In all ihrer Bedrängnis war Er bedrängt
Psalm 69

Psalm 69 ist ein Psalm, der uns besonders berührt, weil es ein Leidenspsalm ist. Der Leser erkennt dabei schnell, dass es nicht zuerst um die Leiden von Menschen geht, sondern dass die Hauptzielrichtung ist, uns mit den Leiden unseres Herrn zu beschäftigen – ein Thema, das im Alten wie im Neuen Testament häufig aufgegriffen wird und unsere Herzen besonders anspricht. Wir wollen deshalb nicht nur versuchen, diesen Psalm besser zu verstehen und auf uns anzuwenden, sondern vor allem die Person unseres Herrn groß vor unseren Augen zu haben. Das ist die Absicht dieser Auslegung zu Psalm 69.

Eine Einleitung wird helfen, den Gedankengang des Psalms besser zu erfassen. Wir gehen dabei in drei Schritten vor:

  • Schritt 1: Wir werfen einen kurzen Blick auf die Psalmen insgesamt
  • Schritt 2: Wir fragen uns, was der Leitgedanke im zweiten Psalmbuch ist
  • Schritt 3: Schließlich schauen wir den direkten Kontext von Psalm 69 an

1. Zum besseren Verständnis der Psalmen

In der Regel ist es gut, wenn sich der Leser eines Psalms vier Fragen stellt:

  1. Was ist der historische Hintergrund, vor dem ein Psalm geschrieben wurde? Manchmal wissen wir es, manchmal können wir es nur ahnen und manchmal wissen wir es gar nicht. Im Fall von Psalm 69 wissen wir es nicht. Wir erkennen aber, dass David diesen Psalm geschrieben hat, als er in einer großen Not durch Feinde von außen war.
  2. Was lernen wir über unseren Herrn? Fast alle Psalmen sprechen – direkt oder indirekt – von unserem Herrn oder haben eine Botschaft über Ihn. Bei den sogenannten „messianischen Psalmen“ ist das besonders ausgeprägt. Die Schriften des Alten Testamentes zeugen von Ihm (Joh 5,39). Petrus schreibt, dass die Propheten über die Leiden und die Herrlichkeiten des Christus nachgedacht und gezeugt haben (1. Pet 1,11). In Psalm 69 ist es nicht zu übersehen, dass es vornehmlich um Ihn geht.
  3. Welche prophetische Botschaft hat ein Psalmtext? Viele Bibelleser übersehen diese Perspektive in den Psalmen und kommen dann zu falschen Schlussfolgerungen. Man kann die Psalmen nämlich nur dann richtig verstehen, wenn man erkennt, dass sie nicht in erster Linie im Blick auf uns Christen geschrieben sind, sondern es sich um prophetische Aussagen im Blick auf Gottes irdisches Volk und speziell den jüdischen Überrest handelt. Dabei geht es in den Psalmen nicht so sehr um prophetische Ereignisse der Zukunft, sondern vielmehr um die Empfindungen derer, die in dieser Zeit leben. Die Psalmen können deshalb nicht direkt auf uns übertragen werden.
  4. Welche Botschaft hat ein Psalm für uns heute? Die Psalmen sind Teil des Wortes Gottes und damit wie das ganze Alte Testament „zu unserer Belehrung“ geschrieben. Durch das Ausharren und die Ermunterung der Schriften haben wir Hoffnung (Röm 15,4). Obwohl unsere Stellung als Christen anders ist als die der Juden kommender Tage, teilen wir manches mit ihnen. Und vor allem lernen wir, wie der Herr Jesus in unseren Lebensumständen mit uns empfindet – im Leid ebenso wie in Freude.

Psalm 69 hilft uns vor allem, unseren Herrn besser kennenzulernen. Er wird deshalb zurecht zu den messianischen Psalmen gezählt. Gerade dieser Psalm zeigt uns viel von den Empfindungen des Messias in Verbindung mit dem leidgeprüften Überrest der Juden in den Tagen der Drangsal und Not. Wir lernen seine Gefühle besser kennen, sein Mitleid mit den leidgeprüften Gläubigen, die in großer Not sind. Weil der Herr Jesus durch tiefe Leiden gegangen ist, leidet Er mit, wenn der Überrest leidet. Gerade weil es um Ihn geht, muss uns dieser Psalm besonders interessieren.

Und doch gibt es auch eine direkte praktische Anwendung. Dieser Psalm macht vor allem Gläubigen Mut, die durch schwierige Umstände – und vor allem durch Verfolgung – gehen. Verfolgung ist dann am härtesten zu ertragen, wenn es nahestehende Personen sind, die uns bedrängen. Genau das erlebt David in diesem Psalm. Genau das hat Christus erlebt und genau das wir der Überrest kommender Tag erleben.

