Aus dem Wort der Wahrheit (Band 2)
gesammelte Vorträge
„Wendet euch und brechet auf und ziehet!“
(5. Mose 1,1-7)
Im Sprachgebrauch der Schrift ist das Land Kanaan ein Bild vom Himmel, aber nicht als dem Haus des Vaters, wohin wir nach unserer Entrückung kommen werden, und auch nicht als dem dritten Himmel oder dem Paradies Gottes, wo die Entschlafenen in Christo jetzt schon sind. Es ist vielmehr ein Bild des Himmels, in den wir in Christo schon jetzt versetzt sind und den wir, während wir noch hier auf der Erde sind, schon jetzt in Besitz nehmen können. Besonders für jüngere Geschwister ist es wichtig, das zu verstehen. Wir sehen daran nämlich, dass die Vergebung der Sünden nur der Anfang der Segnungen ist, die wir in Gottes Wort finden und die unser Teil sind.
Das Volk Israel war, wenn ich so sagen darf, errettet, nachdem es aus Ägypten ausgezogen war. Das war schon viel, weitaus mehr als das, was wir in 2. Mose 12 finden, wo die Israeliten hinter dem Blut des Lammes sicher vor dem Gericht waren, das über Ägypten kam. Es ist wunderbar, vor dem Gericht Gottes in Sicherheit zu sein. Aber als das Volk in 2. Mose 15 durch das Rote Meer gegangen war, war es bedeutend weiter. In 2. Mose 12 wird nicht über Freude gesprochen. Die Israeliten waren sicher vor dem Gericht, aber Freude hatten sie noch nicht. Um mit den Worten des Neuen Testamentes zu reden: Sie hatten noch keinen Frieden mit Gott. Denn wenn ein junger Israelit im Zelt seiner Eltern war und an Gott dachte, dann dachte er an Ihn als den furchtbaren Richter, der in dieser Nacht umherging, um die Erstgeborenen zu töten. Auch wenn er wusste, dass er in Sicherheit vor dem Gericht war, weil entsprechend dem Gebot Gottes das Blut an die Türpfosten gestrichen war, so fürchtete er Gott doch. Allenfalls konnte er wissen: Gott kann mich nicht töten, denn das Blut steht zwischen Gott und mir.
Doch in 2. Mose 14 sehen wir etwas ganz anderes: Das Volk hat Ägypten verlassen. Sie stehen nun am Roten Meer vor dem Wasser. Zu beiden Seiten sind Berge und hinter ihnen die Kriegsheere der Ägypter. Dann hören sie wunderbare Worte. Dieser Gott, der in 2. Mose 12 als ein furchtbarer Richter umhergegangen war, lässt ihnen durch Mose sagen: „Fürchtet euch nicht! stehet und sehet die Rettung Jehovas, die er euch heute schaffen wird... Jehova wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.“ Dann schlägt Er durch Mose das Rote Meer, und Israel geht durch dieses Meer, das ein Bild des Todes ist, hindurch. So wird es aus Ägypten befreit. Nun hören wir zum ersten Mal, dass über Errettung gesprochen wird. Und es ist auch das erste Mal in Gottes Wort, dass gesungen wird. Jetzt wissen sie, dass dieser Gott nicht nur für jeden, der in seiner Sünde vor Ihm steht, ein furchtbarer Richter ist, sondern dass Er ebenso ein Gott der Liebe ist. Das ist Er auch heute für jeden, der den Herrn Jesus angenommen hat. Gott hat Seinen Sohn gegeben, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Er liebt es also nicht, Sünder zu strafen. Es ist nicht in Übereinstimmung mit Seinen Wünschen, einen Sünder in die Hölle zu werfen. Er tut das nur (und muss es als ein gerechter Gott tun), wenn ein Mensch Seine Gnade verschmäht.
So sehen wir in 2. Mose 15 ein Volk, das am Ufer des Roten Meeres steht und singt. Das ist genau das, was auch Römer 5,1 uns vorstellt: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott.“ Wir kennen Gott und wissen, dass nichts mehr zwischen uns und Ihm steht.
