Betrachtung über Hebräer (Synopsis)
Kapitel 5
Der Brief entwickelt sodann das Priestertum des Herrn Jesus, indem er es mit dem des Aaron vergleicht, aber, wie wir sehen werden, in der Absicht, um weit mehr die Verschiedenheit als die Übereinstimmung zwischen beiden hervortreten zu lassen, obgleich es eine allgemeine Ähnlichkeit gibt und das eine ein Vorbild des anderen war. Diesen Vergleich finden wir in den ersten zehn Versen unseres Kapitels. Die Reihenfolge der Beweise wird alsdann, obgleich ihre Grundlage erweitert und näher entwickelt wird, bis zum Ende des 6. Kapitels unterbrochen, wo der Vergleich mit Melchisedek fortgesetzt und gezeigt wird, dass als Folge der Änderung des Priestertums eine Änderung des Gesetzes stattgefunden hat. Das führt dann die Bündnisse sowie alles das ein, was sich auf die Umstände der Juden bezieht.
Ein „aus Menschen genommener Hohepriester“ (der Schreiber spricht hier nicht von Christus, sondern von dem, womit er Ihn vergleicht) wird für Menschen bestellt in den Sachen mit Gott, damit er sowohl Gaben als Schlachtopfer für Sünden darbringe. Er ist fähig, das Elend anderer zu fühlen, weil er selbst mit Schwachheit umgeben ist, und deshalb opfert er auch sowohl für sich selbst als auch für das Volk. Zudem nimmt nicht jemand sich selbst die Ehre, sondern er empfängt sie, wie Aaron, indem er von Gott berufen wird (V. 4). Der Brief wird später auf die Opfer zu sprechen kommen. Hier redet er von der Person des Priesters und von der Ordnung des Priestertums.
Der Christus hat sich also nicht selbst verherrlicht, um Hohepriester zu werden. Die Herrlichkeit seiner Person, wie Er als Mensch auf Erden offenbart war, sowie die seines Dienstes als Priester werden beide klar bezeichnet, die erste, indem Gott sagt: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“ (Ps 2), die zweite mit den Worten: „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“ (Ps 110). Das also ist, sowohl seiner persönlichen als auch seiner dienstlichen Herrlichkeit nach, der Hohepriester, der erwartete Messias, der Christus.
Aber seine Herrlichkeit, obwohl sie Ihm seinen Ehrenplatz vor Gott gibt, und zwar als Folge der Erlösung, so dass Er des Volkes Sache vor Gott nach dem Willen Gottes übernehmen kann, bringt Ihn dem Elend der Menschen nicht nahe. Seine Geschichte hienieden ist es vielmehr, die uns fühlen lässt, wie wahrhaft fähig Er ist, an unseren Trübsalen teilzunehmen. „In den Tagen seines Fleisches“, d. h. hienieden, ging Er in Abhängigkeit von Gott die ganze Angst des Todes ein und richtete sein Flehen zu Dem, der fähig war, Ihn vom Tod zu erretten; denn da Er hienieden war, um zu gehorchen und zu leiden, rettete Er sich nicht selbst. Er unterwarf sich allem, gehorchte in allem und war in allem von Gott abhängig.
Er wurde erhört um seiner Frömmigkeit willen. Es war geziemend, dass Er, der für andere den Tod auf sich nahm, das Gewicht desselben auf seiner Seele fühlte. Er wollte weder den Folgen dessen, was Er unternommen hatte, entfliehen (vgl. Kap. 2), noch des richtigen Gefühls von dem ermangeln, was es war, also unter der Hand Gottes im Gericht zu sein. Seine Furcht war gerade der Beweis seiner Frömmigkeit – die wahre Schätzung der Stellung, in der der sündhafte Mensch sich befand, und die Erkenntnis dessen, was dieserhalb von Gott geschehen musste. Die Folgen dieser Stellung zu erdulden bedeutete für Ihn Gehorsam, und dieser Gehorsam musste vollkommen sein und bis zum äußersten erprobt werden.
