Betrachtung über das Buch Hohelied (Synopsis)
Kapitel 8
Kapitel 8 steht für sich da und scheint mir die Grundzüge des ganzen Buches noch einmal zusammenzufassen. Es geht auf den Grund von dem zurück, was alle diese Seelenübungen hervorgerufen hat. Die völlige Befriedigung aller Wünsche des Überrestes wird in prophetischer Weise angekündigt und der Pfad bezeichnet, auf dem seine Zuneigungen sich entwickeln werden. Dieses Bild wird jedoch zur Ermunterung derer entworfen, die sich der Wirklichkeit noch nicht erfreuen, und drückt den Wunsch nach dieser Verwirklichung aus, indem es so dem brennenden Verlangen des Überrestes, Christus zu besitzen und volle Freiheit zur Gemeinschaft mit Ihm zu haben, Gottes Zustimmung und Weisung gibt. Die Erwiderung, die darauf erfolgt, lehrt mit besonders kostbarer Deutlichkeit die Art und Weise, in der dies in Erfüllung gehen wird. Die heiße Liebe der Braut wird vorgestellt, und der Geliebte wünscht, dass sie in seiner Liebe ruhen und dieselbe ohne Störung genießen möge, solange es ihr gefällt.
Später kommt sie, sich auf Ihn lehnend, von der Wüste herauf. Und wo hat der Herr sie aus ihrem Schlaf aufgeweckt? Unter einem Apfelbaum (vgl. Hld 2, 3). Von Christus allein leitet sie ihr Leben her. Nur so kann Israel diesen lebendigen Überrest hervorbringen, der zu Jerusalem die irdische Braut des großen Königs bilden wird, die da begehrt, wie ein Siegelring an seinem Herzen zu sein, und die das entsprechend der Kraft einer Liebe sein wird, die stärker ist als der Tod, die nicht schont und nicht nachgibt.
In der „kleinen Schwester“ möchte ich Ephraim erkennen, das nie die Entwicklung gehabt hat, wie sie Juda durch die Offenbarung des Christus und durch alles, was nach der Wegführung der zehn Stämme stattfand, zuteil geworden ist. Denn all die inneren Zuneigungen Judas werden sich infolge seiner Beziehung zu Christus entwickeln, infolge der Verwerfung des Messias und durch die Gefühle, die diese hervorrufen wird, wenn der Geist ihnen einmal die geziemende Erkenntnis darüber gibt (vgl. Jes 50–53). Ephraim wird, ohne diese Dinge durchgemacht zu haben, in den Genuss der Ergebnisse derselben gelangen. Juda wird, wenn es dereinst am Ziel angelangt ist, die volle Gunst des Messias genießen, bis dahin bilden sich jene Zuneigungen zu Ihm durch all die Herzensübungen, die es in Bezug auf Ihn durchlebt.
Christus in seinem salomonischen Charakter, als der glorreiche König, der Sohn Davids (nach der Ordnung Melchisedeks), hat als der Herr der Nationen oder der Völker einen Weinberg. Er hat ihn anderen anvertraut, die ihm eine angemessene Vergütung dafür zu geben haben. Der Weinberg der Braut stand ihr selbst zur Verfügung, doch sein ganzer Ertrag soll für Salomo sein und ein Teil davon für die Hüter seiner Frucht – ein rührender Ausdruck ihrer Beziehung zu dem König. Sie will, dass alles Ihm gehöre; aber dann gibt es andere, die auch Nutzen davon haben sollen.
Die beiden letzten Verse geben dem Verlangen der Braut Ausdruck, dass der Bräutigam ohne Verzug kommen möge.
