Mit Gott in der Wüste
Eine Verständnishilfe zum 2. Buch Mose

Vom Roten Meer zur Wüste

Mit Gott in der Wüste

Zehn Plagen waren im Ganzen nötig, ehe der Pharao die Kinder Israel endlich ziehen ließ. Nachdem sie in der letzten Nacht, die sie in Ägypten zubrachten, das Passahmahl gefeiert hatten, waren sie von Raemses aus nach Sukkoth aufgebrochen. Gott führte sie um das Land der Philister herum, führte sie „den Weg der Wüste des Schilfmeeres“ (2. Mo 13,18).

Ein Vorbild der Erlösung

Wenn wir nun zu Kapitel 14 im zweiten Buch Mose kommen, so treffen wir dort auf ein herausragendes Vorbild der Erlösung. Das Volk Israel, eben erst durch die mächtige Hand Gottes von der Knechtschaft Pharaos befreit und aus Ägypten herausgeführt, war in eine äußerst missliche, ja, bedrohliche Lage geraten. Vor sich das Rote Meer, hinter sich Pharao mit seinen nachjagenden Heeren: Wie konnten sie der Vernichtung durch die Ägypter entgehen? „Und die Kinder Israel fürchteten sich sehr und schrien zu dem HERRN“ (V. 10). Aber obwohl sie in ihrer aussichtslos scheinenden Lage nicht wirklich mit Gott rechneten, wie die folgenden Verse klarmachen, trat der Engel Gottes doch in souveräner Gnade zwischen sie und die Ägypter. Die Wolkensäule kam „zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels, und sie wurde dort Wolke und Finsternis und erleuchtete hier die Nacht; und so nahte jenes diesem nicht die ganze Nacht“ (V. 20). Dann spaltete Gott durch den Stab Moses das Meer vor Seinem Volk und ließ die Kinder Israel trockenen Fußes hindurchziehen. Und als die Ägypter ihnen nachjagten, ließ Gott die Wasser des Meeres über sie kommen und vernichtete die ganze Streitmacht Ägyptens, es blieb auch nicht einer von ihnen übrig. „So rettete der HERR Israel an selbigem Tag aus der Hand der Ägypter, und Israel sah die Ägypter tot am Ufer des Meeres“ (V. 30). In der Tat, ein wunderbares Vorbild der Erlösung, die uns Kindern Gottes in der jetzigen Zeit der Gnade in dem Herrn Jesus Christus geworden ist!

In der vorbildlichen Bedeutung besteht ein Unterschied zwischen der Feier des Passahfestes in Kapitel 12 und dem Durchzug der Kinder Israel durch das Rote Meer in Kapitel 14 ‑ ein Unterschied, der nicht selten übersehen wird. Zwar reden beide Ereignisse vorbildlich von dem Tod Christi, aber das Passah ist nicht das eigentliche Vorbild der Erlösung, wie allerdings oft gesagt wird. Beim Passah offenbarte Sich Gott als Gott des Gerichts, und durch das Blut des Passahlammes befreite Er die Kinder Israel von dem Gericht. Aber Befreiung vom verdienten Gericht allein ist nicht das, was die Schrift Erlösung nennt, wie außerordentlich wichtig und notwendig diese Befreiung auch ist. Sie trug auch mehr den Charakter einer Bewahrung als den einer Errettung. Im wahrsten Sinn des Wortes waren sie noch nicht errettet. Beim Roten Meer jedoch errettete Gott sie vor dem grausamen Feind, dort wurde Er ihnen zum Heiland. Hier haben wir das eigentliche Vorbild der Erlösung. Das Wasser, das sie fürchteten und durch das sie in die Hände Pharaos zu fallen drohten, wurde in der Hand Gottes das Mittel zu ihrer Rettung. So hat auch der Herr Jesus durch den Tod den zunichte gemacht, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreit, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren (Heb 2,14‑15).