Er war der Sohn, der herrliche Sohn Gottes. Aber obwohl das so war, musste Er doch an allem, was Er litt, lernen, was Gehorsam in der Welt war (und für Ihn war Gehorchen etwas Neues). Und nachdem Er auf diesem Weg alle Herrlichkeit verdient hatte, musste Er seinen Platz als der verherrlichte Mensch einnehmen. Er musste vollendet werden, um in dieser Stellung der Urheber ewigen Heils (nicht nur einer zeitlichen Errettung) für diejenigen zu werden, die Ihm gehorchen – eines Heiles, das verbunden werden sollte mit der Stellung, die Er infolge seines Werkes des Gehorsams eingenommen hatte, „von Gott begrüßt als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks“.
Was nunmehr folgt bis zum Ende des 6. Kapitels ist eine Einschaltung, die sich auf den Zustand der Empfänger des Briefes bezieht. Sie werden wegen der Trägheit ihres geistlichen Verständnisses getadelt und zugleich durch die Verheißungen Gottes ermuntert, und das alles in Verbindung mit ihrer Stellung als gläubige Juden. Später wird der Faden der Belehrung bezüglich Melchisedeks wieder aufgenommen. Der Zeit nach hätten die gläubigen Hebräer fähig sein sollen, andere zu belehren. Stattdessen aber bedurften sie, belehrt zu werden über die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes. Sie bedurften der Milch statt der festen Speise.
Es ist beachtenswert, dass es für den Fortschritt im geistlichen Leben und in der Erkenntnis kein größeres Hindernis gibt, als die Anhänglichkeit an eine alte Religionsform, die, da sie eine Überlieferung und nicht einfach persönlicher Glaube an die Wahrheit ist, immer in Satzungen bestehen und infolgedessen fleischlich und irdisch sein muss. Andere, die außerhalb der Einwirkungen der Überlieferung stehen, mögen ungläubig sein, aber unter dem Einfluss eines solchen religiösen Systems bildet die Frömmigkeit selbst (die sich in Formen äußert) eine Schranke zwischen der Seele und dem Licht Gottes, und jene Formen, die die Zuneigungen einnehmen und gefangen halten, verhindern diese, erweitert und durch göttliche Offenbarung erleuchtet zu werden. Moralisch sind (wie der Apostel es hier ausdrückt) die Sinne nicht geübt, Gutes und Böses zu unterscheiden.
Der Heilige Geist will sich jedoch nicht auf den engen Kreis menschlicher Überlieferung und die mit ihr verbundenen schwachen und armseligen Gefühle beschränken, auch nicht auf jene Wahrheiten, die man in einem solchen Zustand aufzunehmen fähig ist. In einem solchen Fall hat Christus nicht den Ihm gebührenden Platz. Und das ist es gerade, was unser Brief hier entwickelt.
Die Milch gehört den Kindern, die feste Speise den Erwachsenen. Diese Kindheit war der Zustand der Seele unter den Satzungen und Forderungen des Gesetzes (vgl.Gal 4,1 ff). Es gab aber eine Offenbarung des Messias, die mit diesen beiden Zuständen, dem der Kindheit und des Mannesalters, in Verbindung stand. Und die Entwicklung des Wortes der Gerechtigkeit und der wahren praktischen Beziehungen einer Seele zu Gott, Seinem Charakter und seinen Wegen gemäß, stand im Verhältnis zu der Offenbarung Christi, der die Darstellung dieses Charakters und der Mittelpunkt aller dieser Wege Gottes ist. Deshalb spricht der Brief in Kapitel 5, 12+13 von den Elementen des Anfangs der Aussprüche Gottes und von dem Wort der Gerechtigkeit und in Heb 6,1 von dem Wort des Anfangs oder von den ersten Grundsätzen des Christus.