Betrachtung über das Evangelium nach Johannes
Kapitel 8
So stand es jetzt mit Israel. Sie wussten nicht, dass sie noch in Fesseln lagen und Seine Hand nötig hatten, um sie herauszuführen und zu weiden. Sie wussten nicht, dass sie das wahre Kanaan, das Land Immanuels, noch erreichen mussten. Sie hatten die Gnade des Sohnes Gottes verworfen und rühmten sich des Gesetzes. Und jetzt bringen sie in dem Vertrauen auf ihr Gesetz, indem sie es als Fallstrick für den Herrn benutzen, die Ehebrecherin vor Ihn.
Sie hatten gewiss Seine Gnade den Sündern gegenüber beobachtet. Alle Seine Wege mussten es ihnen gezeigt haben, und sie hielten es daher für ein leichtes, Ihn als Feind Moses und des Gesetzes hinzustellen. Aber Er trägt einen heiligen, ruhmvollen Sieg davon. Gnade triumphiert laut über die Sünde und der Sünder über jeden Ankläger. Der Herr greift das Gesetz nicht an; Er konnte es nicht, denn es war heilig. Er war nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen. Er spricht die Schuldige nicht frei; Er konnte es auch nicht, denn Er war in der vollen Gewissheit der Schuld des Sünders in die Welt gekommen. Gerade das war es, was Ihn zu uns herabgeführt hat. Deshalb kann Er im vorliegenden Fall die Frage der Sünde nicht einfach abtun. Die Sünderin ist überführt, und das Gesetz spricht mit Recht gegen sie. Aber wer kann das Urteil ausführen? Wer kann den Stein werfen? Diese Frage kann Er erheben, und Er erhebt sie auch. Satan mag anklagen, der Sünder schuldig sein und das Gesetz verdammen, aber wo ist der Vollstrecker? Wer kann die verzehrende Kraft des Gesetzes handhaben? Niemand außer Ihm selbst! Niemand kann das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit gegen den Sünder schwingen, die Hände von niemandem sind rein genug, um den Stein aufzuheben und zu werfen, außer Jesus selbst, und Er lehnt es ab. Er weigert sich, zu handeln und auf die Sache einzugehen. Er bückt sich nieder und schreibt auf die Erde, als höre Er die Ankläger nicht. Er war nicht Vorsitzender eines Gerichtshofes, um solche Fälle zu verhandeln. Er war nicht gekommen, um zu richten. Aber die Ankläger sind beharrlich. Dann antwortet der Herr ihnen sinngemäß, dass sie, wenn sie den Berg Sinai haben wollten, auch bekommen sollten. Wenn sie, wie Israel vordem, das Gesetz herausfordern und die Bedingungen des feurigen Berges übernehmen wollten, nun ja, dann sollten sie das Gesetz haben und von neuem die Stimme jenes Berges hören. Dementsprechend lässt Er ein wenig von dem wahren Feuer jenes Ortes hervorleuchten, und sie spüren bald, dass es sie ebenso erreicht wie die überführte Sünderin. Der Boden wird ihnen zu heiß.
Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie hatten nicht daran gedacht, dass die Donner des Berges sie erbeben lassen würden, dass seine schreckliche Finsternis sie ebenso vollständig einhüllen würde wie die bloßgestellte, beschämte Sünderin, die sie selbst herbeigeschleppt hatten. Aber da sie den feurigen Berg gewählt hatten, mussten sie ihn wohl oder übel nehmen, wie er war.
Indem der Herr jedoch dem Gesetz diesen Charakter gab und dadurch sowohl die Richter als auch ihre Gefangene erreichte, bewies Er, dass Er der Herr jenes Berges war. Er ließ, wie gesagt, etwas von dem wahren Feuer sehen. Er sandte als der Herr des Berges seine Blitze aus, lenkte seinen Donner und breitete seine Finsternis aus. Er ließ die Heerscharen des Berges (5. Mo 33,2) ihren Lauf nehmen, um ihre eigenen Werke offenbar zu machen, doch das war für sie, wie in alter Zeit und am gleichen Ort, unerträglich. „Gott möge nicht mit uns reden”, sagte Israel damals (2. Mo 20,19), so wie jetzt die Schriftgelehrten und Pharisäer, und „sie gingen einer nach dem anderen hinaus”, überführt durch ihr eigenes Gewissen. Sie konnten nicht länger an dem Platz stehen, den sie selbst herausgefordert hatten wie damals Israel, als der Berg ihnen kundtat, was er in Wirklichkeit war.
