König – Priester – Richter
Messianische Herrlichkeiten in Psalm 110
Teil 2: Christus als König (Verse 2 und 3)
Vers 2: Den Stab deiner Macht wird der Herr aus Zion senden; herrsche inmitten deiner Feinde!
Dieser Vers schließt direkt an Vers 1 an. Er zeigt den König, der inmitten seiner Feinde regiert. Wenn Gott alle Feinde unter die Füße des Messias legt, dann wird sich das erfüllen. Der erste Teil des Verses ist eine Aussage („den Stab deiner Macht wird der Herr aus Zion senden“), der zweite Teil eine Aufforderung des Herrn an den König („herrsche inmitten deiner Feinde“). Die heute bestehende Feindschaft gegen Ihn wird nicht in der gegenwärtigen Zeit sukzessive weggenommen, wie manche denken. Das Leben auf der Erde wird nicht besser und besser werden. Ganz im Gegenteil. Die „Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird“ (Off 3,10), wird der Höhepunkt der Degeneration sein, die Gott „den Abfall“ nennt (2. Thes 2,3). Wenn die Zeit vollendet ist und das Chaos seinen Höhepunkt erreicht hat, vollzieht sich die Änderung plötzlich und überraschend. Christus wird mit dem Stab seiner Macht kommen, seine Feinde besiegen und in ihrer Mitte herrschen. Gott wird das bewirken.
Den Stab deiner Macht wird der Herr aus Zion senden
Erneut ist der Herr (Jahwe) der Handelnde. Er wird den Stab der Macht des Messias aus Zion senden. Das geschieht, nachdem Christus vom Himmel in Macht und Herrlichkeit gekommen sein wird. Diese Macht wird sich von Zion aus über die ganze Erde erstrecken. Seine Regierung wird eine Regierung in Heiligkeit und Gerechtigkeit sein – und zugleich in Gnade und Frieden. Daran erinnert der Berg Zion, der ein Berg der Gnade ist.
Damit erfüllt sich eine der ältesten Weissagungen über den Messias aus dem Segen Jakobs über Juda: „Nicht weichen wird das Zepter von Juda, noch der Herrscherstab zwischen seinen Füßen weg, bis Schilo kommt, und ihm werden die Völker gehorchen“ (1. Mo 49,10). Auch Bileam hatte darüber geweissagt: „Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich schaue ihn, aber nicht nahe; ein Stern tritt hervor aus Jakob, und ein Zepter erhebt sich aus Israel und zerschlägt die Seiten Moabs und zerschmettert alle Söhne des Getümmels“ (4. Mo 24,17; vgl. Ps 2,8.9; 72,8). Der Stab (oder das Zepter) ist hier ein Symbol der regierenden Macht und Autorität (vgl. Ri 6,21; Jes 14,5; Mich 7,14). Das wird durch den Ausdruck „Stab deiner Macht“ noch verstärkt. Die Regierung wird dem Messias übergeben. Er wird sie ausüben. Dann erfüllt sich, was von dem Engel Gabriel zu Maria gesagt wurde: „Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben; und er wird über das Haus Jakobs herrschen in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben“ (Lk 1,32.33). Schon jetzt ist Ihm alle Gewalt im Himmel und auf der Erde gegeben, aber dann wird Er diese Gewalt tatsächlich und direkt ausüben.
Zion ist das Zentrum dieser Herrschaft, die sich über die ganze Erde erstreckt. Es ist klar, dass Zion hier buchstäblich zu verstehen ist. Es geht nicht um ein Symbol für die Kirche (Versammlung), sondern um die Stadt Jerusalem, das Zentrum der Regierung im 1000-jährigen Reich. Zion ist die poetische Bezeichnung von Jerusalem und bedeutet „Denkmal“ oder auch „dürres Land“. Es handelte sich ursprünglich um eine Festung der Jebusiter am südlichen Hang des heutigen Tempelberges in Jerusalem (vgl. Jos 15,8.63; 2. Sam 24,16-18). David nahm Zion ein und nannte es die „Stadt Davids“ (2. Sam 5,7). Nachdem später die Bundeslade von dort in den neu erbauten Tempel hinaufgebracht worden war, wurde auch der Tempelbezirk Zion genannt (1. Kön 8,1; Ps 9,12; 76,3) und schließlich die ganze Stadt Jerusalem (Ps 48,3; 69,36). Die Stadt wird auch „Tochter Zion“ genannt (2. Kön 19,21; Jes 1,8; Sach 9,9).
