Jakob - Gott kommt zum Ziel
Die Flucht aus Haran (1. Mo 31,1–21)
Auch in diesem Schriftabschnitt begegnet uns ein ganz anderer Geist als in der Geschichte Abrahams oder sogar Isaaks. Jakob hielt sich bei seinen Blutsverwandten auf, doch welch einem Egoismus und Betrug vonseiten seines Onkels war er ausgesetzt! Und was für Schachzüge führte er selbst aus, um sich dagegen zu schützen! Aber Gott durchkreuzte die Pläne des Habsüchtigen und half dem lange Unterdrückten. Niedergang auf der einen und Überfluss auf der anderen Seite war das Ergebnis. Das traf Laban und seine Söhne ins Mark. Ihre Beziehung zu Jakob kühlte sich mehr und mehr ab – was Jakob letztendlich zugutekam. Aber wie schwach war sein Glaube!
In der Tat, der HERR ist „barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte“ (2. Mo 34,6). Denn genau zu dem Zeitpunkt, als das Angesicht Labans und die Worte seiner Söhne ihren Missmut verrieten – was kein Wunder war! –, sprach der HERR zu Jakob: „Kehre zurück in das Land deiner Väter und zu deiner Verwandtschaft, und ich will mit dir sein“ (V. 3). Die göttliche Fürsorge hatte ihm in etwa fünf oder sechs Jahren den Lohn ausgezahlt, den ihm Laban über zwanzig Jahre vorenthalten hatte.
Laban und seine Söhne wollten Jakob tatsächlich loswerden, scheuten sich aber, es zu sagen. Denn wie gering war Labans Besitz gewesen, ehe Jakob auf der Bildfläche erschienen war! (vgl. 1. Mo 30,30). Auch Jakob war zu ängstlich, um offen zu handeln. Aber, von Gott ermutigt, rief er Rahel und Lea zu sich aufs Feld, um sich mit ihnen zu besprechen. Er schilderte ihnen unverblümt, wie böswillig ihr Vater gegen ihn gehandelt hatte, dass aber der Gott seines Vaters mit ihm gewesen war. „Euer Vater hat mich betrogen und hat meinen Lohn zehnmal verändert; aber Gott hat ihm nicht gestattet, mir Böses zu tun“ (V. 7). Der HERR hatte ihm Gerechtigkeit verschafft und ihm das Vieh Labans gegeben.
Doch bei alledem glich Jakob weit mehr einem Lot als seinem Großvater Abraham, der über irdischen Gewinn erhaben war. Und Gott, der dafür gesorgt hatte, dass er, der betrogene Knecht, seinen gerechten Lohn erhielt, erinnerte den vergesslichen Jakob auch an sein Gelübde von Bethel: „Ich bin der Gott von Bethel, wo du ein Denkmal gesalbt, wo du mir ein Gelübde getan hast. Nun mach dich auf, zieh aus diesem Land und kehre zurück in das Land deiner Verwandtschaft“ (V. 13).
Seine beiden Frauen waren völlig damit einverstanden. Ihr Vater hatte ihre Zuneigung und ihren Respekt verloren. Daher ermunterten sie ihren Mann, das zu tun, was Gott geboten hatte – wenn sich auch ihre Gedanken auf einer niedrigeren Ebene bewegten: „Denn er hat uns verkauft und hat auch unser Geld völlig verzehrt. Denn aller Reichtum, den Gott unserem Vater entrissen hat, uns gehört er und unseren Kindern“ (V. 15.16).
Der Augenblick war günstig. Laban war mit der Schur seiner Schafe beschäftigt, und so zögerte Jakob nicht, seine Frauen und Kinder auf die Kamele zu setzen, um sich in großer Eile mit all seinem Vieh und seiner Habe davonzustehlen. Sein Ziel war das Haus seines Vaters in Kanaan. Es ist offensichtlich, dass der HERR in seiner Barmherzigkeit – trotz der Verworrenheit der Wege Jakobs! – alles wunderbar fügte. Das Ganze ist eine heilsame Lektion für uns alle, und sie wird es besonders für Israel in zukünftiger Zeit sein.