Alles trägt einen erhabenen Charakter. Der Herr ist wunderbar verherrlicht. Sie beabsichtigten, Ihn als Feind Moses hinzustellen, aber Er offenbart sich als der Herr Moses und als Lenker der Blitze, die jenen tapfersten Israeliten erzittern und erbeben ließen. Ist das nicht wunderbar? Seine Herrlichkeit ist gleichzeitig unsere Segnung. Wenn der Herr als der Lenker der verzehrenden Kraft des Gesetzes geehrt wird, so geschieht es für uns. Er lässt dies die arme Sünderin erfahren. Während die Schriftgelehrten und Pharisäer sie anklagen, ist Er taub allen ihren Reden gegenüber, und als sie Ihn auch noch drängen, zeigt Er sich ihr als Der, der den hellen Blitzstrahl auf das Haupt ihrer Ankläger sendet, so dass sie gezwungen sind, sie mit Ihm allein zu lassen, der sich als der Herr vom Sinai und als ihr Befreier erwiesen hatte. Konnte sie mehr wünschen? Konnte sie den Platz verlassen, an dem sie sich jetzt befand? Unmöglich! Sie war imstande, ebenso stehen zu bleiben wie der Herr des Berges. Der Sinai stellte für sie nicht mehr Schrecken dar als für Ihn. Musste sie diesen Ort verlassen? Sie war frei, es zu tun, wenn sie wollte, denn die, welche sie hergebracht hatten, waren weggegangen.
Der Weg war offen. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als nach den anderen hinauszugehen, wenn sie es wünschte. Wenn sie gern ihre Schande verbergen und das Beste aus ihrem Fall machen wollte, konnte sie es; jetzt war es Zeit. Der Herr kennt ihre Sünde in ihrer ganzen Größe, und sie braucht nicht zu denken, dass sie für schuldlos gehalten wird, wenn sie noch bleibt. Wenn dies ihre Hoffnung ist, würde sie besser ihren überführten Anklägern folgen und ihre Scham draußen verbergen. Aber nein, sie braucht nicht hinauszugehen, weil sie die Nachricht von der befreienden Gnade aus den Worten und Taten Jesu vernommen hat. Die Gefühle des natürlichen Menschen hätten sie dazu veranlasst, sich zurückzuziehen. Fleisch und Blut oder die bloßen moralischen Grundsätze des Menschen hätten sie hinter den anderen her hinausgetrieben. Aber der Glaube, der die Tatsache der Erlösung erfahren hat, handelt gegen die Natur und gegen das Urteil des moralischen Menschen. Sie bleibt, wo sie ist. Der Berg Sinai, zu dem ihre Ankläger jenen Ort gemacht hatten, war nicht zuviel für sie. Die noch leise Stimme der Gnade, die einst Mose und später Elia dort gehört hatten, antwortete nun auch ihr. Die Zusicherung des Heils wurde ihr wie einst den Vätern gegeben, und der Ort war grün, frisch und sonnig für ihr Herz. Die „Pforte des Himmels” war ihr geöffnet, und der Schatten des Todes hatte sich ihr in das „Licht des Lebens” verwandelt. Sie braucht nicht zu gehen, sie will und kann nicht gehen. Sie will die Gegenwart des Herrn Jesus nicht verlassen, der sich ihr so herrlich als der Herr vom Sinai und nun als ihr Befreier offenbart hatte. Sicher, sie war eine Sünderin; sie wusste es, und auch Er, vor dem sie jetzt ganz allein stand, wusste es. Genau so war es mit Adam, als er nackt hinter den Bäumen des Gartens hervorkam. Die Ehebrecherin ist willig und fähig, aufgedeckt vor Ihm stehen zu bleiben. Sie konnte sich nach diesen Worten der Gnade ebenso wenig in ein Versteck zurückziehen, wie Adam darin bleiben oder einen Schurz von Feigenblättern tragen konnte. Jesus hatte alle ihre Ankläger in Verwirrung gebracht. Sie hatten das Böse, das sie getan hatte, hinausgeschrieen, aber Er hatte sie völlig und für immer zum Schweigen gebracht. Das Licht des Lebens umgab sie. Ihr Gewissen hatte in einem kurzen Augenblick eine lange und ereignisreiche Reise gemacht. Sie war aus der Gewalt der Finsternis und des Todes in das Reich der Freiheit, Sicherheit und Freude gelangt, und zwar durch das Licht des Herrn des Lebens.
Das sind der Triumph der Gnade und die Freude des Sünders. Es ist das Siegeslied an den Ufern des roten Meeres, wo der Feind tot an seinem Ufer liegt. Sie braucht Ihn nur noch „Herr” zu nennen, und Er braucht nur zu sagen: „Auch ich verurteile dich nicht; geh hin und sündige nicht mehr!”