2. Die prophetische Dimension der Psalmen

Da wir die Psalmen meistens unter dem vierten Aspekt der praktischen Anwendung zu uns reden lassen, ist es gut, etwas näher auf die prophetische Dimension einzugehen. Wer nämlich nichts von diesem Überrest der Juden weiß und unterstellt, dass die Psalmen Ausdruck christlicher Empfindungen sind, kommt schnell zu Fehlinterpretationen. Ohne Frage werden in den Psalmen viele Erfahrungen beschrieben, die Christen auch machen (z. B. Not, Leid, Enttäuschung, Trauer, Vertrauen, Hoffnung, Erhörung, Rettung, Freude, Jubel usw.). Dennoch befinden wir uns in den Psalmen nicht auf typisch christlichem Terrain, sondern auf jüdischem. Das müssen wir gut im Auge behalten.

Wir erkennen das sehr schnell, wenn wir z. B. bedenken, dass die Psalmen – dazu zählt auch Psalm 69 – immer wieder den Ruf nach Rache enthalten (vgl. z. B. Ps 5,11; 76,9; 109,7 - 10,137,7–9; und auch Psalm 69,23-29). Die gottesfürchtigen Juden bitten um das Gericht über ihre Feinde. Wenn wir nicht berücksichtigen, dass es hier um den jüdischen Überrest geht, kommen wir sofort in Schwierigkeiten, weil das Neue Testament uns Christen etwas ganz anderes lehrt als den Ruf nach Rache (vgl. Röm 12,19-21). In der Nachfolge des Herrn werden die Gläubigen der gegenwärtigen Zeit vielmehr aufgefordert, für die zu beten, die sie verfolgen und ihnen Böses tun (Mt 5,43.44; Lk 23,34; Apg 7,60). Das hatten die Jünger nicht bedacht, als sie den Herrn baten, Feuer vom Himmel herabfallen zu lassen, um die Feinde zu strafen. Der Herr muss sie deswegen tadeln (Lk 9,54.55).

Hinzu kommt, dass wesentliche Themen der christlichen Zeit in den Psalmen völlig fehlen, wie z. B. die himmlische Hoffnung, das Vaterhaus, die Beziehung von Söhnen und Kindern zum Vater, die Versammlung Gottes usw. Stattdessen sprechen die Psalmen – ganz in Übereinstimmung mit dem Alten Testament und der Hoffnung Israels – von einem langen Leben auf der Erde. Israel hat eine irdische Perspektive, während wir Christen eine himmlische Perspektive haben. Israel wartet auf den Messias, der das Reich auf der Erdegründet. Wir warten auf denjenigen, der uns in den Himmel holt. Israel wurde in der Zeit auserwählt. Wir sind vor Grundlegung der Welt auserwählt.

Die Psalmen sagen nichts über viele grundlegende Wahrheiten des Christentums. Sie können es nicht, weil diese Wahrheiten damals noch nicht bekannt waren. Der Horizont der Psalmen ist eindeutig irdisch. Es geht um Empfindungen von Menschen, die unter dem Gesetz stehen. Diese Unterschiede zeigen keinen Widerspruch, sondern sind einfach der Zeit (der Haushaltung) geschuldet, in der die Gläubigen damals lebten bzw. der Überrest aus den Juden einmal leben wird.

Die Psalmen zeigen uns an vielen Stellen diesen Überrest, der durch die Drangsal der sieben Jahre (die letzte Jahrwoche Daniels) geht. Er unterscheidet sich moralisch völlig von der Masse der Juden, die dem Antichristen folgen werden. Der Überrest wird in großer Bedrängnis sein – und zwar vor allem durch den Antichristen und den Herrscher des kommenden Römischen Reiches, der mit dem Antichristen kooperieren wird. Hinzu kommen Gerichte Gottes, die alle Menschen treffen werden. In dieser Situation wird Gott die Augen dieser wenigen Menschen öffnen. Sie tun Buße und bekennen ihre Schuld. Sie erkennen, dass Jesus Christus der Messias ist, den sie damals gekreuzigt haben. Sie erwarten Ihn als Retter, der sie befreien und die Bedränger vertilgen wird. Wichtig ist zu erkennen, dass die Rettung und Befreiung des Überrestes mit dem Gericht über die Feinde Hand in Hand gehen. Ohne das Gericht über die Feinde gibt es keine Befreiung für diese Juden.

