Betrachtung über das Buch Hohelied (Synopsis)
Kapitel 6
Diese Erfahrung lässt sie durch die Gnade eine andere Seite ihrer Beziehung zu Ihm verstehen, sie legt dabei einen wirklichen Fortschritt sowohl in dem Verständnis der Gabe als auch in ihrem eigenen Herzenszustand an den Tag. An die Stelle des Verlangens, den Geliebten für sich selbst zu besitzen, ist das Bewusstsein getreten, dass sie Ihm gehört: „Ich bin meines Geliebten.“ Das ist ein sehr wichtiger Fortschritt. Eine Seele, die Errettung und Befriedigung für die neu erwachten Zuneigungen sucht, ruft, sobald sie Gewissheit darüber erlangt hat, aus: „Mein Geliebter ist mein.“ Macht sie dann tiefere Erfahrungen von sich selbst, so kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie sein Eigentum ist. Es heißt deshalb mit Bezug auf uns nicht: „Wir haben den gefunden, von dem die Propheten geschrieben haben“, sondern: „Wir sind nicht unser selbst, denn wir sind um einen Preis erkauft.“ So Christus anzugehören, indem man nicht mehr an sich selbst denkt, das ist Glückseligkeit für die Seele. Nicht dass wir das Bewusstsein verlören oder verlieren sollten, wie kostbar es ist, den Heiland zu besitzen, aber der andere Gedanke, der Gedanke, sein zu sein, nimmt den ersten Platz ein.
Aufs neue bezeugt der Geliebte, wie kostbar die Braut in seinen Augen ist. Doch auch hier zeigt sich ein Unterschied. Wenn Er vorher von ihr sprach, fügte Er der Beschreibung der Anmut und Schönheit ihrer äußeren Gestalt all die Tugenden hinzu, die in ihr sichtbar wurden: Er redet von dem Honig, der von ihren Lippen floß, von den lieblichen Früchten, die sich in ihr fanden, von den süßen Wohlgerüchen, die er durch den Odem seines Geistes „träufeln“ ließ. Von dem allem spricht Er jetzt nicht, sondern nur von dem, was sie für Ihn ist. Nachdem Er ihre persönliche Schönheit beschrieben hat, verweilt sein Herz bei dem, was sie für Ihn selbst ist. „Eine ist meine Taube, meine Vollkommene.“ Seine Liebe kann keine andere sehen; keine kann mit ihr verglichen werden. Es gibt viele andere, aber sie sind nicht die Eine, die Er liebt. Die Person des Herrn erfüllt das Herz, das wieder zu Ihm zurückgebracht ist, und dann bilden der Anblick und die Tugenden der Braut den Gegenstand des Zeugnisses des Bräutigams. Überdies gibt es für Ihn keine außer ihr, sie ist die einzige ihrer Mutter. So wird es mit dem Überrest Israels in den letzten Tagen sein, im geistlichen Sinn ist es heute so mit uns.
In den folgenden Versen wird die Aufnahme des Christus und seine Vereinigung mit dem Überrest zu Jerusalem in sehr eindrucksvoller Weise dargestellt. Wir sehen da nicht mehr den Geliebten, der aus der Wüste heraufkommt (wo Er sein Volk mit sich verbunden hatte) in Herrlichkeit und in Liebe. jetzt ist es die Braut, die, schön wie der Mond und strahlend von Herrlichkeit, gleich einem Heer mit wehenden Bannern auf dem Schauplatz erscheint. Der Geliebte war hinabgegangen, um die jungen Triebe des Tales zu besehen und um zu untersuchen, ob sein Weinstock ausgeschlagen sei. Ehe Er es sich bewusst wird, macht Ihn seine Liebe gleichsam zu dem Prachtwagn seines willigen Volkes (vgl. Ps 110, 3). Er leitet sie in Herrlichkeit und Triumph. Er hatte die Früchte der Gnade unter ihnen gesucht; aber nachdem Er zu diesem Zweck herabgekommen war, erhöht Er sie in Herrlichkeit. Erst dann, wenn sein Volk völlig in Gnade wiederhergestellt ist, wird alles an ihnen Schönheit und Vollkommenheit sein, und dann erst werden sie erkennen, dass sie gänzlich Christus angehören und zugleich seine Liebe voll und ganz besitzen.