Das war völlige Befreiung. Dieselbe Befreiung erwartet jeden Sünder, der wie diese arme Ehebrecherin kommen will, um mit Jesus allein zu sein. Als Sünder haben wir es, wie ich schon früher bemerkte, allein mit Gott zu tun. Wir mögen anderen Beleidigungen und Unrecht zufügen, und sie mögen uns anklagen und ablehnen. Aber mit uns als Sündern muss Gott allein handeln; die Entdeckung dieser Tatsache ist der Weg zur Segnung. David sah es ein und erlangte sofort Segen. Seine Tat war ohne Frage ein Unrecht gegenüber einem anderen; er hatte das einzige, kleine Lamm eines armen Mannes genommen. Aber er hatte darin auch gegen Gott gesündigt. In dieser Erkenntnis und in diesem Gefühl sagte er: „Ich habe gegen den HERRN gesündigt.” Das Ergebnis davon war, dass er mit Gott allein gelassen wurde. Urija mochte mit ihm wie mit einem Übeltäter zu rechten haben, aber mit ihm als Sünder hatte er es nicht. Gott musste mit ihm handeln. Und in demselben Augenblick, da ihn seine Sünde allein auf Gott wirft, hört er ebenso wie die Ehebrecherin die Stimme der Gnade: „So hat auch der HERR deine Sünde weggetan, du wirst nicht sterben.” Er wird gezüchtigt für das Unrecht, das er getan hat, aber der Lohn der Sünde ist erlassen.
Es ist immer der Sieg des Sünders, wenn er durch Glauben in Anspruch nehmen kann, mit dem Herrn Jesus allein zu sein. Der Priester und der Levit waren vorübergegangen, denn was konnten sie tun? Welche Eigenschaften oder Fähigkeiten hatte das Gesetz, dem Sünder zu begegnen? Die Gnade ist es und der Fremdling vom Himmel, die helfen müssen. Der barmherzige Samariter muss dem am Weg liegenden bedürftigen und verwundeten Sünder begegnen. Es ist wahrhaft gesegnet, wenn sich die Seele auf ihrem späteren Weg daran erinnert, wie sie einst den Weg mit Jesus, dem Heiland, in der Einsamkeit begann.
Es ist schön für uns zu sehen, wie der Herr durch dieses alles verherrlicht wird mit der strahlendsten Herrlichkeit, Seiner Herrlichkeit als Retter des Sünders. Eine Schale ist für Sünder bereitet, gefüllt mit Weihrauch, der in ähnlicher Kostbarkeit nirgendwo gefunden werden kann (2. Mo 30,37). Selbst die Schalen der Engel enthalten kein solches Räucherwerk. Sie preisen wohl das Lamm, aber nicht in so erhabenen Weisen wie die Gemeinde der erlösten Sünder. Die Engel schreiben Ihm „Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Segnung” zu, aber die Kirche hat ein Lied und singt vor dem Thron: „Du bist würdig ..., denn du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft, durch dein Blut, aus jedem Stamm und Sprache und Volk und Nation.”
Diesen reichen Segen für den Sünder und diese Herrlichkeit für den Heiland sehen wir hier. Die Sünderin wird vor ihrem Ankläger versteckt, und der Heiland bringt ihn zum Schweigen. Die Diener waren entwaffnet worden durch die heilige Anziehungskraft Seiner Worte (Joh 7,46), und jetzt werden die Schriftgelehrten und Pharisäer durch das überführende Licht Seiner Worte zurechtgewiesen (Joh 8,9). Das waren keine fleischlichen Waffen, sondern Waffen himmlischer Natur. Ihre Feindschaft hatte alle ihre Hilfsmittel erschöpft. Sie hatten die Kraft des Löwen und die Arglist der Schlange gebraucht. Nachdem dies vorüber war, nimmt der Herr sofort Seinen Platz der Erhabenheit und völliger Absonderung von ihnen ein. Er richtet die Säule des Lichtes und der Finsternis in der gegenwärtigen Wüste Kanaans auf und stellt Israel, wie früher die Ägypter, auf die Seite der Finsternis. „Ich bin das Licht der Welt”, sagt Jesus; „wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln”.
So stand Israel jetzt und war geistlicherweise Ägypten. Sie hatten weder Gemeinschaft mit Abraham noch mit Gott, obwohl sie sich ihrer rühmten. Denn sie waren unfähig, Abrahams Freude wahrzunehmen oder Den, den Gott gesandt hatte. Sie mussten ihren Platz gottloser Finsternis und Entfremdung einnehmen. Der Herr gibt ihnen den Platz Ismaels, denselben Platz, auf den Paulus sie später stellt (V. 35 und Gal 4). Israel ist gleichsam noch das Kind der Magd und wird es solange bleiben, bis sie zu Jehova umkehren, bis sie die Wahrheit erkennen und die Wahrheit sie „frei” machen wird. Die Juden erklären, dass sie nie Sklavendienste getan hätten (V. 33). Jesus hätte nach einer Münze fragen und durch deren Bild und Aufschrift ihre Falschheit beweisen können. Aber gemäß den hohen und göttlichen Gedankengängen dieses Evangeliums gibt Er ihnen einen anderen Beweis, indem Er sie einer noch tödlicheren Knechtschaft als derjenigen Roms überführt, einer Knechtschaft des Fleisches und der Sünde.