Doch wenn wir im Römerbrief weiterlesen, dann finden wir ab Kapitel 5, 12 bis Kapitel 8 einen neuen Gedanken. Römer 8 beginnt mit den Worten: „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind.“ Das ist das Ergebnis einer ganz neuen Beweisführung, die es nicht mehr mit unseren Sünden, sondern mit dem zu tun hat, was wir von Natur waren, bevor wir uns bekehrt hatten. Ein unbekehrter Mensch steht vor Gott als ein Kind seiner Eltern, d. h. als jemand, der die Natur seiner Eltern hat, und das bedeutet, dass er eine sündige Natur hat. Wir sehen das ganz klar in 1. Mose 5. Dort wird gesagt, dass Gott Adam in Seinem Gleichnis erschaffen hat. Aber dann sagt Gottes Wort, dass Adam einen Sohn in seinem Gleichnis und nach seinem Bilde zeugte – also nicht mehr nach dem Bild und dem Gleichnis Gottes, sondern nach dem Bild und dem Gleichnis Adams. Und als Adam diesen Sohn bekam, war er bereits ein Sünder geworden, so dass der Sohn Adams ein Bild des verlorenen Adams war – ein Sünder, ein Feind Gottes, ein Gottloser, wie Römer 5 das ausdrückt.
Das ist das Thema, das Römer 5,12 bis einschließlich Kapitel 7 behandelt. Das ist eine ernste Tatsache. Ich denke, dass alle Jüngeren, die bekehrt sind, und sicherlich die Älteren wissen, dass es zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen im Leben eines Gläubigen gibt. Ich kenne das aus meinem eigenen Leben. Nachdem ich wusste, dass meine Sünden vergeben waren, habe ich noch zwei Jahre lang überhaupt keine Freude gehabt. In diesen beiden Jahren habe ich nicht gesungen, weil ich immer auf mich selbst sah. Ich zweifelte keineswegs an der Vergebung meiner Sünden, auch nicht daran, dass ich, wenn ich sterben würde, zu dem Herrn ginge. Aber ich wollte mich selbst verbessern und sah doch immer wieder, wie schlecht und böse ich war – viel böser, als ich je geahnt hatte. Und ich dachte: Wie kann das möglich sein? Du bist bekehrt, und du bist trotzdem noch so böse? Das steht ja in völligem Widerspruch zueinander! Das ist eine schreckliche Lektion, die aber gelernt werden muss. Wir sind nicht nur Sünder, weil wir sündige Taten getan haben, sondern auch deshalb, weil unsere Natur böse ist. Daran können wir überhaupt nichts ändern; unsere alte Natur kann nicht verbessert werden, sie ist unverbesserlich schlecht. Ja, schließlich müssen wir die Worte aus Römer 7 im Blick auf uns selbst aussprechen: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?“ Es gibt ein Gesetz der Sünde in meinen Gliedern, d. h. eine feste Regel, der gemäß ich immer wieder sündige, auch wenn ich es nicht will. So heißt es in Römer 7,19: „Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses tue ich.“ Ich behaupte, dass jeder diese Erfahrung macht, nachdem er weiß, dass seine Sünden vergeben sind. Viele machen sie auch schon, bevor sie die Gewissheit der Vergebung ihrer Sünden haben. Aber beides ist möglich. Wichtig ist jedoch, dass es zwei verschiedene Dinge gibt, die man lernen muss – dass wir nicht nur Sünden getan haben, sondern auch von Natur Sünder sind; dass wir nicht nur die Vergebung unserer Sünden brauchen, sondern auch die Befreiung vom Gesetz der Sünde und des Todes. Beides muss man lernen, um die Gedanken Gottes über das Verhalten eines Christen in dieser Welt zu verstehen.