In übertragener Bedeutung wird der Name Zion in der Bibel oft für die souveräne Gnade Gottes gebraucht, die sich in der Rettung seines Volkes zeigt (Ps 14,7; 20,3; 51,20; 102,14). Genauso wird es im 1000-jährigen Reich sein, wenn die Regierung von Zion ausgeübt werden wird und die Stadt das Zentrum des Segens in Gnade sein wird (Jes 52,1-8; 60,14).
H. Smith schreibt: „Gott hat verfügt, dass Er von Zion aus inmitten seiner Feinde herrschen soll. Gerade am Schauplatz seiner Erniedrigung und der Feindschaft der Menschen wird sich seine Macht zeigen.“1 A. Pridham schreibt: „Der Stab der Macht des Messias soll mit unangefochtener Herrschaft aus demselben Zion kommen, in das sein zerschlagener Leib als Stein des Anstoßes und Fels des Ärgernisses gelegt worden war, als Er in Schwachheit gekreuzigt wurde – ein Geheimnis der Gnade Gottes.“2
Herrsche inmitten deiner Feinde
Christus wird herrschen, ja, „er muss herrschen“ (1. Kor 15,25). Seine Herrschaft erstreckt sich über einen Zeitraum von 1000 Jahren. Die zeitliche Begrenzung war im Alten Testament nicht bekannt. Sie wird erst im letzten Buch der Bibel offenbart (Off 20,2-7). Viele Stellen im Alten Testament beschreiben diese Herrschaft des Messias. Sie werden alle erfüllt werden. Es wird eine Herrschaft in Gerechtigkeit, Frieden und Freude sein.
Unser Vers betont, dass es eine Herrschaft inmitten seiner Feinde sein wird. Die Feinde sind die Widersacher Christi, die zugleich Widersacher des Überrestes der Juden und der zehn Stämme sein werden. Es scheint hier nicht speziell um den großen Feind – den Antichristen – zu gehen, sondern um alle, die dem Überrest zusetzen.
In der Frage, was genau gemeint ist, gehen die Ansichten bibeltreuer Ausleger hier ein wenig auseinander. Einige denken daran, dass der Herr schon vorher die Feinde vernichtet hat und es deshalb um solche geht, die vormals seine Feinde waren, sich jetzt aber Christus ergeben haben und seine Herrschaft akzeptieren. Das Wort inmitten könnte diese Auslegung bestätigen, denn es heißt nicht, dass der Messias über seine Feinde herrschen soll.
Dennoch ist es fraglich, ob das die richtige Erklärung ist. Sie passt eigentlich nicht in den Zusammenhang des Psalms. Wir müssen bedenken, dass der Herr, bevor Er seine gnadenvolle Regierung in Gerechtigkeit und Frieden antreten kann, das Böse durch Gerichte eliminieren muss. Nur so lernen die Bewohner der Erde Gerechtigkeit (Jes 26,9). Das scheint jedenfalls besser in den Zusammenhang zu passen.
F. B. Hole schreibt: „Psalm 2 spricht von diesem Stab als von einem eisernen Zepter, mit dem Er jeden Gegner unterwerfen und zerschmettern wird. Inmitten seiner Feinde zu herrschen bedeutet also keineswegs, dass Er seine Feinde gewähren lässt. Er wird in die Mitte seiner Feinde treten mit aller Macht in seinen Händen. Das wird ihre völlige Vernichtung und ihren ewigen Sturz bedeuten.“3
Und selbst während der Zeit des Reiches wird es Menschen geben, die sich innerlich und sogar äußerlich gegen den König auflehnen und rebellieren werden. Psalm 2,9 und Psalm 101,8 zeigen, dass sie ebenfalls gerichtet werden. Insofern herrscht der Messias auch während des Reiches noch „inmitten seiner Feinde“. Paulus sagt in 1. Korinther 15,25: „Denn er muss herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat.“ In letzter Konsequenz wird gerade das bis zum Ende der 1000 Jahre der Fall sein. Insofern herrscht Er tatsächlich die gesamte Zeit inmitten seiner Feinde. Und dann nennt Paulus den Tod den „letzten Feind“ (1. Kor 15,26), der erst ganz am Ende dieser Zeit im Übergang in die Ewigkeit nach der Zeit weggetan werden wird.