Wir haben jetzt wiederholt von ›Vorbild‹ oder von ›vorbildlich‹ gesprochen, und es scheint wichtig, an dieser Stelle auf die Bedeutung dieser Ausdrücke hinzuweisen. Sehr oft wird im Neuen Testament von ›Vorbild‹ in dem Sinn gesprochen, dass uns eine Person und ihr Verhalten als Vorbild zur Nachahmung vorgestellt wird. Diese oder jene Person soll dann ein Muster für unser eigenes Verhalten sein. Das ist der Gebrauch des Ausdrucks ›Vorbild‹ in einem sittlichen Sinn. Aber außer diesem Gebrauch gibt es noch die Bedeutung, von der 1. Korinther 10 redet: „Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist“ (V. 11). Dieses Schriftwort belehrt uns darüber, dass die Geschehnisse, die Gott über das Volk Israel kommen ließ, eine ‑ für damalige Augen ‑ verborgene, vorbildliche Bedeutung in sich tragen. Durch die verschiedenen Ereignisse und deren Reihenfolge gibt uns Gott heute Belehrungen über große christliche Wahrheiten, die in ihrer Fülle erst im Neuen Testament enthüllt sind.

Das, was wir bisher über die Erlösung gesagt haben, gibt uns ein treffliches Beispiel hierfür. Die Kinder Israel erfuhren am Roten Meer nur eine zeitliche Errettung, zudem eine Errettung nur von irdischen Feinden. Sie selbst waren im geistlichen Sinn alles andere als „erlöst“. Sonst hätte nicht der Herr Jesus Jahrtausende später noch kommen müssen, um sie von ihren Sünden zu erretten (Mt 1,21). Nein, das Werk der Erlösung wurde erst am Kreuz von Golgatha vollbracht (Joh 19,30; Heb 9,12). Erst seitdem und nur in Ihm wird die Erlösung, die Vergebung der Sünden, gekannt (Eph 1,7; Kol 1,14). Aber die zeitliche Errettung Israels von seinen irdischen Feinden ist ein wunderschönes Bild jener Errettung, die der Herr Jesus durch Sein Werk für die an Ihn Glaubenden bewirkt hat. Durch diese Bilder mit ihren mannigfachen Begleitumständen werden wir in viele Einzelheiten der christlichen Wahrheit eingeführt, die wir wohl kaum auf eine andere Weise so gründlich lernen könnten. Wenn wir uns im Folgenden mit der weiteren Geschichte des Volkes Israel und seinem Hindurchziehen durch die Wüste beschäftigen wollen, werden wir eine derartige Fülle von ins einzelne gehenden geistlichen Belehrungen finden, dass wir darüber überrascht ‑ und ich hoffe auch: beglückt ‑ sein werden.

In der Wüste

Das herrliche Lied der Erlösung (Kap. 15, 1‑21), auf der anderen Seite des Roten Meeres gesungen, war verklungen:

„Singt dem HERRN, denn hoch erhaben ist er; das Ross und seinen Reiter hat er ins Meer gestürzt!“

Und was nun? Wo findet sich das erlöste Volk wieder? Seltsam, außerordentlich seltsam: in der Wüste! War das der Sinn der Erlösung? Hatten sie nicht gesungen und gesagt: „Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es durch deine Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung“ (Kap. 15, 13)? Und erinnert sie Gott nicht ein wenig später selbst daran, dass Er sie zu Sich gebracht hat? „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe, wie ich euch getragen auf Adlers Flügeln und euch zu mir gebracht habe“ (Kap. 19, 4). In der Tat, durch die Erlösung waren sie zu Seiner heiligen Wohnung gekommen, waren sie zu Ihm gebracht worden. Aber das bedeutete auf der anderen Seite nichts anderes, als dass sie zugleich in die Wüste geführt wurden. Die Kinder Israel mochten das so nicht erwartet haben, und auch wir zeigen uns darüber oft überrascht, dass wir uns als Erlöste unversehens in der ›Wüste‹ wiederfinden.