Wie erschütternd ist aber nun der Diebstahl Rahels: „Und Rahel stahl die Teraphim, die ihr Vater hatte“ (V. 19). Das zeigt uns die verborgene Wurzel für Labans Ungerechtigkeit. Es fehlte ihm an wahrer Gottesfurcht. Götzendienst wurde bei ihm und seiner Familie aufgedeckt, was damals oft mit dem Bekenntnis zum wahren Gott einherging. Aber was kann Gott mehr beleidigen, als Ihn zum Vorsitzenden oder stillen Teilhaber einer Gesellschaft von Göttern zu machen?
Auch macht es betroffen, dass Rahel überhaupt die Götzen ihres Vaters stahl! Warum tat sie das? Um sich, wie manche glauben, nur an deren materiellem Wert zu bereichern? Oder um ihrem Vater die Möglichkeit zu nehmen, die Teraphim über den Weg zu befragen, den die Flüchtigen ziehen würden? Manche meinen sogar, sie wollte dadurch ihren Vater von seiner Torheit überführen, diejenigen als Götter zu betrachten, die sich selbst nicht retten können (vgl. Jes 46,1.2). Das alles hört sich gut an, ist aber keine vernünftige Erklärung für Rahels Verhalten. Den wahren Grund können wir aus der Geschichte Israels erfahren. Direkt nach den feierlichen Ereignissen am Sinai beugten sie sich vor dem goldenen Kalb nieder, das Aaron gemacht hatte. Auch die weitere Geschichte Israels bis hin zur Wegführung nach Babel offenbart dasselbe: die böse und gottlose Verblendung des menschlichen Herzens. Das scheint uns der wahre Grund für Rahels Diebstahl gewesen zu sein.
Jakob wusste nichts davon, obwohl es offensichtlich noch weitere Götzen in seinem Haus gab. Etwas später sagte er nämlich „zu allen, die bei ihm waren: Tut die fremden Götter weg, die in eurer Mitte sind“ (1. Mo 35,2). Sein Haus war also in dieser Beziehung nicht im Einklang mit Gott, was er dann selbst erkennen musste.
Wer meint, er könne sich als Gläubiger gefahrlos mit Götzen abgeben, hat aus dieser Begebenheit nichts gelernt. Zwar besteht kein Grund zu der Annahme, dass Rahel den einen wahren Gott aufgeben wollte; so weit ging wohl auch selbst Laban nicht. Doch sehen wir hier und in der ganzen Bibel, dass selbst bei denen, die den lebendigen Gott anerkannten, die deutliche Neigung bestand, mehr oder weniger dem Götzendienst zu frönen. Der Fall Salomos ist der klare Beweis dafür, wie gefährlich diese Schlinge für Israel sogar in seiner glanzvollsten Zeit war. Denn was könnte ernster und demütigender sein, als was das inspirierte Wort über diesen weisen König berichtet? Obwohl er den prächtigen Tempel zur Ehre des HERRN gebaut hatte, in dem die Wolke der Herrlichkeit zu wohnen pflegte, machte er auch Kamos, dem Gräuel der Moabiter, auf dem Berg vor Jerusalem eine Höhe, und ebenso dem Molech, dem Gräuel der Kinder Ammon! „Und so tat er für alle seine fremden Frauen, die ihren Göttern räucherten und opferten“ (1. Kön 11,7.8).
Wie bemerkenswert ist der abschließende Appell im ersten Johannesbrief: „Kinder, hütet euch vor den Götzen!“ (1. Joh 5,21). Wir können ganz sicher davon ausgehen, dass die Briefempfänger keine Bilder aus Gold, Silber, Holz oder Stein verehrten. Aber es gab eine subtilere Form des Bösen, die der Apostel schon damals für die Heiligen befürchtete. Gerade der Brief, der mit der vollen Offenbarung des wahren Gottes in der Person unseres Herrn Jesus beginnt, um uns in die Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn zu bringen, endet mit solch einer Warnung! Zeigt das nicht, wie groß die Gefahr von „Götzen“ selbst für einen Gläubigen ist? Alles, was außerhalb der durch Christus offenbarten Gottheit in religiöser Hinsicht das Herz erfüllt, ist ein Götze. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ein ausgeprägter und schamloser Götzendienst die Christenheit in allen Regionen der Erde durchdrang.