Dazu genügt es nicht zu wissen, dass unsere Sünden vergeben sind. Es reicht nicht einmal aus, die Sicherheit zu haben, dass wir völlig errettet sind. Ja, wenn jemand zu der Gewissheit kommt, dass er völlig errettet ist, wenn er, im Bilde gesprochen, durch das Rote Meer gegangen ist und weiß, dass es keine Verdammnis für die gibt, die in Christo Jesu sind, dann kann er wirklich singen: „Alle, alle meine Sünden hat Sein Blut hinweggetan.“ Und doch ist das nicht genug, um uns in unserem Leben auf der Erde freudig und glücklich zu erhalten. Das Bewusstsein der vollständigen Errettung reicht noch nicht aus, um uns fortwährend glücklich zu machen. Überdies wäre das auch nur ein Bruchteil dessen, was Gott uns gegeben und für uns bereitet hat, selbst im Blick auf unser Leben auf der Erde. Gott will nicht, dass wir am Anfang stehen bleiben; und für Gott bildet die Befreiung von der Macht und den Folgen der Sünde nur den Anfang der Segnungen, die wir empfangen sollten und die Er für uns bereitet hat.
Es ist wahr, die Errettung ist ein notwendiger Anfang. Niemand kann geistliche Segnungen genießen, niemand kann Gottes Wort verstehen und in Seine Gedanken eindringen, wenn er nicht zunächst völlig sicher ist, dass sein Verhältnis zu Gott geordnet ist. Das bedeutet, dass er wirklich Frieden mit Gott hat (Röm 5,1) und dass er auch in Römer 8,1 angekommen ist: „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind.“ Dann weiß er, dass Gott auch im Blick auf die sündige Natur alles geregelt hat.
In dem Bild des Durchzuges durch das Rote Meer werden uns also zwei Wahrheiten vorgestellt. Zunächst haben wir da den Tod Christi und Seine Auferstehung für uns, wodurch wir vom ewigen Gericht errettet sind. Christus hat meine Sünden an Seinem Leibe getragen und ist ihretwegen gestorben. Und weil Er auferstanden ist, weiß ich, dass es, was meine Sünden betrifft, keine Verdammnis mehr für mich gibt. Aber Christus ist zweitens auch für mich zur Sünde gemacht worden, wie 2. Korinther 5,21 sagt. Und mit welchem Ziel? Dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Das sind die beiden Seiten des Werkes Christi, die uns im Roten Meer vorgestellt werden. Nicht nur unsere Sünden sind vergeben, sondern Gott hat auch unsere sündige Natur in Christo gerichtet. Deshalb sind wir von der Knechtschaft der Sünde befreit und dürfen wissen, dass der Gott, der ein Feind der Sünde ist, dennoch für uns ist. Wir haben Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus.
Wenn wir das gelernt und wirklich verstanden haben, was Gottes Wort uns als Lehre sagt, dann lernen wir diese Wahrheit praktisch durch Erfahrung. Wir sehen dann nach der Befreiung immer tiefer, wie verdorben wir sind, dass wir fähig sind, jede Sünde zu tun. Dann lernen wir erst kennen, wie egoistisch unser Herz ist, viel böser, als wir je geahnt haben. Ich habe früher von bestimmten Sünden gedacht, dass sie nicht so gefährlich für mich seien. Von anderen Sünden wusste ich, dass sie eine Gefahr für mich waren. Aber von bestimmten Dingen dachte ich: Das ist nicht meine schwache Seite. In der Praxis lernte ich dann jedoch, dass ich keine starken Seiten habe, auch nur eine einzige Sünde zu verhindern. So lernen wir in der Praxis tiefer, was wir als Lehre und als Grundsatz in unserem Gewissen angenommen haben: „Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt.“
Ein Bild dieser Erfahrung ist der Durchzug des Volkes Israel durch die Wüste. Da lernten die Israeliten sich selbst, aber auch Gott kennen. So ist das auch bei uns, nachdem wir den Herrn Jesus angenommen haben, nachdem wir Frieden mit Gott erlangt haben. Wir lernen uns selbst besser kennen – und das kann nur bedeuten, dass wir erfahren, dass wirklich nichts Gutes in uns wohnt. Das Gute in unserem Leben ist allein durch Gottes Gnade bewirkt und kommt nicht aus uns selbst. Aber wir erkennen auch besser, wie gütig der Herr ist, wie Er voller Gnade ist und wie Er uns überall nachgeht, selbst wenn wir abirren, und uns immer wieder mit Geduld und Liebe zurückbringt.