„Und Mose ließ Israel vom Schilfmeer aufbrechen, und sie zogen aus in die Wüste Sur; und sie wanderten drei Tage in der Wüste und fanden kein Wasser“ (2. Mo 15,22).

Hier lernen wir eine bedeutsame Wahrheit, die Antwort auf eine sehr wichtige Frage. Was ist das Ergebnis der vollbrachten Erlösung, was das Ergebnis der Befreiung von der Macht Satans? Dass wir nicht sogleich nach Kanaan kommen, sondern in die Wüste geführt werden. Solange die Kinder Israel in Ägypten weilten, gab es für sie keine „Wüstenerfahrungen“ zu erleben. Und solange sie nicht aus der Macht Pharaos errettet waren, gab es keinen Kampf. Wie hätten sie auch gegen den Pharao kämpfen sollen? Sie versuchten es nicht einmal, waren sie doch von ihm geknechtet und seufzten unter dem harten Joch der Sklaverei. Sie mussten zuerst zu Gott gebracht sein, ehe sie Seine Kämpfe kämpfen konnten. Und so ist es auch mit uns heute. Wir haben keine Kraft, um mit Satan kämpfen zu können, solange wir noch seine Sklaven sind. Wir müssen erst die Befreiung von seiner Macht erlebt haben, ehe wir gegen ihn kämpfen können. Nun, Kampf ist eine der vielen Erfahrungen, die wir in der Wüste machen. Wir werden uns später damit eingehender beschäftigen, wenn wir zu Kapitel 17 kommen.

Aber so viel haben wir bereits gesehen, dass uns die Erlösung in einer gewissen Hinsicht direkt in die Wüste führt. Macht das unsere Erlösung ungewiss oder zweifelhaft? Ganz im Gegenteil! Unser Ziehen durch die Wüste ist vielmehr der Beweis davon, dass wir ein erlöstes Volk sind. Die Erfahrungen von Mara oder Elim mussten dem Volk Israel so lange verschlossen bleiben, wie es in Ägypten weilte.

Dass wir das doch mehr erfassten! Gewiss, die Wüstenreise bringt eine Fülle von Erprobungen und Demütigungen mit sich. Aber sie zeigen uns nur, dass wir nicht mehr in Ägypten sind und dass Gott uns zu Sich gebracht hat. Er zieht in Seiner Barmherzigkeit selbst mit uns durch die Wüste und trägt uns auf Adlers Flügeln, die nie versagen können. In den widrigsten Umständen lässt Er uns Erfahrungen von Seiner Güte, von Seiner Gegenwart und Durchhilfe machen ‑ Erfahrungen, die über alles kostbar sind und die wir nicht mehr missen möchten.

Dass wir zugleich auch uns selbst besser kennenlernen, dass wir erfahren, wie verdorben wir von Natur aus sind, sind ebenfalls unausbleibliche Ergebnisse der Wüstenwanderung, Gott kann und will sie uns nicht ersparen. Deswegen entspricht es der Weisheit und Liebe Gottes, uns durch die Wüste zu führen. Er führt uns nicht sorgsam um sie herum, nein, Er führt uns mitten hindurch. Dort will Er uns ganz für Sich allein haben, und sie ist der Ort, wo wir Seine unaussprechliche Gnade in praktischer Weise genießen lernen. Seien wir versichert, Geliebte: Wir haben viel zu lernen in der Wüste.

