Betrachtung über das Evangelium nach Johannes

Kapitel 10

Betrachtung über das Evangelium nach Johannes

Dieser unreine Ort außerhalb des Lagers, wo der Herr des Himmels und der Erde jetzt mit dem begnadigten Sünder stand, war nicht nur der Ort der Freude und Freiheit für den Sünder, sondern auch das weite Feld des Ausschauens für den Herrn. Von diesem Platz aus überblickt Er sich selbst, den Bettler und das ganze Lager Israels, aus dem Er mit einem Seiner Auserwählten hinausgegangen war. In dem Gleichnis von dem guten Hirten macht Er die Nutzanwendung von allem. In der Szene des 9. Kapitels hatte Er gezeigt, dass Er durch die Tür in den Hof der Schafe eingetreten war. Er war gekommen, um die Werke des Vaters zu wirken, und bewies so, dass Er in dem Vertrauen des Besitzers des Hofes stand. Er erwies sich als der rechtmäßige Hirte Seiner Herde.

Er war Israel entfremdet, aber wie Mose damals in ähnlicher Lage, sollte Er die Herde Seines Vaters auf andere Weidegründe nahe dem Berg Gottes führen. Die Pharisäer mussten deshalb, weil sie Ihm widerstanden, notwendig „Diebe und Räuber” sein, die auf einem anderen Weg in den Hof einsteigen wollten.

Der blinde Bettler war ein Beispiel der Herde, die, während sie die Stimme der Fremden zurückweist, die Stimme Dessen hört und kennt, der durch die Tür eingegangen war, und die nun durch Ihn, die „Tür der Schafe”, eingehend, Sicherheit, Ruhe und Weide findet.

Alles dieses wird uns in der vorliegenden Szene dargestellt und in dem Gleichnis erläutert. Das Gleichnis gibt uns so eine liebliche Erklärung von der augenblicklichen Lage dieser armen Ausgestoßenen. Die Juden glaubten zweifellos – und sie wünschten, dass der blinde Bettler ebenso urteilte –, ihn jeder Sicherheit beraubt zu haben, weil sie ihn von sich selbst ausgestoßen hatten. Aber der Herr Jesus zeigt, dass er gerade bis dahin nicht in Sicherheit war, und dass er, wäre er geblieben, wo er war, eine Beute derer geworden wäre, die raubten, töteten und zerstreuten. Aber jetzt war er von Dem gefunden und aufgenommen worden, der, um ihm Leben zu geben, Sein eigenes Leben hingab 1.

Wir finden dies alles sowohl in der Erzählung als auch in dem Gleichnis. An dieser Stelle unseres Evangeliums treffen der Herr und der Überrest zusammen. Die „Elenden der Herde” werden hier gezeigt, deren eigene „Hirten sie nicht verschonen”, und daher nimmt der Hirte vom Himmel sie in Seine Obhut, um sie zu hüten und zu weiden (Sach 11).

Aber auch die Liebe und Pflege Dessen, der zu Ihm gesagt hatte: „Weide die Herde des Würgens”, wird hier in sehr gesegneter Weise geschaut. Es ist vielleicht die lieblichste Seite unseres Gleichnisses; wir lernen die Gefühle des Vaters zu der Herde kennen. Denn der Herr sagt: „Gleichwie der Vater mich kennt, und ich den Vater kenne; und ich lasse mein Leben für die Schafe.” Das lässt uns erkennen, dass eines der tiefsten Geheimnisse des Vaterherzens Seine Liebe und Sorge für die Schafe ist. Es war in der Tat die Herde des Vaters, bevor sie Christus, dem Hirten, anvertraut wurde. „Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben” (Joh 17,6). Sie lagen in des Vaters Hand, bevor sie in die Hand des Christus gegeben wurden. Sie gehörten dem Vater durch Auswahl, ehe die Welt war, und wurden Christi durch die Gabe des Vaters, indem Er sie durch Blut erkaufte. Alle Zärtlichkeit und treue Sorge des Hirten drückt nur die Gefühle des Eigentümers zu Seiner Herde aus. Der Hirte und der Eigentümer der Herde sind eins, wie der Herr sagt: „Ich und der Vater sind eins”. Eins in ihrer Herrlichkeit, sicher, aber auch eins in ihrer Liebe und Sorge für die arme Herde erlöster Sünder. Christus begegnete den Gefühlen des Vaters, als Er die Kirche liebte und sich für sie hingab. Und Sie bleiben so sicher für ewig eins in dieser Liebe, wie Sie eins bleiben in Ihrer eigenen Herrlichkeit. Das ist eine kostbare Wahrheit für uns. „Unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.” Wir erfahren in der Tat, dass Gott Liebe ist, und in dem Augenblick, wo wir das entdecken, gelangen wir zur Ruhe in Gott. Das müde, gebrochene Herz des Sünders kann in dieser Liebe ruhen, sonst nirgendwo. „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott in ihm.”

Hier finden dann die „Elenden der Herde” Weide und Ruhe. Aber „Huld” und „Verbindung” (Sach 11) müssen zerbrochen werden. Die Stäbe des Hirten, die Israel geführt und geleitet haben würden, mussten jetzt weggeworfen werden. Nur ein Überrest kannte Seine Stimme. Wer anders als ein Sünder kann die Stimme eines Heilandes hören? Die Masse benötigte keinen Arzt. So hört der Herr an dieser Stelle auf, mit Israel zu handeln. Er weigert sich, sie länger zu weiden: „Was stirbt, mag sterben, und was umkommt, mag umkommen” (Sach 11,9).