Dann kommt ein Zeitpunkt in unserem Leben – Gott gebe jedenfalls, dass das bei uns so ist! –, an dem wir in gewissem Maß gelernt haben, was wir sind. Das kann eine lange Zeit dauern, aber es muss nicht so sein. Das ist der Augenblick, wenn wir hier in 5. Mose 1 angekommen sind. Wir befinden uns dort im vierzigsten Jahr nach dem Auszug aus Ägypten, im elften Monat, am ersten des Monats, also einen Monat vor dem Einzug in das Land. Wie gesagt, ist das Land Kanaan ein Bild dessen, was im Epheserbrief „die himmlischen Örter“ genannt wird. Das Wort „Örter“ steht im griechischen Text nicht – gemeint ist also das Himmlische, der Himmel in einem allgemeinen Sinn. Dorthin sind wir jetzt schon in Christo versetzt, so dass wir diesen Himmel jetzt schon in Besitz nehmen können. Und nur dann, wenn wir das tun, erlangen wir das Teil, das Gott uns eigentlich gegeben hat. In Epheser 1,3 steht, welchen Charakter unsere Segnungen haben. Es sind geistliche und himmlische Segnungen. Gesundheit ist sicher ein Segen Gottes. Aber es ist keine Segnung, die kennzeichnend für uns als Christen ist, sondern sie gilt in noch größerem Maße dem Volk Israel. Nahrung, Kleidung, usw., all diese Dinge sind auch Segnungen, aber solche, die auch die Israeliten hatten und die auch die Gläubigen nach der Entrückung empfangen werden. Unsere eigentlichen Segnungen, die auch unser Teil im Himmel sein werden, sind jedoch diese: jede geistliche Segnung in den himmlischen Örtern. Das heißt: Unsere eigentlichen Segnungen sind nicht hier auf der Erde, sondern im Himmel – aber, wie gesagt im Himmel, wie wir ihn im Land Kanaan vorgebildet sehen. Jetzt schon sind wir in Christo dorthin versetzt; jetzt schon können wir diese Segnungen in Besitz nehmen. Im fünften Buch Mose sehen wir nun das Volk Israel, wie es im Begriff steht, in das Land Kanaan einzuziehen. Da wird uns zunächst gesagt, welche Vorbedingungen erfüllt sein müssen, um in dieses Land einziehen und es in Besitz nehmen zu können. Bei dem Volk Israel war es so, dass sie sich vierzig Jahre in der Wüste aufhielten, dann in das Land einzogen und danach nicht mehr in die Wüste zurückkehrten. So ist es bei uns nicht. Wir sind alle in der Wüste. Was unseren Leib betrifft, sogar immer, aber in bestimmten Augenblicken auch mit unserem Herzen. Jeder von uns befindet sich, sobald er seinem Beruf nachgeht, in der Wüste. Aber in anderen Augenblicken können wir uns im Land aufhalten. Gottes Wort sagt einerseits von jedem Gläubigen, also von jedem, der von neuem geboren ist und der den Herrn Jesus angenommen und Frieden mit Gott hat, dass er in Christo in die himmlischen Örter versetzt ist. Doch die Frage ist nun: Ist er sich dessen bewusst, und nimmt er die Segnungen, die sein Teil sind, in Anspruch? Was hilft es uns, wenn wir in die himmlischen Örter versetzt sind, deren Früchte aber nicht genießen und ihre Segnungen nicht in Besitz nehmen? Und dabei ist das gerade das Kennzeichnende des Christentums! Es liegt mir besonders am Herzen, den jungen Gläubigen zu zeigen, wodurch man nach den Gedanken Gottes wirklich ein Christ wird und die eigentlichen christlichen Segnungen, die Gottes Wort nennt, genießen kann. Ich wiederhole: Die neue Geburt, die Gewissheit der Vergebung der Sünden – all das sind kostbare Dinge, die aber auch die Gläubigen nach der Entrückung der Versammlung haben werden. Sie werden sich aber nicht an geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern erfreuen können. Wie wichtig ist es daher, nicht bei der Gewissheit der Vergebung unserer Sünden und auch nicht bei der Befreiung von der Knechtschaft der Sünde stehenzubleiben, sondern weiterzuziehen.