Es wird also deutlich, dass dieser gläubige Überrest von uns Christen unterschieden werden muss, die heute die Versammlung Gottes bilden. Die Versammlung ist christlich, der Überrest ist jüdisch. Die Versammlung hat eine himmlische Perspektive, der Überrest hat eine irdische Perspektive.

3. Teil des zweiten Psalmbuches

Psalm 69 steht im zweiten der fünf Bücher der Psalmen (Psalm 42-72). Man hat diese fünf Psalmbücher oft mit den fünf Büchern Mose verglichen und als „Pentateuch (Fünf-Buch) Davids“ bezeichnet (obwohl David nur etwa die Hälfte der Psalmen geschrieben hat).

Die ersten beiden Bücher der Psalmen befassen sich prophetisch vor allem mit dem gläubigen Überrest der zwei Stämme (Juda und Benjamin), die durch die große Drangsal gehen. Im ersten Psalmbuch befindet sich der Überrest noch im Land Israel (vor allem in Jerusalem) und lebt inmitten der gottlosen Juden, die dem Antichristen folgen. Das wird zeitlich in den ersten 3 ½ Jahren dieser „Zeit des Endes“ sein. Im zweiten Psalmbuch fliehen die meisten dieser gläubigen Juden aus Jerusalem, weil der Antichrist dort einen furchtbaren Götzendienst etabliert (Mt 24.15.16). Das wird zeitlich in den zweiten 3 ½ Jahren der Endzeit sein.

Die geflohenen Juden befinden sich nun inmitten von Feinden im Ausland. Diese Flucht benutzt Gott, um sie zu reinigen und den Glauben in ihnen zu vertiefen. Das Buch beginnt mit dem Ruf nach Gott in großer Not (Ps 42,1-4) und endet mit Gottes Herrlichkeit (Ps 72,19). Die Parallele zum 2. Buch Mose (dem Buch der Erlösung) ist nicht zu übersehen (vgl. 2. Mo 2,23; 40,34.35). In diesem Buch befindet sich das Volk Israel weit weg von dem Land, das Gott den Patriarchen versprochen hatte. Sie werden in Ägypten unterdrückt. Erst wenn die Rettung kommt und der Feind besiegt wird, singt das Volk das Lied der Erlösung. Das Gericht an den Feinden ist zugleich die Rettung des Volkes.

Den Unterschied der Stellung des Überrestes (im Land und außerhalb des Landes) in den beiden ersten Psalmbüchern erkennt man z. B. daran, dass im ersten Buch häufig von Jahwe (dem Herrn) die Rede ist, während im zweiten Psalmbuch häufig von Gott als von Elohim gesprochen wird. Der Name Jahwe spricht von größerer Nähe Gottes zu den Menschen, während der Name Elohim allgemeiner ist und auf eine etwas größere Distanz hindeutet.

4. Ein Überblick über das zweite Psalmbuch

Dem geflohenen Überrest ist der Verlust der Segnungen des Landes sehr bewusst. Sie haben keinen Tempel (Ps 42) und leiden unter der Hand der Feinde im Ausland (Ps 43 und 44). Dennoch sieht das Auge des Glaubens weiter und denkt an den Messias in seiner kommenden Herrlichkeit (Ps 45). Die Hoffnung ist vorhanden und die Gläubigen denken an die kommende Erlösung (Ps 46-50). Ihr Empfindungen gleichen einem Wechselbad der Gefühle. Es ist eine Mischung aus Freude und Leid, Vertrauen und Lobpreis sowie Bekenntnis und Bitte um Rettung (Ps 51). Dann sprechen sie über die Gottlosen (Ps 52.53) und bitten wieder um Rettung (Ps 54-59). Dabei erkennen sie an, dass es sich um ein Gericht Gottes handelt, in das sie gekommen sind, durch das sie geläutert werden (Ps 60). Wieder geht es um Vertrauen und das Verlangen nach Gott, das Rufen um Rettung und das Wissen, dass Gott sie einmal segnen wird (Ps 61-65). Man staunt über die Loblieder, die sie im Blick auf diese Rettung singen (Ps 66-68). Dann kommt Psalm 69, der eine große Motivation für diese leidenden Juden ist. Er zeigt, dass ihr Messias selbst gelitten hat, als Er auf der Erde war. Er identifiziert sich mit dem Leiden dieser Menschen. Das Buch endet mit einer erneuten Bitte um Rettung (Ps 70) und dem Lobpreis für die Rettung (Ps 72).