Als der Herr Jesus zum ersten Mal auf die Erde kam, wollte man Ihn nicht. Man lehnte Ihn ab und hasste Ihn sogar. Die Worte der Juden waren: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche“ (Lk 19,14). Zum Spott gab man Ihm einen Rohrstab in die Hand, krönte Ihn mit einer Dornenkrone und bekleidete Ihn mit einem Königsmantel. Hasserfüllt rief man Ihm zu: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ (Mt 27,29). Als Pilatus über sein Kreuz „König der Juden“ schreiben ließ, wollte man diese Überschrift nicht akzeptieren. Aber einmal wird sich das ändern. Er wird herrschen unter seinen Feinden, und sein Volk wird Ihn dankbar anerkennen als den „König der Könige“ und den „Herrn der Herren“.
Vers 3: Dein Volk wird voller Willigkeit sein am Tag deiner Macht; in heiliger Pracht, aus dem Schoß der Morgenröte wird dir der Tau deiner Jugend kommen.
Jetzt ist von dem Volk des Messias die Rede, der direkt angesprochen wird. Es geht um Israel. Das einst so widerspenstige und rebellische Volk wird zu einem Volk voller Willigkeit werden. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Im 1000-jährigen Reich werden die Kinder Israel für Christus wie der Tau seiner Jugend sein. Er wird seine Freude an diesem Volk haben.
Bei seinem ersten Kommen als Messias hat man Ihn als den König und den von Gott gesandten Propheten abgelehnt. Man wollte Ihn nicht haben und nicht auf Ihn hören. Die Juden forderten vielmehr vehement seinen Tod. Am Tag seiner Macht wird das irdische, wiederhergestellte Volk Israel dem Messias ganz anders begegnen.
- Sie kommen „in heiliger Pracht“, d. h. schön und begehrenswert für Ihn. Die „heilige Pracht“ passt zu dem Messias.
- Sie kommen „aus dem Schoß der Morgenröte“, d. h. zu Beginn des Reiches und nach der Zeit der Nacht und Bedrängnis.
- Sie gleichen dem Tau der Jugend, d. h. es ist ein wiedergeborenes Volk und deswegen frisch und kraftvoll wie junge Männer.
Welch eine Freude wird das für den Messias sein.
Dein Volk wird voller Willigkeit sein
Das Volk, von dem hier die Rede ist, ist nicht das himmlische Volk Christi (Apg 15,14), es ist nicht die Versammlung, sondern es handelt sich zweifelsfrei um das irdische Volk des Messias, um Israel (nicht nur aus Juda, sondern aus allen zwölf Stämmen). Der Ausdruck „Volk“ bezieht sich auf die Gesamtheit einer Nation, die in erster Linie durch ihre Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren gebildet und geeint wird. Eine solche Gruppe von Menschen hat starke Blutsbande sowie soziale Beziehungen. Immer wieder nennt Gott dieses Volk im Alten Testament „mein Volk“ (zum ersten Mal ganz am Anfang seiner Geschichte in 2. Mose 3,7; zum letzten Mal in Sacharja 13,9).
Die Zeit, um die es hier geht, ist das 1000-jährige Reich und nicht die Zeit der Gnade. Natürlich ist das Volk Gottes heute ebenfalls ein williges Volk (zumindest sollte es so sein), doch darum geht es hier nicht. Wir müssen lernen, nicht alles direkt auf uns zu beziehen – schon gar nicht in diesem Psalm.
Es gab Zeiten, da wollte Israel nichts von seinem Gott wissen. Schon zu Lebzeiten von Mose musste Gott dem Volk mehrfach vorwerfen, widerspenstig gewesen zu sein (z. B. 4. Mo 27,14; 5. Mo 1,26). Auch die Propheten warfen dem Volk wiederholt vor, rebellisch gegen Gott zu sein (z. B. Jes 30,9; Jer 5,23). In Psalm 81,12 lesen wir: „Aber mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört, und Israel ist nicht willig gegen mich gewesen.“ Durch den Propheten Hosea nennt Gott dieses Volk „Lo-Ammi“, d. h. „nicht mein Volk“ (Hos 1,9). Als dann der Messias zu seinem Volk kam, wurde Er abgelehnt. Er kam zu den Seinen und sie wollten Ihn nicht (Joh 1,11). Am Ende entschieden sie sich für Barabbas und gegen ihren eigenen König. Deshalb konnte dieser Tag nicht der Tag seiner Macht sein, sondern der Tag seiner Mühsal. Wäre es der Tag seiner Macht gewesen, hätte Er sie alle vernichten müssen.