„Jehova, unser Gott, redete zu uns am Horeb“ (V. 6). Das war also nach der Erlösung Israels aus Ägypten, nachdem Gott dieses Volk als Sein Volk anerkannt hatte. Und dann sagt Gott zu ihnen: „Lange genug seid ihr an diesem Berge geblieben; wendet euch und brechet auf und ziehet“; heißt mit anderen Worten: Gott ruft jedem von uns, der weiß, dass seine Sünden vergeben sind, und sich darüber freut, nach einiger Zeit zu: Ihr seid lange genug hier gewesen. Ihr müsst weiterziehen. Es gibt noch mehr für euch. Es ist wichtig, das zu bedenken und nicht an dem Platz stehenzubleiben, den wir einmal erreicht haben. Wir müssen weiterziehen; denn es gibt einen großen Bereich, der vor uns liegt und den wir praktisch in Besitz nehmen können – den Himmel selbst. Wir sind in Christo in die himmlischen Örter versetzt. Nur müssen wir uns dessen bewusst sein und die damit verbundenen Segnungen auch praktisch in Besitz nehmen. Was nützt uns unsere himmlische Stellung in dem Herrn Jesus, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind und keinen Gebrauch davon machen?
Nun gibt es auch Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn man in das Land einziehen will. Die erste Voraussetzung ist uns allen bekannt. Man kann sich nicht zur selben Zeit in Ägypten, also in der Welt, und in den himmlischen Örtern aufhalten. Das ist unmöglich. Mit unserem Leib sind wir zwar immer auf der Erde. Aber wenn unser Herz in der Welt ist, können wir nicht jetzt schon die himmlischen Segnungen genießen. Wir müssen also durch das Rote Meer von Ägypten getrennt sein, es verwirklichen, dass der Tod Christi zwischen uns und der Welt steht.
Aber das ist nicht alles. Wir müssen auch in der Praxis gelernt haben, dass wirklich nichts Gutes in unserem Fleisch ist. Das ist nicht einfach. Wir sehen hier in Vers 2, dass es möglich gewesen wäre, in elf Tagereisen vom Horeb nach Kades-Barnea zu gelangen: „Elf Tagereisen sind vom Horeb, auf dem Wege des Gebirges Seir, bis Ka- des-Barnea.“ Aber die Israeliten haben dafür 38 Jahre gebraucht.
Und ich kann euch jungen Geschwistern versichern, dass, wenn wir Älteren erzählen müssten, wie lange wir für diesen Weg gebraucht haben, niemand von uns die Behauptung wagen würde, er hätte es in elf Tagen geschafft. Aber dennoch ist es möglich. Wenn wir uns ganz dem Herrn hingeben, wenn wir wirklich Sein Wort praktisch auf Herz und Gewissen anwenden, dann können wir die Erfahrungen der Wüste in elf Tagen lernen. Natürlich sind diese elf Tage ein Bild, ebenso die 38 Jahre. Es gibt Gläubige, die während ihres ganzen Lebens nicht aus der Wüste herauskommen und das Land praktisch nicht in Besitz nehmen. Darum möchte ich besonders die jüngeren Geschwister darauf hinweisen, welche Bedingungen dem Einzug in das Land Kanaan voraufgehen, damit ihr nicht so lange wie wir Älteren braucht, um dahin zu gelangen.
