Betrachtung über den Brief an die Römer
Kapitel 4
Aber es gab noch einen anderen Beweis dafür, daß die Gerechtigkeit nicht aus Gesetzeswerken kommt, nämlich das Beispiel Abrahams, der die Verheißungen hatte, ehe das Gesetz gegeben und verkündigt war. Der Apostel bedient sich auch dieses Teils der Geschichte und der Vorrechte Israels, um seinen Hauptgrundsatz zu bestätigen. „Was sollen wir von Abraham sagen?“ fragt er. Wenn er durch die Werke gerechtfertigt worden wäre, so hätte er Ruhm, aber nicht vor Gott; denn was sagt die Schrift? „Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“. Also ist der Grundsatz, daß man durch den Glauben gerechtfertigt wird, in dem Beispiel Abrahams völlig bestätigt. Es ist nicht aus Werken; wäre es so, dann wäre der Lohn nicht als Gnade, sondern als Schuldigkeit zu betrachten. Wenn man aber nicht wirkt, sondern an Den glaubt, Der den Gottlosen rechtfertigt, so wird der Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. Und wie es bei Abraham war, so war es auch bei David. (Der Apostel führt das Beispiel dieser beiden Männer an, weil sie die Hauptquellen der Segnungen Israels bilden). Auch David beschreibt die Segnung des Menschen, den Gott für gerecht hält ohne Werke, indem er sagt: „Glückselig die, deren Gesetzlosigkeiten vergeben und deren Sünden bedeckt sind! Glückselig der Mann, dem der Herr Sünde nicht zurechnet!“ Die Annahme in Christo geht zwar weiter, aber hier finden wir im Blick auf die Verantwortlichkeit des Menschen die Wahrheit ausgesprochen, daß für die, welche an Christum glauben, alles vollbracht ist. Die Sünde wird ihnen nicht zugerechnet; sie sind frei von aller Schuld; alle Beschuldigung ist vorbei für immer. Von unserer Stellung in Christo spricht der Apostel später; angenommen zu werden in einer neuen Stellung in Christo, nach dem Wert und der Annahme Christi vor den Augen Gottes, ist noch mehr als die Rechtfertigung. Aber diese Rechtfertigung ist vollbracht für uns, als verantwortliche Menschen.
Nun aber entsteht die Frage: Ist diese Segnung für Israel allein? Das Beispiel Abrahams entscheidet auch diese Frage. Ihm wurde der Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet; aber wann? Als er beschnitten war, oder als er noch in der Vorhaut war? In der Vorhaut. — So sehen wir denn in diesem alten und entscheidenden Beispiel Abrahams, daß nach dem Willen und Ausspruch Gottes der Glaube eines unbeschnittenen Menschen ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wird. Die Beschneidung ist dem Abraham nachher gegeben worden, als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er als Unbeschnittener hatte, auf daß er der Vater aller Gläubigen wäre, sowohl der Unbeschnittenen, damit auch ihnen nach seinem Beispiel die Gerechtigkeit zugerechnet würde, als auch der Beschnittenen, so daß er der Vater einer wahren Beschneidung ist, nicht allein derer, die aus der Beschneidung sind, sondern auch aller Gläubigen, die in Absonderung für Gott in den Fußstapfen des Glaubens Abrahams wandeln, den er in der Vorhaut hatte.
Ferner war auch die Verheißung, daß Abraham Erbe der Welt sein sollte, nicht durch das Gesetz gegeben worden - weder ihm, noch seinem Samen, sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens; denn das Gesetz kam viel später. So beweist also die ganze Geschichte Israels, daß man nicht durch das Gesetz, sondern nur durch den Glauben teil an der Segnung hat. Denn wenn die vom Gesetz, als solche, Erben sind, so ist die Verheißung aufgehoben und der Glaube, durch welchen Abraham sie empfangen hat, unnütz und erfolglos. Vielmehr bewirkt ein Gesetz Zorn, denn wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung; die Sünde ist wohl vorhanden, aber man kann nicht übertreten, was nicht geboten oder verboten ist. Doch der Apostel entwickelt diesen Hauptgrundsatz der Segnung der Gläubigen aus den Nationen noch weiter aus der Schrift. Er sagt: „Darum ist es aus Glauben, auf daß es nach Gnade sei, damit die Verheißung dem ganzen Samen fest sei, nicht allein dem vom Gesetz, sondern auch dem vom Glauben Abrahams, welcher unser aller Vater ist (sowohl der Gläubigen aus den Nationen, als auch derjenigen aus den Juden) vor dem Gott, welchem er glaubte, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre“ (V. 16. 17). Diese Worte enthalten eine neue Wahrheit. Sie weisen auf die Kraft der Auferstehung hin, auf die Kraft, das Leben zu geben, da wo alles im Tode liegt, auf die schöpferische Kraft. Diese Kraft aber gab auch den Nationen Einlass. Auf diese Kraft rechnete Abraham, als sein Leib gewissermaßen schon tot und der Mutterschoß der Sarah ebenfalls über die geeignete Zeit hinaus war. Für den Glauben hängt alles ab von der Tätigkeit dieser Kraft, die hervorbringt, was Gott will. Es ist nicht allein ein Gnadenstuhl dargestellt für alle, die durch den Glauben an das Blut Christi herzukommen, als zu dem Ort, wo Gott mit dem Sünder zusammentrifft, sondern es ist eine Kraft, die da, wo nichts ist, Kinder schafft für sich aus den Seelen der Toten. Doch gibt es einen Unterschied zwischen dem Glauben Abrahams und unserem Glauben. Er glaubte, daß Gott die Toten auferwecken könne, und er hatte Recht; wir aber glauben, daß Gott es getan hat. Dieser Unterschied ist sehr wichtig. Abraham hatte Recht, indem er an das Wort Gottes selbst glaubte; wir haben denselben Glauben, aber er gründet sich auf ein vollbrachtes Werk, und da findet die Seele Ruhe. Christus ist auferstanden; Er, Der einmal für unsere Übertretungen geopfert war, ist auferweckt worden, auf daß wir daran glauben und gerechtfertigt werden.