Doch im kommenden Reich wird sich das ändern. Das Volk wird voller Willigkeit (das Wort steht sogar in der Mehrzahl) sein (vgl. Hld 6,12), d. h. sie werden ihrem Gott gerne und freudig dienen und Ihm gerne zur Verfügung stehen (Willigkeit kann auch mit „freiwilligem Opfer“ übersetzt werden). Aus Lo-Ammi („nicht mein Volk“) wird Ammi werden („mein Volk“): „Und ich will sie mir säen im Land und will mich über Lo-Ruchama erbarmen. Und ich will zu Lo-Ammi sagen:,Du bist mein Volk‘; und es wird sagen:,Mein Gott‘“ (Hos 2,25). Welch ein Triumph der göttlichen Gnade. Die letzten Worte des Herrn an dieses Volk lauteten damals: „Ihr habt nicht gewollt!“ (Mt 23,37). Daraus wird einmal ein „williges Volk“ werden.4
F. B. Hole schreibt: „Es scheint so, als ob der ganze Vers zeigt, wie damals die letzten Szenen im Leben unseres Herrn in Zukunft genau umgekehrt verlaufen werden. Damals schrie sein Volk, Ihn zu töten. Sie bedeckten Ihn mit unheiligem Spott und mit Schande. Die Jugend Israels entfernte sich von Ihm in eine dunkle Nacht der Vergeltung für sich selbst. In dem in diesem Vers prophetisch vorgestellten Augenblick kommt Er in Macht und Herrlichkeit hervor, und die Jugend Israels – zumindest geistlich jung, denn sie sind alle gerade erst wiedergeboren – strömt zu Ihm, wenn der 1000-jährige Tag anbricht.“5
Wenn die eigene Kraft und der Eigenwille gebrochen sind, besteht die Bereitschaft, Gottes Willen von Herzen zu tun. Der Patriarch und Vorfahre des Volkes – Jakob – hatte das in der Schule Gottes lernen müssen. Als er dem Engel des Herrn begegnete und dieser ihm die Hüfte ausrenkte (die eigene Kraft nahm), änderte Gott seinen Namen. Aus dem „Überlister“ (Jakob) wurde ein „Kämpfer Gottes“ (Israel), der nun Gott zur Verfügung stand (1. Mo 32,24-29). Jakob ist damit ein Bild des kommenden Überrestes, der die Kämpfe Gottes kämpft und seinem Gott mit Freuden dient.
Obwohl dieses „willige“ Volk in diesem Vers eindeutig Israel ist, gibt es dennoch eine Anwendung für uns. Dazu zwei alte Ausleger:
- Grobéty: „Was uns anbelangt, so brauchen wir nicht bis zu jenem Zeitpunkt zu warten, um uns über seine Erhöhung zu freuen; wir sehen Ihn schon jetzt im Glauben dort, gekrönt mit Ehre und Herrlichkeit, und Er trägt einen Namen, der über jeden Namen ist. Gott hat Ihm diesen Namen gegeben, „…damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,10.11).6
- T. Mawson: „Das wird buchstäblich am Tag der 1000-jährigen Macht des Herrn erfüllt werden, aber es sollte eine nicht weniger gesegnete Erfüllung in uns haben, die wir die Herrlichkeit des Herrn jetzt kennen.“7
Zu allen Zeiten gilt: Man erkennt einen Erlösten daran, dass er sich selbst als ein freiwilliges Opfer seinem Herrn ausliefert. Paulus schreibt den Römern: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, was euer vernünftiger Dienst ist“ (Röm 12,1). Das gilt heute für uns, und das wird in Zukunft für den Überrest des Volkes gelten. Der Eigenwille hat in einem solchen Leben keinen Platz.
Am Tag deiner Macht
Der Tag seiner Macht bezieht sich auf den „Tag des Herrn“ (der von vielen Propheten beschrieben wird), d. h. die Zeitperiode des kommenden Reiches, die damit beginnt, dass der Herr zu Beginn des Reiches seine Feinde unterwirft.