Welche niedrigen und irrigen Gedanken haben sie über Ihn und Seine klaren Worte! Er hatte gesagt: „Abraham, euer Vater, frohlockte, dass er meinen Tag sehen sollte”, aber sie antworteten Ihm so, als hätte Er gesagt, dass Er Abrahams Tag gesehen hätte. Der Unterschied war gewaltig, obwohl sie ihn nicht erkannten. Mit diesen Worten, die Er gebrauchte, beanspruchte Er die höchste Herrlichkeit für sich selbst. Er machte sich zu dem großen Gegenstand von Anfang an, zu Dem, der zu allen Zeiten die Gedanken aller Auserwählten Gottes erfüllte, ihre Hoffnungen beschäftigte und ihren Bedürfnissen entsprach. Auch Abraham hatte Ihn im Glauben gesehen, und ohne Widerspruch, möchte ich gleichsam sagen, wird das Bessere von dem Geringeren gesehen. „Schauet auf mich und werdet gerettet, alle ihr Enden der Erde.” Das ist die Stellung des Christus. Er war der Gegenstand Adams, als dieser aus dem Garten ging, und Er war die Zuversicht Abels und Noahs. Er wurde mit Freuden von Abraham und den Patriarchen gesehen. Er war der Gegenstand der Vorbilder und das Ende des Gesetzes. Er war in den Augen des Täufers das Lamm und das Licht. Er ist jetzt die Zuversicht jedes geretteten Sünders, und Er wird in Ewigkeit das Lob und der Mittelpunkt der Schöpfung Gottes sein.
Dieses Kapitel enthüllt uns deutlich den Zustand Israels. Es war ein feierlicher Augenblick für sie. Im Matthäusevangelium erprobte der Herr die Juden durch Seine Eigenschaft als Messias und überführte sie am Ende davon, dass sie Jesus in diesem Charakter verworfen hatten. Aber in diesem Evangelium prüft Er sie durch andere, höhere Darstellungen von sich selbst, als das Licht, die Wahrheit, den Täter der Werke Gottes und den Sprecher der Worte Gottes, als den Sohn des Vaters. So überführt Er sie nicht allein von ihrem Unglauben an den Messias, sondern auch von der allgemeinen Gottlosigkeit des Menschen. In diesem Charakter wird Israel hier vor uns gestellt, Kain gleich im Land Nod, dem Ort allgemeiner Abkehr des Menschen von Gott. Er hatte die Worte des Vaters geredet, aber sie verstanden nicht und glaubten auch nicht. Als der Gesandte vom Vater war Er in Gnade zu ihnen gekommen; als solcher musste Er erscheinen. Aber sie wiesen Ihn ab. So ist es auch heute noch mit den Menschen. Das Evangelium ist eine Botschaft der Güte, aber der Mensch nimmt es nicht an. Der Mensch will nicht gut von Gott denken; das ist das Geheimnis des Unglaubens. Das Evangelium ist Güte (Röm 11,22), und doch fragt der Mensch noch: Ist es von Gott? Der Mensch hat harte Gedanken über Gott, und Satan selbst flößt ihm noch solche Gedanken ein. Er tut, was er kann, um das Anrecht des Sünders auf Gott zu verschleiern, damit der Sünder nach irgendeinem anderen Erbteil ausschauen möchte.
So ist es hier mit Israel. Jesus richtete niemand, sondern Er redete das Wort des Vaters, das Freiheit und Leben für sie bedeutete. Aber sie verstanden Seine Sprache nicht, mit der Er zu ihnen redete. Ihre Gedanken wurden von ihrem Vater gebildet, der ein Lügner und Mörder war. Für „Gnade und Wahrheit”, die durch Jesus Christus zu ihnen kamen, hatten sie keine geöffneten Ohren. Als der abgelehnte Zeuge des Vaters und das gehasste Licht der Welt hat Er jetzt keinen Platz im Land und keinen sicheren Pfad auf dieser Erde, um darauf vorwärtszugehen. Er geht vorüber, als kenne Er hier keinen Ort und keine Person, aber dennoch scheint Er als das Licht der Welt, wohin auch immer seine Strahlen fallen, „um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen”.