Hier in 5. Mose 1 ist es noch ein Monat bis zum Einzug in das Land. Aber was ist in diesem einen Monat geschehen? Die Israeliten sind innerlich so weit, dass der Herr Sich mit ihnen beschäftigen kann, um sie einen Rückblick auf ihr Leben werfen zu lassen. Er sagt gleichsam zu ihnen: Wendet euch einmal um und seht zurück, wie euer Leben gewesen ist! Denkt einmal darüber nach! Es gibt Zeitpunkte, wo ein Zurückschauen nicht angebracht ist. Der Herr Jesus sagte zu einem, der Ihm nachfolgen wollte, dass, wer seine Hand an den Pflug legt und zurücksieht, Seiner nicht würdig ist (Lk 9,62). Wenn der Herr ruft, muss man bereit sein und folgen. Aber es gibt in der Geschichte jedes Gläubigen Augenblicke, wo er zurückschauen sollte. Warum? Um zu lernen, wie töricht es ist, einen eigenen Weg zu gehen, und wie vernünftig es ist, nur gehorsam zu sein. Das ganze praktische Leben, das wir hier in der Wüste führen, hat nur ein Ziel – nämlich zu lernen, wie gesegnet es ist, dem Herrn zu gehorchen. Die ersten elf Kapitel des fünften Buches Mose geben uns einen solchen Rückblick auf die Vergangenheit, die Geschichte der Wege Gottes mit Seinem Volk. Wir lesen da, was Israel getan hat und was Gott für Sein Volk getan hat. Daraus wird deutlich, wie herrlich es ist, Ihm gehorsam zu sein und nur Seinen Willen zu tun.
Das ist eine überaus wichtige Belehrung. Jeder von uns, ob er ein halbes Jahr oder fünfzig Jahre bekehrt ist, kann, wenn er einen Rückblick auf sein Leben tut, nur sagen: Ich elender Mensch! Ich werde ewig nur die Güte Gottes rühmen! Nie hat ein Christ anders gesprochen, wenn er wirklich mit offenen Augen auf sein Leben zurückblickte. Man lernt immer mehr, dass nur das, was Gott gewirkt hat, gut ist. Nur dann, wenn wir in Abhängigkeit von Ihm wandelten, Ihm unser Leben übergaben, nur nach Seinem Willen fragten und nur das taten, was Er uns sagte, waren wir wahrhaftig glücklich. Dann war Friede in unserem Herzen. Ich meine jetzt nicht den Frieden mit Gott, sondern den Frieden Gottes. Dann haben wir Ruhe, dann schmecken wir Seine Gemeinschaft. In solchen Augenblicken werden wir wirklich gesegnet. Uns das klarzumachen, ist das Ziel dieser elf Kapitel. Zunächst werden uns aber die Vorbedingungen für einen derartigen Rückblick mitgeteilt. Jemand, dessen Herz in der Welt ist, wird nicht in der Lage sein, sein bisheriges Leben zu beurteilen. Wer noch denkt, etwas Gutes in sich zu finden, der wird keine Einsicht in sein verflossenes Leben haben können.
Es gibt noch weitere Voraussetzungen. Wir lesen in Vers 4, dass Mose redete, „nachdem er Sihon geschlagen, den König der Amoriter, der zu Hesbon wohnte, und Og, den König von Basan, der zu Astaoth und zu Edrei wohnte.“ Man könnte fragen: Warum steht das hier? Wir haben soeben gesehen, dass wir in der Wüste lernen müssen, dass unsere alte Natur nur böse ist. Aber hier lernen wir eine zweite sehr wichtige Tatsache kennen. Wir wissen, dass Sihon und Og die Könige waren, die das Gebiet östlich des Jordan besaßen, das also nicht zu dem eigentlichen Land Kanaan gehörte. Es war das Gebiet, wo später die zweieinhalb Stämme wohnten. In Kapitel 2, 24 lesen wir, dass Gott sagt: „Machet euch auf, brechet auf und ziehet über den Fluss Arnon. Siehe, ich habe Sihon, den König von Hesbon, den Amoriter, und sein Land in deine Hand gegeben; beginne, nimm in Besitz!“ Der Besitz Sihons und Ogs war also etwas, das Gott Seinem Volk gab, bevor es durch den Jordan in das Land eingezogen war. Es handelt sich im Vorbild um Segnungen, die nicht die eigentlich christlichen Segnungen sind, die Gott aber dennoch gegeben hat. Der Jordan ist bekanntlich ein Bild des Todes und der Auferstehung, und zwar nicht nur im Blick auf den Herrn Jesus Selbst, sondern auch in Bezug auf uns. Wir sind mit Christus gestorben und auferstanden und nehmen diese Wahrheit praktisch im Glauben in Besitz. Östlich des Jordan liegen im Vorbild die Segnungen, die nicht jenseits des Todes ihre Stätte haben, sondern mit der Erde in Verbindung stehen. Es sind also die natürlichen, irdischen Segnungen, die wir haben. Wenn wir gesund sind, unser tägliches Brot haben, wenn der Herr uns Kinder anvertraut hat, dann sind das Segnungen, für die wir Ihm danken können; aber es sind irdische und keine himmlischen Segnungen.