„Im zweiten Buch finden wir durchweg den Überrest außerhalb Jerusalems, die Stadt ist der Gottlosigkeit überliefert. Die Bundesbeziehung der Juden zu dem Herrn ist verloren, doch der Überrest vertraut auf Gott. Wenn der Messias kommt, ändert sich alles. Dieses Buch zeigt uns auch noch bestimmter die Erhöhung Christi droben als das Mittel zur Rettung der Gläubigen sowie seine Ablehnung und Drangsal, während Er hienieden war; es schließt mit dem 1000-jährigen Friedensreich des Messias, dargestellt unter dem Bild Salomos. Der Geist des Gottesfürchtigen wird durch diese Umstände auf die Probe gestellt. Und da alle Hoffnung, in dem Volk etwas Gutes zu finden, aufgegeben ist, so vertraut die Seele des gläubigen Überrests völliger auf Gott selbst und ist mehr mit Ihm verbunden.“ (J.N. Darby)

5. Christus in Psalm 69

Psalm 69 drückt also die Empfindungen des Überrestes aus, der fern der Heimat ist und sich danach sehnt, in den Segen des Reiches unter der Regierung des Messias einzugehen. Zudem leiden sie unter denen, die sie bedrücken. Sie möchten Gott Freude machen und werden deshalb, weil sie gerecht leben, verfolgt. Sie wissen, dass ihre Rettung eng mit dem Sieg über ihre Feinde verbunden ist. Nur so können wir den Ruf nach Rache in diesem Psalm verstehen.

Und doch wird jedem Leser unmittelbar klar, dass Psalm 69 vor allem von unserem Herrn selbst spricht. Mit der Brille des Neuen Testamentes steht das außer Frage. Psalm 69 gehört – zusammen mit den Psalm 22 und 110 – zu den Psalmen, die im Neuen Testament am häufigsten erwähnt werden.

Einige dieser Zitate werden direkt auf Christus bezogen und beweisen, dass dieser Psalm von Ihm spricht:

  • Vers 5 – Johannes 15,25
  • Vers 10 – Johannes 2,17; Römer 15,3
  • Vers 22 – Matthäus 27,34.48; Markus 15,23; Johannes 19,28.29
  • Vers 23 – Römer 11,9
  • Vers 24 – Römer 11,10
  • Vers 26 – Apostelgeschichte 1,20

Natürlich ist es vordergründig David, der hier zunächst über eigene Erfahrungen spricht und dessen Empfindungen einmal die des Überrestes sein werden. Dennoch liegt es auf der Hand, dass wir einen messianischen Psalm vor uns haben. Unser Herr hat selbst gesagt, dass es die Schriften des Alten Testamentes sind, die von Ihm zeugen (Joh 5,39). Den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erklärte Er in allen Schriften das, was mit Ihm zu tun hat (Lk 24,27). Dazu zählt auch Psalm 69.

6. Ein Leidenspsalm

Es wird beim Lesen weiter deutlich, dass es sich in Psalm 69 vorwiegend um einen Leidenspsalm handelt. Es sind zum einen die Leiden des gläubigen Überrestes in der großen Drangsal. Zum anderen sind es – im Licht des Neuen Testamentes – die Leiden des Christus, die hier eindrucksvoll gezeigt werden. Er leidet mit dem Überrest.

Der Messias war „der Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut“ (Jes 53,3). Er war freiwillig bereit, für andere zu leiden. Es hilft uns, verschiedene Aspekte seiner Leiden zu unterscheiden, um besser zu verstehen, was der Geist Gottes uns an welcher Stelle sagen will.

Beim Lesen des Neuen Testamentes wird sofort klar, dass es zum einen Menschen waren, die Ihm Leid zugefügt haben und zum anderen, dass es Gott war, der Ihn schlug. Die Leiden von den Menschen (körperlich, seelisch und geistig) haben den Herrn tief getroffen. Auch das wird in Psalm 69 deutlich (dabei liegt der Schwerpunkt auf den seelischen Leiden). Doch viel schwerer waren die Striemen, die Ihm zugefügt wurden, als Gott Ihn schlug (Jes 53,5; 1. Pet 2,24).

Die Leiden durch Gott sind vor allem die wegen der Sünde (als ursächlichem und bösem Prinzip) und der Sünden (den Tatsünden). Diese Leiden waren furchtbar und sind für uns in keiner Weise nachvollziehbar. Gott hat Christus zu Sünde gemacht und „Christus hat für Sünden gelitten, um uns zu Gott zu führen“ (2. Kor 5,21; 1. Pet 3,18). Diese Leiden beschränken sich zeitlich auf die drei Stunden der Finsternis. Vorher wurde Christus nichts zu Sünde gemacht und hat auch nicht „für Sünden gelitten“.