Kein Wasser

Im normalen Leben ist es eine schreckliche Sache, ohne Hilfsmittel auf der Reise durch eine Wüste zu sein und kein Wasser zu finden. Das bedeutet den sicheren Tod. Tatsächlich reden auch die drei Tage, die das Volk durch die Wüste zog, ohne Wasser darin zu finden, vom Tod. Der Ausdruck ›drei Tage‹ kommt in der Heiligen Schrift mehrfach vor, und oft steht er mit dem Tod in Verbindung (vgl. z. B. 1. Mo 22,4; 40,19; Mt 12,40). Nun, wir müssen lernen, auf alles, was wir in uns selbst und in dieser Welt finden, den Tod zu schreiben. Gott hat uns in Seiner Gnade durch den Tod Christi („Rotes Meer“) in eine völlig neue Stellung, in eine vollkommene Stellung, gebracht, Er hat uns zu Sich gebracht. Wenn Er uns aber mit Christus in Seinem Tod verbindet, wenn Er uns der Stellung nach als mit Christus gestorben und auferweckt ansieht, dann ist es auch die Absicht Seiner Wege mit uns, uns in praktischer Hinsicht in Übereinstimmung mit dieser neuen Stellung zu bringen. Es ist die Lehre des Römerbriefes, dass der gläubige Christ sowohl der Sünde (Kap. 6) als auch dem Gesetz (Kap. 7) gestorben ist. Und der Brief an die Galater zeigt uns die dritte Seite, dass wir auch der Welt gestorben sind (Kap. 6). Wir werden in unserem Glaubens leben keine Fortschritte machen, wenn wir uns nicht wirklich der Sünde für tot halten, wenn wir nicht praktischerweise den Tod akzeptieren als das einzige Mittel, durch das wir von der Wirksamkeit des Fleisches in uns befreit werden. Und glauben wir tatsächlich, dass wir innerlich wachsen können, wenn wir beständig mit der Welt, die Christus verwarf und verwirft, liebäugeln?

Paulus sah das Kreuz Christi zwischen sich und der Welt. Das entschied alles für ihn. Dabei ist es eine Sache, von sich aus der Welt zu entsagen, und eine andere, schmerzlichere, wenn die Welt ihrerseits auf uns verzichtet. Paulus kannte beides: „von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (Gal 6,14). Die Kinder Israel mussten lernen, dass als Folge ihrer Befreiung aus Ägypten die Welt für sie eine Wüste geworden war. Und das ist es auch, was wir lernen müssen.

Doch was bedeutet es eigentlich, die Welt als „Wüste“ zu sehen und „kein Wasser“ darin zu finden? Die Antwort ist einfach und beglückend zugleich: In dieser Welt als dem System Satans ist nichts, aber auch gar nichts zu finden, was dem neuen Leben in uns, das wir in der neuen Geburt empfangen haben (Joh 3,3‑8), irgendetwas zu bieten vermag. Das neue Leben in uns, das Leben Christi, kann durch nichts in der Welt genährt oder gestützt werden. Insofern ist für den Gläubigen jede Quelle dieser Welt tatsächlich vertrocknet, versiegt.

Wenn wir diese Wahrheit mit dem Herzen erfassen, hören wir auf, bei dem Gedanken an die ›Wüste‹ schmerzlich berührt zu werden. Wir werden vielmehr bestätigt finden, dass das, was soeben bemerkt wurde, wahr ist: Es ist eine Wahrheit, die uns glücklich macht. Lernen wir doch, dass das uns geschenkte neue Leben ebenso wenig „von der Welt“ ist wie die göttliche Quelle, der es entspringt.

„Sie fanden kein Wasser.“ Das ist es gerade, was wir hier erwarten sollten „in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser“ (Ps 63,1). Stattdessen zeigen wir uns oft überrascht, dass die Quellen, aus denen wir früher getrunken haben, für den neuen Menschen versiegt sind. Doch alle irdischen Hilfsquellen gleichen ausgetrockneten Brunnen: sie können in keiner Weise dem inneren Menschen, der nach Gott geschaffen ist (Eph 4,24), weiterhelfen und ihn fördern. Dass das so ist, müssen wir tatsächlich durch oft bittere praktische Erfahrung lernen, müssen lernen, die ›drei Tage‹ durch die Wüste zu gehen und so die Distanz des Todes zwischen uns und der Welt zu verwirklichen.

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