliches, siegreiches Leben, und der Glaube ergreift es, empfängt es und genießt es. „Wer den Sohn hat, hat das Leben.” Petrus war es, wie gesagt, vom Vater geoffenbart worden (Mt 16). Jesus hatte die Kenntnis davon in sich selbst (Joh 2,19; 8,51; 11,25). Das leere Grab verkündete und bezeugte es (Joh 20), und der auferstandene Christus teilte es mit (Joh 20). Es ist ebenso unantastbar wie es ewig oder siegreich ist. Der Tod kann es nicht erreichen und des Hades Pforten es nicht überwältigen.
Welche Darstellung des Lebens in einer Welt, in welcher „Sünde geherrscht hat im Tod“! Welche Herrlichkeit für Gott! Welche wirksame Hilfe und welcher Trost für uns! Es ist Leben, das aus dem Tod kam, und das durch die Abschaffung der Sünde durch das unschätzbar köstliche Opfer des Lammes, des Sohnes Gottes, hervorgebracht wurde, der „sich selbst durch den ewigen Geist ohne Flecken Gott geopfert hat”. Welch ein Geheimnis! „Gebt Acht, Brüder, dass nicht etwa in jemand von euch ein böses Herz des Unglaubens sei in dem Abfallen von dem lebendigen Gott” (Heb 3,12) 1.
Doch wir müssen dieses kostbare, wunderbare Thema verlassen. Der Herr trug hier in unserem Kapitel ebenso bewusst den Tag in sich wie das Leben, denn „das Leben war das Licht der Menschen”. So antwortet Er auch auf die Befürchtungen der Jünger: „Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag wandelt, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht.” Er sah nicht nur das Licht der Welt, sondern Er war es auch, nicht nur ein Kind des Lichts, sondern die Quelle des Lichts. Seine Jünger sind jedoch träge im Hören; sie erkennen weder die Stimme des Sohnes Gottes, noch sehen sie den Weg des Lichts des Lebens. Sie urteilen, dass eher der Tod Ihn erreichen, als dass das Leben zu anderen gelangen könne, und einer sagt: „Lasst auch uns gehen, dass wir mit ihm sterben!” (V. 16). In diesen Worten mochte menschliche Zuneigung gelegen haben, aber sie zeugten zugleich von trauriger Unkenntnis über Seine Herrlichkeit. Die Jünger hier gleichen den Frauen später, die mit liebenden Herzen ihre Spezereien zum Grab des Heilands brachten, obwohl sie hätten wissen können, dass Er dort nicht mehr war.
Der Sohn Gottes, der aus dem Tod Leben hervorbringt, geht weiter, und Sein Weg führt zu dem Grab des Lazarus, Seines Freundes, nach Judäa. Dort steht Er und sieht sich dem Triumph der Sünde in seinem ganzen Ausmaß gegenüber, denn „Sünde hat geherrscht im Tod” und hat hier alles beendet; Satan hatte gesiegt. „Jesus vergoss Tränen.” In einem anderen Evangelium hatte Er als der Sohn Davids über die Stadt geweint, die Er erwählt hatte, um Seinen Namen dorthin zu setzen, weil sie Ihn zurückgewiesen hatte. Aber hier weint der Sohn Gottes, der Leben in sich selbst hat, über die Erscheinung des Todes. Aber Er seufzte auch in sich selbst, und „Der, der die Herzen erforscht”, kannte dieses Seufzen. Jesus, in der vollen Gewissheit, dass Er erhört würde, brauchte nur die Antwort mit Danksagung entgegenzunehmen und in der Kraft dieser Antwort zu sagen: „Lazarus, komm heraus”. Und der, welcher tot war, kam heraus als ein Zeugnis für das Wort des Herrn: „Gleichwie der Vater Leben in sich selbst hat, also hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst.”
Er war der Macht der Sünde auf ihrem Höhepunkt begegnet und hatte gezeigt, dass Er über der Macht der Sünde stand als die Auferstehung und das Leben.
Aber der, der die Macht des Todes hatte, war nicht zunichte gemacht worden, denn der Urheber unserer Erlösung war noch nicht gestorben und auferstanden. Wir finden hier auch kein Unterpfand für die Auferstehung der Heiligen in verherrlichten Leibern, denn Lazarus kam heraus, an Händen und Füßen mit Grabtüchern gebunden, um wieder in Fleisch und Blut zu leben. Es war vielmehr ein Pfand der belebenden Macht des Sohnes Gottes für Israel, um ihnen zu zeigen, dass die verheißene Auferstehung oder Wiederbelebung der Nation auf Ihm ruhte, und dass Er dieses Pfand zu gegebener Zeit einlösen würde 2.