Wenn es um unsere Sünden geht, unterscheiden wir noch einmal zwischen den Leiden als Sühnung für Sünden und den Leiden als unser Stellvertreter.

  1. Sühnung hat damit zu tun, dass auf der Basis des vollbrachten Werkes allen Menschen das Heil Gottes angeboten wird. Das Werk ist so groß, dass jeder kommen kann (vgl. z. B. 1. Tim 2,3-6; Tit 2,11). Am großen Versöhnungstag wird das in dem ersten Bock vorgestellt, der als Sündopfer gebracht wurde (3. Mo 16,15-19). Von diesen Leiden spricht vor allem Psalm 22, aber nicht so sehr Psalm 69.
  2. Stellvertretung bedeutet, dass das Werk des Herrn Jesus jedem angerechnet wird, der Ihn (und sein Werk) im Glauben annimmt (vgl. Mk 10,45). So jemand ist dann tatsächlich mit Gott versöhnt. Am großen Versöhnungstag wird das in dem zweiten Bock (Asasel) vorgestellt, auf dessen Kopf der Hohepriester die Hand legte und der dann in die Wüste geschickt wurde (Mo 16,8.10.20–22.26). Auch dieser Aspekt ist in Psalm 69 nicht im Vordergrund, schwingt aber doch in einigen Stellen mit.

In den Leiden der drei finsteren Stunden steht unser Herr einzigartig vor uns. Nur Er konnte in diesem Sinn „für Sünden leiden“. Nur Er wurde mit unserer Schuld beladen. Nur Er wurde zur Sünde gemacht. Für dieses Werk werden wir Ihn ewig loben und preisen.

Nun könnte die Frage aufkommen, warum Christus denn dann auf seinem ganzen Weg gelitten hat. Warum wird darüber so ausführlich gesprochen? Warum musste Er das erdulden, was auch in Psalm 69 ausführlich beschrieben wird? Wäre es nicht ausreichend gewesen, die Leiden am Kreuz zu erdulden?

Mit aller Ehrfurcht beantworten wird diese Frage mit einem „Nein“. Christus musste nicht nur leiden, um die Grundlage unserer ewigen Rettung zu legen. Er hat auch aus anderen Gründen gelitten und das führt uns zu den Leiden auf seinem ganzen Lebensweg bis hin zum Kreuz.

  1. Erstens bewies Er, indem Er diese Leiden erduldet hat, dass Er tatsächlich das perfekte Lamm Gottes ohne Fehler und Flecken war. Jeder konnte Ihn beobachten und musste feststellen, dass es keinen einzigen Makel gab.
  2. Zweitens hat Er uns durch sein Leiden durch Menschen ein Beispiel gegeben (vgl. 1. Pet 2,21). Wir können nun in seinen Fußspuren nachfolgen. Sein Lebensweg ging durch Leiden zur Herrlichkeit. So ist es auch mit uns.
  3. Drittens weiß Christus, wie Menschen fühlen, wenn sie leiden und Er kann mitempfinden. Für uns gilt, dass Er in allem versucht worden ist wie wir – ausgenommen die Sünde (Heb 4,15). Für den Überrest gilt, dass Er in all ihrer Bedrängnis bedrängt war (Jes 63,9).

Vor allem der dritte Punkt führt uns zu Psalm 69. Ein Bild davon haben wir in dem feurigen Ofen, in den die Freunde Daniels wegen ihrer Treue zu Gott geworfen wurden (Dan 3,23-25). Das ist das Leiden, das gerade der Gerechte erduldet, weil er Gott gefallen und von Ihm zeugen will. Er tut den Willen Gottes und muss deshalb leiden und sogar sterben. Der Überrest wird leiden, weil er sich zu Christus bekennt.

Wenn wir an den Überrest Israels denken – und das können wir auch auf uns anwenden – dann leidet der Überrest noch aus einem anderen Grund. Es geht darum, dass die Gläubigen durch Leiden gereinigt werden, um sie in Übereinstimmung mit Gott zu bringen. Die Juden des glaubenden Überrestes leiden, weil sie erkennen, wie schuldig sie geworden sind und was der Herr Jesus für sie getan hat, als die Strafe zu ihrem Frieden auf Ihm lag. Es liegt auf der Hand, dass der Herr niemals aus diesem Grund gelitten hat. Er war „das Heilige“ (Lk 1,35), das vollkommene Lamm Gottes. Bei Ihm gab es nichts zu reinigen oder zu läutern.