Ich möchte noch bemerken, dass Sein Handeln mit Israel hier sehr charakteristisch für das Johannesevangelium endet. Sie wollen Ihn steinigen, weil Er, ein Mensch, sich selbst zu Gott gemacht hatte. In den anderen Evangelien wird die Seele Israels aus anderen Gründen Seiner überdrüssig, wie Sacharja sich ausdrückt: zum Beispiel weil Er Sünder aufnahm, ihre Überlieferungen angriff oder ihren Sabbath antastete. Aber in diesem Evangelium ist es die Behauptung Seiner Sohnschaft und der göttlichen Würden Seiner Person, die ihren Widerspruch hervorruft (Joh 5; 8; 10). An dieser Stelle sehen wir, dass der Herr in Seiner Antwort an die Juden die Offenbarung, die Er von sich selbst gegeben hatte, verteidigt, wie andere in Israel es vor Ihm getan hatten. Andere, zur Autorität Berufene, wurden Götter genannt, weil sie Gott in Seiner Stellung der Autorität und des Gerichts geoffenbart hatten und die Mächte darstellten, die Gott verordnet hatte. Er hatte jetzt in ähnlicher Weise den Vater geoffenbart. Die Richter und Könige hätten zeigen können, dass das Wort Gottes zu ihnen gekommen war, und dass ihnen das Schwert Gottes anvertraut worden war. Und Jesus hatte sich ihnen als der Gesandte vom Vater, voller Gnade und Wahrheit, gezeigt, indem Er in Gnade unter ihnen wirkte, wie der Vater bisher gewirkt hatte, um Sünder wiederherzustellen, zu heilen und zu segnen. Auf diese Weise hatte Er bewiesen, dass der Vater in Ihm und Er in dem Vater war. Aber ihre Herzen waren verhärtet. Die Finsternis konnte das Licht nicht erfassen, und Er ist genötigt, ihren Händen zu entgehen, um wiederum eine abgesonderte Stellung auf der Erde einzunehmen, fern von der aufrührerischen Nation2.

Hier endet der zweite Abschnitt unseres Evangeliums. Er zeigte uns die Auseinandersetzungen unseres Herrn mit den Juden, in deren Verlauf Er die jüdischen Dinge eins nach dem anderen beiseite setzte und Sich selbst an deren Platz stellte.

Im 5. Kapitel setzte Er Bethesda beiseite, das letzte Zeugnis von dem Wirken des Vaters in Israel, und nahm Seinen Platz als Diener der Gnade ein. Im 6. und 7. Kapitel setzte Er die Feste beiseite, das Passah und das Laubhüttenfest. Das erste eröffnete das jüdische Jahr mit dem Leben der Nation, während das zweite Fest es mit ihrer Herrlichkeit beschloss. Der Herr nimmt den Platz dieser Verordnungen ein, indem Er zeigt, dass Er die einzige Quelle des Lebens und der Herrlichkeit ist. Im 8. Kapitel nimmt Er, nachdem Er wegen der Bosheit und Kraftlosigkeit des Menschen die völlige Unzulänglichkeit des Gesetzes für den Menschen ans Licht gebracht hat, Seinen Platz als das „Licht der Welt” ein, als Der, durch den allein, an Stelle des Gesetzes, Sünder ihren Weg zur Wahrheit, Freiheit und Ruhe in Gott finden konnten. Dann geht Er im 9. Kapitel in diesem Charakter des Lichts der Welt aus Israel hinaus. Er hatte Seine Strahlen über diesem Volk leuchten lassen, aber Er wurde von ihm nicht angenommen. Deshalb geht Er weiter und zieht die Elenden der Herde hinter sich her. Im 10. Kapitel stehen Er und die Herde außerhalb des Lagers; Er lässt das Land Israel wüst und leer zurück, wie der Prophet gesagt hatte. Das Wort des Herrn, das es zu Wohlfahrt und Ordnung gebracht hätte, wurde zurückgewiesen, und Jehovas altes Ackerland, auf dem Seine Augen vom Anfang des Jahres bis zu seinem Ende ruhten und das Er mit dem Regen Seines Himmels tränkte, wird dahingegeben, um eine Wildnis und ein Land des Todesschattens zu werden.

Fußnoten

  • 1 Ich möchte hier erwähnen, wie es kam, dass dieser Schwache Gottes die Schlinge des Vogelstellers zerriss. Wir sehen bei ihm zwei Dinge: erstens folgte er aufrichtig und vertrauensvoll dem Licht, das ihm gegeben war und in ihm heller und heller wurde. Zweitens verteidigte er einfältig die Werke und Wege Jesu, seines Befreiers und Freundes, gegenüber allen Einflüsterungen des Feindes. Darin beruhte seine Sicherheit, und darin beruht auch die unsrige, wenn wir von Satan bedrängt und verstrickt werden.
  • 2 Siehe Joh 2,13; 6,4; 7,2; 11,55. In diesem Evangelium werden, wie wir feststellen können, die Feste „Feste der Juden“ genannt, als ob der Geist Gottes sie als etwas Seinen Gedanken Fremdes ansieht. Das ist höchst charakteristisch für dieses Evangelium, in welchem, wie ich schon bemerkte, der Geist getrennt ist von den jüdischen Einrichtungen, weil Er den Weg des Sohnes Gottes, des Sohnes des Vaters, schildert, der über den jüdischen Beziehungen steht. Ähnlich wird im Alten Testament der Horeb oder Sinai der „Berg Gottes“ genannt, während ihn Paulus im Neuen Testament den „Berg Sinai in Arabien“ nennt. Der Geist Gottes betrachtet ihn nicht mehr als Sein Eigentum, sondern lässt es einfach bei seiner irdischen Bezeichnung bewenden.
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