5. Mose 1 macht uns im Vorbild deutlich, dass wir die himmlischen Segnungen nur dann in Besitz nehmen können, wenn die beiden Könige Sihon und Og erschlagen sind und wir ihr Land erobert haben. Was bedeuten diese Könige? Wenn wir 4. Mose 21 lesen, sehen wir, wovon Sihon ein Bild ist. Dort heißt es ab Vers 13: „Von dort brachen sie auf und lagerten sich jenseits des Arnon, der in der Wüste ist, der aus dem Gebiete der Amoriter hervorgeht. Denn der Arnon ist die Grenze von Moab, zwischen Moab und den Amoritern. Darum heißt es in dem Buche der Kämpfe Jehovas: Waheb in Sufa und die Bäche des Arnon; und die Ergießung der Bäche, die sich erstreckt nach dem Wohnsitze Ars, und sich lehnt an die Grenze von Moab.“ In Vers 26 lesen wir dann weiter: „Denn Hesbon war die Stadt Sihons, des Königs der Amoriter; und dieser hatte wider den früheren König von Moab gestritten und hatte sein ganzes Land bis an den Arnon aus seiner Hand genommen. Daher sagen die Dichter: Kommet nach Hesbon, aufgebaut und befestigt werde die Stadt Sihons! Denn Feuer ging aus von Hesbon, eine Flamme von der Stadt Sihons; es fraß Ar-Moab, die Herren der Höhen des Arnon.“ Sihon ist also ein Bild eines Menschen, der die irdischen Segnungen nur dazu gebraucht, um sich auf der Erde einen Namen zu machen, um bekannt und berühmt zu werden. Diese Gefahr besteht auch für uns. Es kann sein, dass jemand, der eine schöne Stimme zum Singen hat, die gebraucht, um berühmt zu werden, vielleicht nicht einmal in der Welt, sondern nur inmitten der Geschwister. Es kann sein, dass ein Bruder, der eine Gabe hat, diese Gabe nicht nur dazu gebraucht, dem Herrn zu dienen, sondern auch mit dem Ziel, selbst geehrt zu werden, weil er so gut reden kann. Wir können auf eine gute Stellung stolz sein und daraus etwas machen wollen, wodurch wir uns über andere erheben. Wir können uns auch auf unser Geld etwas einbilden und dadurch mehr sein wollen als andere. Dabei vergessen wir aber, dass all das nur Segnungen sind, die der Herr uns gegeben hat, die wir deshalb nicht für uns selbst, sondern für Ihn verwalten sollen.