Es ist wichtig zu beachten, dass es sich in diesem Buch nicht um die Reinigung des Gewissens handelt; diese Frage wird gar nicht berührt. Es redet vielmehr von jenen Zuneigungen des Herzens, die nicht zu heiß sein können, wenn der Herr ihr Gegenstand ist. Infolgedessen dienen die Fehler, die ein Vergessen seiner Person und seiner Gnade offenbaren, nur dazu, solche Herzensübungen in Bezug auf Ihn zu erzeugen, um durch sie all das Anziehende seiner Person und das Bewusstsein, Ihm ganz anzugehören, wieder hervorzurufen. Denn solche Übungen bewirken in dem Herzen eine weit tiefere Wertschätzung seiner Person, weil es sich nicht um Verschuldungen vor einem Richter handelt, sondern um einen Mangel an Herz einem Freund gegenüber. Und da dieser Mangel einer Liebe begegnet, die zu stark ist, um je von ihrem Gegenstand abgelenkt werden zu können, so vertieft er nur die Zuneigung der Braut zu ihrem Geliebten und lässt in ihren Augen seine Liebe unendlich höher erscheinen: ihr Herz wird durch innere Übung zubereitet, seine Liebe mehr zu schätzen, und fähig gemacht, alles, was Er ist, zu lieben und hoch zu achten. Es ist von der größten Wichtigkeit, dass unser Herz in diesem Teil der christlichen Liebe gebildet werde. Auf diesem Weg wird Christus wirklich erkannt; denn wenn es sich um göttliche Personen handelt, so gilt der Grundsatz: wer nicht liebt, erkennt auch nicht. Unser Herz ist in der Tat unvollkommen; es kann nicht lieben, wie es sollte, und darum sind alle diese Übungen notwendig. Ich will damit nicht sagen, dass Fehler unausbleiblich sind. Aber, wie bereits bemerkt, es ist Liebe, die den Fehler fühlbar macht, wenn er sich gezeigt hat, und die Stärke der Liebe setzt einen den Schlägen des Wächters aus, dessen Sache es nicht ist, das Maß der Liebe festzustellen, sondern sittliche Ordnung aufrechtzuhalten. Er beseitigt das Böse auf dem Weg betrübender und schmerzlicher Zucht, die beweist, dass, wenn man auch viel liebte, doch nicht Liebe genug da war; oder wenigstens, dass diese Liebe in ein schwaches Gefäß niedergelegt ist, das, wenn man ihm Gehör schenkt, an sich selbst zum Verräter wird.
Ich habe bereits gesagt, dass dieses Buch sich in seiner Auslegung nicht auf die Versammlung (Gemeinde) anwenden lässt. Trotzdem habe ich von uns und unseren Herzen geredet, und zwar mit Recht. Denn wenn auch in der Auslegung des Buches Israel der unmittelbare Gegenstand ist, kommen doch auch Herz und Gefühl in Frage, sodass es in sittlichem oder geistlichem Sinn auf uns angewandt werden kann. Aber wenn man das tut, muss die oben erwähnte Einschränkung beachtet werden. Wir besitzen die volle Kenntnis einer vollbrachten Erlösung und wissen, dass wir in Christus in die himmlischen Örter versetzt sind. Unser Gewissen ist für immer gereinigt. Gott will unserer Sünden und unserer Gesetzlosigkeit nie mehr gedenken. Aber das Ergebnis dieses Werkes ist, dass wir völlig sein sind, der Liebe gemäß, die sich in dem Opfer zeigt, das jenes Werk vollbracht hat. Christus ist daher ein und alles für unsere Seelen. Wenn Er uns geliebt hat, wenn Er sich für uns hingab, als in uns nichts Gutes war, so besitzen wir Leben, Glückseligkeit und die Erkenntnis Gottes offenbar darin, dass wir mit uns selbst, mit unserem alten ich, völlig zu Ende gekommen sind. In Christus allein finden wir die Quelle, die Kraft und Vollendung dieser Wahrheit. Sie macht bezüglich der Rechtfertigung unsere Stellung vollkommen. In uns ist nichts Gutes, aber wir sind angenommen in dem Geliebten – völlig angenommen in seiner Annehmlichkeit, indem alle unsere Sünden durch seinen Tod auf ewig hinweggetan sind. Und wenn es sich dann um Leben handelt, so wird Jesus der einzige Gegenstand, das ein und alles für unsere Seelen. In Ihm allein findet das Herz das, was ihm als Gegenstand dienen kann – in Ihm, der uns so geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat, in Ihm, der nichts anderes als Vollkommenheit für das Herz ist. Und was schließlich das Gewissen betrifft, so ist die ganze Frage in Frieden durch sein Blut geordnet: wir sind in Ihm gerecht vor Gott, während wir täglich auf diesem Boden geübt werden. Das Herz hat das Bedürfnis, einen solchen Gegenstand zu lieben, und grundsätzlich will es keinen haben außer Ihm; in dem alle Gnade, Hingebung für uns und jede, Gottes eigenem Herzen entsprechende Gnade gefunden wird. In diesem Punkt steht der Christ im Einklang mit dem Lied der Lieder.