Und noch etwas ist bedenkenswert. Christus hat nicht nur dann gelitten, wenn die Not da war, sondern Er wusste zu jeder Zeit alles, was über Ihn kommen würde (Joh 18,4). Wir sehen das besonders deutlich in dem biblischen Bericht über Gethsemane, denn dort wird ganz klar, dass der Herr dort litt, weil Er wusste, was auf Golgatha geschehen würde.

Gerade das ist die Sichtweise in Psalm 69. Während wir Menschen nicht wissen, was der nächste Tag bringt (und das ist gut so), wusste Christus alles im Voraus. Er wusste, dass Er von den Menschen drangsaliert und terrorisiert werden würde. Aber Er wusste auch, dass Er am Kreuz, von Gott verlassen, in das Gericht für fremde Schuld gehen würde, um am Ende sein Leben zu geben. Gerade dieses Vorempfinden beschäftigt uns in Psalm 69. Wir denken dabei besonders an Gethsemane. Markus schreibt: „Und er nimmt Petrus und Jakobus und Johannes mit sich und fing an, sehr bestürzt und beängstigt zu werden. Und er spricht zu ihnen: Meine Seele ist sehr betrübt, bis zum Tod (Mk 14,33). Es ist eine Art der Leiden, in denen unser Herr ebenfalls einzigartig vor uns steht. Wir bewundern Ihn dafür, dass Er das ertragen hat.

Dennoch würden wir zu weit gehen, zu behaupten, dass es in Psalm 69 nicht auch um das Kreuz, um den stellvertretenden Tod unseres Herrn geht. Der Tod ist nicht von seinen Leiden zu trennen. Einige Verse kann man gar nicht anders verstehen. Dennoch ist es nicht die Hauptstoßrichtung dieses Psalms. Und wenn es um den Tod geht, so ist es nicht so sehr der sühnende Charakter dieses Todes, sondern vielmehr der Tod als Folge der Treue zu seinem Gott. In Vers 8 lesen wir z. B.: „Denn deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Angesicht.“

7. Unterschiede zu Psalm 22

Beim Lesen von Psalm 69 muss man an Psalm 22 denken. Beide Psalmen sind messianische Psalmen, d. h., sie sprechen von Christus und machen seine Person groß. Sie gehören zu den „Schriften“, die Christus bezeugen (Joh 5,39). Beide Psalmen sind zugleich Leidenspsalmen, die uns auf das Kreuz hinweisen. Sie sprechen von den „Leiden, die auf Christus kommen sollten“ (1. Pet 1,11; vgl. Lk 24,26).

Auf den ersten Blick gibt es deshalb eine Reihe von Parallelen. Dennoch sind die Unterschiede auffallend. Zum richtigen Verständnis beider Psalmen ist es wichtig, diese Unterschiede zu sehen.

  • Psalm 22 ist – wie Psalm 69 – von David geschrieben worden. Er beschreibt aber eine Situation, in der weder David je gewesen ist noch der Überrest je hineinkommen wird. Für sie gilt: „…nie sah ich den Gerechten verlassen“ (Ps 37,25). Nur Christus musste ausrufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2). In Psalm 69 ist das anders. Es wird eine Situation beschrieben, in der David konkret war und in der der Überrest einmal sein wird. Während Psalm 22 ausschließlich von Christus spricht und nicht die Erfahrung von anderen Menschen beschreibt, ist das in Psalm 69 anders. In Psalm 22 (zumindest im ersten Teil) steht Christus allein vor uns. In Psalm 69 ist das anders. Was dort beschrieben wird, hat mancher Gläubige in seinem Leben – wenn auch in abgeschwächter Form – erfahren.
  • Psalm 22 spricht als Höhepunkt von den sühnenden Leiden des Herrn in den drei Stunden der Finsternis, als Er von Gott verlassen war. Psalm 69 spricht davon nicht. Es geht in diesem Psalm um seine Leiden auf dem Weg zum Kreuz, darin eingeschlossen die vorempfindenden Leiden im Blick auf das, was auf Golgatha geschehen musste. Diese beiden Seiten müssen deutlich unterschieden werden. In Psalm 69,14 ruft der Herr: „Mein Gebet ist zu dir … zur Zeit der Annehmung“. In Psalm 22,3 heißt es: „Mein Gott! ich rufe am Tag und du antwortest nicht“. In den Stunden der Finsternis gab es keine „Zeit der Annehmung“. Der Himmel war verschlossen. Deshalb spricht Psalm 69 nicht direkt von den drei Stunden der Finsternis und der dort geschehenen Sühnung.
  • Psalm 69 spricht vom Gericht über den Gerechten und wird von dem Ruf nach Rache begleitet. Psalm 22 spricht auch vom Gericht (sogar viel tiefer), aber dieser Psalm atmet im Anschluss nur Gnade. Es ist nirgends von Rache die Rede, kein Wort vom Gericht an den Feinden. Es geht vielmehr um Segen, der immer größere Kreise zieht. Das ist in Psalm 69 ganz anders. Die Verse 23–29 rufen eindeutig nach Rache. Das kann nur deshalb so sein, weil es nicht um Sühnung geht (wie in Psalm 22).