In 5. Mose 3 lesen wir, wer Og ist. Über diesen König wird nicht sehr viel gesagt. Wir erfahren nur, dass Israel sein Land einnimmt. Das einzige, was wir darüber hinaus von ihm lesen, steht in Vers 11: „Denn nur Og, der König von Basan, war von dem Überrest der Riesen übriggeblieben. Siehe, sein Bett, ein Bett von Eisen, ist es nicht in Rabba der Kinder Ammon? Seine Länge misst neun Ellen und seine Breite vier Ellen, nach dem Ellenbogen eines Mannes.“ Og ist das Bild eines Menschen, der die irdischen Segnungen nur gebraucht, um sich darauf auszuruhen und seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Für den wirklichen Besitz der geistlichen Segnungen ist es von grundlegender Bedeutung, wie wir die irdischen Segnungen betrachten. Solange man die beiden Könige Selbsterhöhung und Selbstsucht nicht besiegt hat, ist es unmöglich, die geistlichen Segnungen praktisch in Besitz zu nehmen. Die Israeliten haben Sihon und Og besiegt und dann ihr Land aus der Hand Gottes empfangen. In Lukas 5,27 lesen wir, dass der Herr Jesus zu Levi, der am Zoll sitzt, sagt: „Folge mir nach!“ Darauf heißt es: „Und alles verlassend, stand er auf und folgte ihm nach.“ Aber am nächsten Tag machte Levi dem Herrn ein großes Mahl in seinem Hause. Das bedeutet: Er hatte alles wieder, was er für den Herrn Jesus aufgegeben hatte. Aber er hatte es jetzt von dem Herrn zurückempfangen, um es für Ihn zu gebrauchen. Bisher war alles sein Eigentum, jetzt war es das, was er von dem Herrn empfangen hatte. Das müssen auch wir lernen. Um wirklich im Glauben Fortschritte zu machen, um in der Gnade und in der Erkenntnis des Herrn zu wachsen und zu dem erwachsenen Zustand eines Christen zu gelangen, in dem wir die geistlichen Segnungen genießen und jetzt schon in Besitz nehmen können, dazu ist es erforderlich, Og und Sihon besiegt zu haben. Für alle irdischen Segnungen dürfen wir dem Herrn danken. Aber wir haben sie von Ihm empfangen, um sie für Ihn zu gebrauchen. Wir sollen sie aus Seiner Hand annehmen, und das nicht nur mit Worten. Ich denke, dass jeder Gläubige dem Herrn dankt, wenn er sein Brot isst oder wenn er ein gutes Einkommen hat. Aber es kommt darauf an, dass er sich in der Tiefe seines Herzens bewusst ist, all das nur zu dem Zweck von Ihm empfangen zu haben, um es für Ihn zu verwenden.
Das sind wichtige Voraussetzungen für den Genuss der geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern. Wer von uns hätte den Mut, zu behaupten, dass er all diese Segnungen in Besitz genommen hat? Aber dennoch können wir sagen, dass es wunderbare Dinge sind, die man dort in den himmlischen Örtern genießen und in der Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus schon jetzt in Besitz nehmen kann. In Ewigkeit werden sie unser Teil bleiben. Das ist in anderer Beziehung das, wovon der Apostel Johannes schreibt: „Dies schreiben wir euch, auf dass eure Freude völlig sei.“ Nun, möchte man fragen, ist das möglich, eine völlige Freude schon auf der Erde zu haben? Ja, es ist möglich, aber nur dann, wenn man nicht im geistlichen Wachstum stehenbleibt. Wenn man bei der Vergebung der Sünden und der Befreiung aufhört, kann man die himmlischen Segnungen nicht genießen. Dazu ist es vielmehr nötig, weiterzuziehen, so wie Gott sagt: „Lange genug seid ihr an diesem Berge geblieben; wendet euch und brechet auf und ziehet!“
Gott will, dass wir weiterziehen, um das Land in Besitz zu nehmen. Dazu müssen wir aber, wie gesagt, wirklich in der Praxis lernen – und nach Gottes Wort geht das in elf Tagen und braucht keine vierzig Jahre zu dauern! –, dass in uns nichts Gutes ist, dass unsere einzige Sicherheit die ist, uns ganz dem Herrn zu übergeben, so dass Er in uns wirken kann. Wir müssen nur gehorsam sein. Dabei sollen wir die irdischen Segnungen, die, da von Gott gegeben, in sich selbst nicht böse sind, aus der Hand des Herrn annehmen und Og und Sihon besiegen. Das will sagen: Wir müssen uns bewusst sein, dass wir diese Segnungen nicht erhalten haben, um uns damit ein gemütliches Leben hier auf der Erde zu machen, sondern um sie für Ihn zu verwenden.