Die Versammlung (Gemeinde) – geliebt, erlöst und Christus angehörend – hat durch den Geist seine Vollkommenheiten verstanden, hat Ihn erkannt in dem Werk seiner Liebe, aber sie besitzt Ihn noch nicht so, wie sie Ihn kennt. Sie sehnt sich nach dem Tag, wo sie Ihn sehen wird, wie Er ist. Inzwischen offenbart Er sich ihr, weckt ihre Zuneigungen auf und trachtet nach dem Besitz ihrer Liebe, indem Er ihr seine ganze Wonne an ihr bezeugt. Sie erfährt auch, was in ihr selbst ist, und lernt die Herzensträgheit kennen, die die Gelegenheiten zur Gemeinschaft mit Ihm versäumt. Doch das lehrt sie, alles das in ihr zu verurteilen, was die Wirkung der Vollkommenheiten ihres Geliebten auf ihr Herz zu schwächen geeignet ist. So wird sie innerlich vorbereitet und befähigt, volle Gemeinschaft mit Ihm zu genießen: wenn sie Ihn sehen wird, wie Er ist, wird sie Ihm gleich sein. Wir streben nicht danach, Ihn zu erlangen; wir suchen aber das zu ergreifen, wozu wir durch Christus ergriffen worden sind. Wir haben einen Gegenstand, den wir zwar noch nicht völlig besitzen, der aber allein alle unsere Wünsche zu befriedigen vermag – einen Gegenstand, dessen Liebe wir in unseren Herzen verwirklichen müssen. Dieses Ziel sucht Er in Gnaden dadurch zu erreichen, dass Er uns seine vollkommene Liebe zu uns bezeugt; und dies dient wiederum dazu, unsere Liebe zu Ihm zu pflegen, ja, uns durch das Gefühl unserer Schwachheit und die Offenbarung Seiner Vollkommenheit zu trösten, indem uns so alles gezeigt wird, was in unseren Herzen dem Genuss seiner Liebe hindernd im Weg steht. Von diesen Hindernissen befreit Er uns in der Weise, dass wir es in der Gegenwart seiner Liebe aufdecken.
Ich beabsichtige nicht, hier im einzelnen der Wirkung dieser Zuneigungen in dem Herzen nachzuspüren, weil Auslegung und nicht Ermahnung mein Zweck ist. Doch es war nötig, ein wenig über diesen Gegenstand zu sagen, damit das Buch verstanden werde. Überdies kann man unmöglich die Wichtigkeit der Pflege dieser heiligen Zuneigungen zu stark hervorheben; sie Fesseln uns an Christus und bringen uns dahin, seine Liebe und Ihn selbst näher kennenzulernen. Denn ich wiederhole, wenn es sich um Gott und um seine Wege mit uns handelt, so erkennt der nicht, der nicht liebt.
Nur beachte man, mit welchem Ernst und zugleich mit welcher Zärtlichkeit der Herr zu seiner Geliebten über all die Kostbarkeit redet, die sie in seinen Augen hat, und über die Vollkommenheit, die Er in ihr erblickt. Wenn Jesus in uns Vollkommenheit sieht, so bedürfen wir wirklich nichts mehr. Indem Er davon zu ihr redet, beruhigt und stillt Er ihr Herz wieder, wenn sie gerechterweise durch die Wächter getadelt und gezüchtigt worden ist und sich nun in ihrem Innern gedrungen fühlt, darin Erleichterung zu suchen, dass sie zu ihren Freundinnen von dem redet, was Er für sie ist. Er wirft ihr nichts vor, sondern lässt sie fühlen, dass sie in seinen Augen vollkommen ist.
Suchen wir nach einem praktischen Beispiel, so möchte ich sagen: Welch eine Vollkommenheit der Liebe offenbarte sich in jenem Blick, den der Herr auf Petrus richtete, als dieser Ihn verleugnet hatte! Welch ein Augenblick war es außerdem, als Er, ohne Petrus zu tadeln (obwohl Er ihn unterwies), ihm sein Vertrauen dadurch bezeugte, dass Er gerade ihm, der Ihn so verwerflich verleugnet hatte, die seinem Herzen so teuren Schafe und Lämmer anvertraute, für die Er eben erst sein Leben hingegeben hatte!
Nun, diese Liebe des Christus, die über das Böse erhaben ist und gerade dadurch ihre Göttlichkeit beweist, bringt sich selbst als eine neue Schöpfung in dem Herzen eines jeden Menschen wieder hervor, der ihr Zeugnis annimmt, indem sie ihn mit dem vereinigt, der ihn so unaussprechlich geliebt hat und liebt. Ist der Herr etwas anderes für uns als das? Nein, meine Brüder, auch wir erfahren seine Liebe; wir lernen Ihn selbst in den Herzensübungen kennen, durch die Er uns führt.