Diese Zeit ist davon geprägt, dass die Macht und Stärke des Herrn öffentlich sichtbar wird. Man könnte den Ausdruck auch übersetzen „der Tag deiner Heeresmacht oder deines Heereszuges“. Der Herr wird – gemeinsam mit dem Überrest – die Feinde besiegen und das Friedensreich gründen (vgl. z. B. Jes 11,14; Sach 12,6).
Es ist der Tag, der mit dem „Tag seines Zorns“ (Vers 5) beginnt. Beide „Tage“ sind keine 24-Stunden-Tage, sondern Zeitperioden. Sie sind miteinander verbunden und doch zu unterscheiden: Der „Tag seines Zorns“ ist die verhältnismäßig kurze Periode zu Beginn des Reiches, die den „Tag seiner Macht“ – das eigentliche Reich – einleitet. Der Zorn ist notwendig, um das Böse zu Beginn der 1000-jährigen Regierung zu beseitigen. Das ganze Reich hingegen wird nicht von „Zorn“, wohl aber von „Macht“ geprägt sein.
Die Zeit, in der wir jetzt leben, ist keine Zeit der Macht, sondern eine Zeit der Gnade, der Geduld und Langmut des Herrn (2. Pet 3,9-15).8 Das Evangelium ist selbstverständlich Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden (Röm 1,16). Dennoch ist der Gedanke hier ein anderer. Heute wird ein williges Volk nicht durch große Machttaten gebildet, sondern durch das gnädige Wirken des Geistes Gottes. Weder zur Zeit seiner Erniedrigung noch während der Zeit seiner Abwesenheit, in der Er zur Rechten Gottes ist, ist der „Tag der Macht“. Doch der Moment ist nicht mehr fern, an dem dieser Tag beginnt.
Der Ausdruck „der Tag deiner Macht“ steht hier in einem doppelten Gegensatz:
- zu dem Tag seiner Erniedrigung: Als Christus zum ersten Mal kam, war es nicht in Macht, sondern in Demut und Niedrigkeit. Wäre Er in Macht gekommen, hätte es das endgültige Ende des irdischen Volkes Gottes – und der ganzen Menschheit – bedeutet.
- zu seiner gegenwärtigen Erhöhung, d. h. seinem Sitzen zur Rechten Gottes: Obwohl Christus jetzt – während Er zur Rechten Gottes sitzt – alle Macht hat, übt Er diese Macht (noch) nicht aus. Er wartet auf den Augenblick, an dem Er auf die Erde zurückkehren wird, um sein Reich in Macht (und Herrlichkeit) zu gründen.
In heiliger Pracht
Man könnte das zum einen auf den „Tag der Macht“ und zum anderen auf das „willige Volk“ beziehen. Beides ergibt einen guten Sinn. Im ersten Fall ist es klar, dass diese Zeit die ganze Herrlichkeit des Messias zeigt. Im zweiten Fall ist es so, dass sein Volk zu Ihm passt, weil es heilig und herrlich ist, so wie Er heilig und herrlich ist. In Psalm 16,3 werden die Heiligen (aus Israel) als Herrliche bezeichnetet, an denen Gott all sein Gefallen hat.
Wenn wir dabei an uns denken, dann gilt, dass wahre Heiligung des Gläubigen nach Geist, Seele und Körper für den Herrn eine Freude ist. Es ist eine „heilige Pracht“, die im völligen Gegensatz zu dem Schmutz der Welt steht, in der wir noch leben. Daran denkt Paulus, als er von den Gefäßen zur Ehre spricht, die sich von allem Schmutz abgesondert haben und dem Hausherrn zur Ehre und nützlich sind (2. Tim 2,21). Es ist eine Freude für Gott, wenn wir Schönheit für Gott in einem geheiligten und reinen Leben und Charakter zeigen.
Aus dem Schoß der Morgenröte wird dir der Tau deiner Jugend kommen
In sehr poetischen Worten wird das nun weiter beschrieben, wobei gerade dieser Satzteil nicht einfach zu übersetzen ist. Man könnte auch sagen: „Wie der Tau am frühen Morgen geboren wird, so kommt dein Volk zu dir – zahlreich, frisch, prächtig und kraftvoll.“ Der „Schoß der Morgenröte“ (oder Mutterleib des Morgens) könnte auf den Beginn dieses Tages (des Reiches) hinweisen, der sich der Nacht der Drangsal anschließt. Der Überrest des Volkes wird hervorglänzen „wie die Morgenröte, schön wie der Mond, rein wie die Sonne“ (Hld 6,10).