Aber Israel hatte weder Augen, um dieses Zeichen der Gnade zu sehen, noch ein Herz, um es zu verstehen. Anstatt die Grundlage ihres Glaubens zu werden, wird dieses Zeichen zu einem Anlass, die Wirksamkeit ihrer völligen Feindschaft zu entfalten. „Von jenem Tag an beratschlagten sie nun, um ihn zu töten” (V. 53). Die Weingärtner schicken sich an, den Erben des Weinbergs hinauszuwerfen. Ihre vollkommene Abkehr von ihrem Vater Abraham, ihre völlige Abtrünnigkeit von Gott wird offenbar. Israel war aus den Nationen für Gott abgesondert worden, aber sie nehmen jetzt vorsätzlich ihren Platz wieder unter den Nationen ein. Im Gegensatz zu Abraham nehmen sie gleichsam Geschenke von dem König von Sodom, anstatt den Segen aus der Hand Melchisedeks. Sie wählten lieber die Schutzherrschaft Roms als die Auferstehungsmacht des Sohnes Gottes. „Wenn wir ihn so gewähren lassen”, sagen sie, „werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und sowohl unseren Ort als auch unsere Nation wegnehmen”. Das Gericht kommt über sie: „Hörend hört, und versteht nicht; und sehend seht, und erkennt nicht!” (Jes 6,9). Denn als sie die Stimme des Geistes in ihrem Hohenpriester hörten, hatten sie kein Ohr zu hören, noch hatten sie geöffnete Augen, um die Werke des Sohnes Gottes zu erkennen, die Er unter ihnen tat.
Dennoch war Er der Erwecker Israels, und am Ende der Tage werden die verdorrten Gebeine das Wort des Herrn hören und leben, wovon, wie bemerkt, Lazarus ein Vorbild ist.
Fußnoten
- 1 Hierbei möchte ich noch etwas über die Tränen Jesu sagen. Das Bewusstsein, dass Er Auferstehungskraft in sich trug und im Begriff stand, das Haus in Bethanien mit der Freude wiedergeschenkten Lebens zu erfüllen, hemmte nicht den Lauf Seiner natürlichen Gefühle. Jesus weinte. Sein Herz war dennoch empfänglich für den Kummer und die Erniedrigung des Todes. Seine Ruhe während dieser wunderbaren Szene war nicht Gleichgültigkeit, sondern Ergebenheit. Seine Seele befand sich in dem Sonnenschein jener Gefilde, wo es keinen Tod gibt, die weit jenseits des Grabes des Lazarus liegen. Nichtsdestoweniger suchte Er das „Tränental“ auf und weinte mit den Weinenden.
- 2 Ich möchte noch ein wenig die Wege Marthas und Marias, wie sie sich uns hier zeigen, berühren. Martha geht aus, um den Herrn zu treffen, als sie hört, dass Er komme, aber sie begegnet Ihm nicht in Wahrheit. Er war erhaben über sie. Er war in dem Bewusstsein der Herrlichkeit, die sie noch nicht erfassen konnte, und spricht von Seiner Erhabenheit: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, während sie von ihrem Standpunkt aus sagt: „Ich weiß, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am letzten Tag.“ So gab es einen Abstand zwischen ihnen, dessen Bewusstsein Martha schmerzlich war, so dass sie ihres Weges geht. Ich glaube aber, dass eine innere Stimme ihr sagte, dass ihre himmlischer gesinnte und besser belehrte Schwester den Herrn besser als sie verstehen würde. In diesem Gefühl geht sie hin und sagt Maria, dass der Meister gekommen sei und sie rufe. Ich nehme an, dass dieses der Sinn ihres Wortes zu ihrer Schwester war. Der Herr hatte eigentlich nicht nach Maria verlangt, aber noch weniger war Martha die unrechtmäßige Überbringerin einer falschen Botschaft. Sondern Marthas Herz stand unter dem Eindruck, dass es zwischen dem Herrn und Maria eine besondere Übereinstimmung gab. In diesem Gefühl sagt sie nicht zu Unrecht: „Der Lehrer ist da und ruft dich.“ Und so war es auch. Maria geht, um den Herrn zu treffen, und begegnet Ihm wirklich. Zwischen ihnen war nicht der gleiche Abstand wie zwischen dem Herrn und Martha. Maria fällt zu Seinen Füßen nieder, und Er seufzt im Geist, als Er sie sieht. Das war eine wirkliche Begegnung zwischen dem Herrn des Lebens und Seinem Anbeter. Maria redet nicht viele Worte ohne Erkenntnis, noch braucht der Herr bei ihr irgendwelche Trägheit des Herzens zu rügen wie bei Martha. Wir wissen, dass Er sie beide liebte, und es ist gesegnet, eine lebendige Gemeinschaft mit Ihm zu haben. Manche mögen höhere Gedanken und größere Erkenntnis von Ihm haben als andere. Aber selbst wenn unser Maß der Erkenntnis nur das der Martha erreicht, sind wir doch mit dem Himmel in Gemeinschaft, wenn sie nur wahrhaft und lebendig ist.