Psalm 69 erzählt von seinen Leiden, wenn auch in einer Weise, die sich deutlich von Psalm 22 unterscheidet. In Psalm 22 krönt die göttliche Verlassenheit alles, denn in Psalm 69 steht das menschliche Böse im Vordergrund und ruft nach Gericht, statt nach der Gnade, die in Psalm 22 die Antwort ist. Aber er wurde in all ihrer Bedrängnis bedrängt, wie der Prophet sagt. David war der Anlass; doch der Geist Christi dringt in all ihr Unrecht ein, nicht nur, um Gott zu rechtfertigen, sondern auch, um dem Bekenntnis des gottesfürchtigen Überrestes Ausdruck zu verleihen, der so sein Herz ausschütten wird … wenn sein Zorn auf ihre Unterdrücker und Verräter fallen wird.“ (W. Kelly)

„Die Erfahrungen, die in Psalm 69 beschrieben werden, wurden, obwohl sie auch auf andere übertragbar sind, in ihrer Gänze nur von Christus gemacht. Wenn wir sehen, dass diese Erfahrungen bis zu einem gewissen Grade auch anderen vertraut sein können, wird deutlich, warum die Leiden haltmachen vor der Sühne mit dem darauffolgenden Verlassenwerden von Gott, welches Christus allein ertragen kann, wie es in Psalm 22 beschrieben ist.“ (H. Smith)

„Die Leiden, die in Psalm 69 betrachtet werden, sind nicht die, die damit verbunden sind, dass seine Seele als Opfer für die Sünde dargebracht wird. Seine Sühneleiden kamen von Gott, wie wir in Psalm 22 sehen. In Psalm 69 werden die Leiden für Gott ertragen. In Vers 8 heißt es ganz klar: „Denn deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Angesicht.“ Das ist der vorherrschende Ton in diesem Text. Wir sehen durch den Geist der Weissagung den heiligen, abhängigen Menschen, der ganz und gar mit den Interessen Gottes identifiziert ist und deshalb in den Tod geht.“ (F. B. Hole)

8. Der Ruf nach Rache

Viele Leser der Psalmen stellen sich die Frage, warum der Ruf nach Rache wiederholt vorkommt (auch in Psalm 69). Wie passt dies zu den Aussagen des Neuen Testamentes, dass wir nicht auf Rache bedacht sein, sondern unsere Feinde viel mehr lieben und ihnen Gutes tun sollen? Wie passt das zu der Tatsache, dass Gott doch ein Gott der Liebe ist?

Wir können das nur verstehen, wenn wir bedenken, dass „keine Weissagung der Schrift von eigener Auslegung ist“ (2. Pet 1,20). Wir müssen immer darauf achten, in welchem Zusammenhang eine Aussage steht und wie sie mit anderen Aussagen der Bibel zusammenpasst.

Dabei ist es zu kurz gesprungen, den Gedanken an Rache nur im Alten Testament zu verorten. Die Bitte um Gottes Rache an Feinden und Widersachern steht auch im Neuen Testament (vgl. z. B. Off 6,10). Aber immer bezieht sie sich auf Gläubige, die nicht in der gegenwärtigen Zeit der Gnade leben. In Offenbarung 6 geht es um Gläubige, die in der ersten Zeit nach der Entrückung in großer Drangsal ihr Leben lassen müssen. Es geht nicht um Christen.

Keine der Stellen, in der um Rache gebeten wird, bezieht sich auf die gegenwärtige Zeit. Es sind immer prophetische Aussagen im Blick auf die Zukunft. Die Befreiung der Gläubigen in dieser Drangsalszeit ist untrennbar mit dem Gericht über deren Feinde und Widersacher verbunden. Ohne Gericht über die Feinde gibt es keine Befreiung des Überrestes. Das Gericht ist einerseits dazu da, die Feinde zu bestrafen. Andererseits ist es notwendig, damit das Reich auf der Erde seinen Anfang nehmen kann. Das erklärt den Ruf nach Rache.

Wir leben in der Zeit der Gnade (vgl. Apg 20,24), in der sich Gott anders offenbart. In dieser Zeit ist es tatsächlich im Widerspruch zu Gottes Gedanken, für Strafe und Gericht von Widersachern zu beten. Das Gegenteil ist der Fall. Für uns heute gilt der Grundsatz der Gnade. Dennoch bleibt es wahr, dass Gott jeden Gottlosen am Ende bestrafen wird (vgl. 2. Thes 1,9).