Gerade in heißen Ländern wird der frische Tau des Morgens besonders geschätzt. Der „Tau deiner Jugend“ bezieht sich wohl auf die Nachkommenschaft, die dem Messias in dem wiederhergestellten Israel anstelle der Väter zu seiner Freude geschenkt werden wird. Sie alle werden die Wiedergeburt erlebt haben, sonst würden sie nicht in das Reich eingehen können. Sie stehen in der ersten Frische ihrer Hingabe zu dem Messias und sind froh, Ihm dienen zu können. Israel wird dann für den Messias das sein, was im Buch Ruth vorgeschattet wird, als Ruth eine Freude für Boas war. In Ruth 4,12 wird Ruth – obwohl sie nicht mehr ganz jung gewesen sein kann – eine „junge Frau“ genannt.
Der „Tau deiner Jugend“ ist also nicht die persönliche Jugendkraft des Messias, sondern scheint ein dichterischer Begriff zu sein, der das Volk Israel in seiner Frische und Lebenskraft beschreibt.9 Die Morgendämmerung des Reiches ist sozusagen seine Mutter, die das Volk nach der Nacht der Leiden (der Drangsal) geboren hat. Das ganze Volk gleicht jungen Männern in ihrer Frische und Kraft.
A. C. Gaebelein gibt folgende Erklärung: „Der Schoß des Morgens bedeutet die Morgendämmerung dieses gesegneten Tages. Das Volk Israel wird wiedergeboren sein, wird Gottes Erstgeborener unter den anderen Völkern sein, und es erscheint in heiliger Pracht. Und so sind sie der Tau seiner Jugend. Dies ist ein schöner Ausdruck. Wie der Tau an einem schönen Morgen glitzert, wenn die Sonne in ihrem Glanz aufgeht, so werden die erlösten Menschen seine Herrlichkeit widerspiegeln. In jedem Tautropfen ist ein kleiner Sonnenstrahl sichtbar, und so werden seine willigen Menschen etwas von Ihm widerspiegeln. Sie werden der Tau seiner Jugend genannt, weil sie auch zu der Mühsal seiner Seele gehören.“10
Der Tau symbolisiert im Alten Testament wiederholt den Segen des Himmels für die Erde (5. Mo 33,13.28; 4. Mo 11,9), an dem die Menschen sich erfreuen. Die „neue Generation“, die geboren werden und in das Reich eingehen wird, wird eine Erfrischung und Freude für den Messias sein, weil sie Teil seiner Frucht ist und Frucht für Ihn bringt. Sie werden dem Herrn mit Freude dienen (Ps 100,2).
Fußnoten
- 1 H. Smith: The Psalms
- 2 A. Pridham: Notes and Reflections on the Psalms
- 3 F. B. Hole: Psalm 110
- 4 Einen Vorgeschmack darauf gewährte Gott dem Messias bei seinem letzten Einzug in Jerusalem, als man Ihn freudig empfing, Palmzweige nahm und rief: „Hosanna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ (Joh 12,13). Es ist eins der wenigen Ereignisse im Leben des Herrn, das von allen vier Evangelisten berichtet wird. Leider hielt die Begeisterung nicht lange an, und nur kurze Zeit später füllte der Ruf „Kreuzige ihn!“ die Stadt Jerusalem.
- 5 F. B. Hole: Psalm 110
- 6 P. Grobéty: Was sagen uns die Psalmen
- 7 J. T. Mawson: In Holy Splendour (www.biblecenter.org)
- 8 Das bedeutet nicht, dass der Herr nicht alle Macht hätte. Er hat sie (Mt 28,18). Es bedeutet auch nicht, dass Er nicht in der gegenwärtigen Zeit machtvoll eingreift. Auch das tut Er. Aber die Zeit, in der wir leben, ist nicht von öffentlicher Macht gekennzeichnet, sondern von Gnade. Das prägende Element ist Gnade.
- 9 Die Elberfelder Bibel (Edition CSV) gibt in einer Fußnote den Hinweis: „d. h. deiner jungen Mannschaft“
- 10 A. C. Gaebelein: The Psalms, an Exposition