9. Der Zusammenhang zu Psalm 69

Psalm 69 folgt auf eine Serie von Psalmen (61–68), die mehr oder weniger chronologisch sind. Er ist zugleich der erste der vier Abschlusspsalmen des zweiten Psalmbuches und gibt uns eine Zusammenfassung der Leiden – zuerst der Leiden des Messias und dann des treuen Überrestes der Juden.

  • Psalm 64 zeigt, dass Gott eingreift und sein Volk befreit.
  • Psalm 65 spricht von dem Segen für die Erde, wenn Gott jeden Aufruhr beendet hat.
  • Psalm 66 redet von der Freude der Gottesfürchtigen, wenn sie nach schwerem Leid schließlich Gott in seinem Haus preisen.
  • Psalm 67 lässt die Völker in dieses Lob einstimmen.
  • Psalm 68 krönt alles, indem das Ganze rekapituliert wird. Es wird deutlich, dass jeder Segen von dem abhängt, der in die Höhe (den Himmel) aufgefahren ist.

Psalm 69 hat einen ganz anderen Charakter. Er ist der erste von drei Psalmen, in denen es nicht um Triumpf, sondern um Leid und Not geht. Im Vordergrund steht der Ruf nach Befreiung. Erst danach schließt Psalm 72 das zweite Buch der Psalmen mit einer Beschreibung der Herrlichkeit des kommenden Reiches ab.

Während also Psalm 68 von Lobpreis, Glück und Herrlichkeit spricht und sogar erwähnt, dass der Herr in die Höhe aufgefahren ist (Vers 19), folgt nun ein Psalm, der sich sehr ausführlich mit den Leiden des Herrn beschäftigt. Der Sieger von Psalm 68 ist niemand anders als derjenige, der vor 2000 Jahren unendlich gelitten hat.

Es gibt andere Beispiele in der Bibel, wo wir diese Reihenfolge finden und uns zuerst die Erhöhung und dann die Erniedrigung gezeigt wird:

  1. Auf dem Berg der Verwandlung sehen die Jünger zuerst den Messias in seiner Herrlichkeit des kommenden Reiches. Erst danach wird sein Ausgang in Jerusalem besprochen (Lk 9,31).
  2. In Offenbarung 5 entdecken wir im Thronsaal zunächst den Löwen aus Juda, den Sieger, der doch zugleich das Lamm ist (Off 5,5.6).
  3. In Jesaja 52 wird uns zuerst der einsichtige Knecht gezeigt, der erhoben und erhöht werden und sehr hoch sein wird (Jes 52,13). Danach erst wird der leidende Knecht Gottes beschrieben.

Herrlichkeit gibt es nur, weil Christus sich vorher erniedrigt hat. So zeigt uns Psalm 69 die Basis für jeden Segen, den das Volk Israel einmal bekommen wird. Auch für uns gilt, dass uns die Leiden unseres Herrn bei aller Freude über die Erlösung und alle Segnungen immer wieder tief berühren müssen.

Ein menschlicher Verfasser hätte die Reihenfolge dieser Psalmen vermutlich geändert und wäre der historischen Ordnung gefolgt, d. h., er hätte zuerst über die Leiden und Schwierigkeiten gesprochen, dann über Sieg und Triumpf und schließlich über die Herrlichkeit des Reiches. Die Erniedrigung und das Leid standen historisch an erster Stelle, danach kam der Sieg und die Herrlichkeit. Doch Gott macht es anders. Er setzt die Leidenspsalmen 69–71 bewusst zwischen die Siegespsalmen und den Psalm über das kommende Reich (diese Reihenfolge stimmt übrigens mit der in Epheser 4,9.10 überein, wo Paulus aus Psalm 68,19 zitiert und zuerst über den Aufstieg und dann über den Abstieg spricht).

„Auf den Psalm, der die Erhöhung Christi darstellt, folgt der Psalm, der seine Erniedrigung und seine Leiden zum Ausdruck bringt und zum Gericht über seine Widersacher und zur Befreiung seines Volkes und seines Landes führt.“ (W. Kelly)

„Auf das Triumpflied von Psalm 68 folgt nun diese Klage, auf den hohen Mittag des Sieges folgt die Nacht des Leides. Nur wenige Lieder in der Sammlung der Psalmen beschreiben solche Tiefen der Bedrängnis und des Kummers.“  (B. Peters)

10. Inhalt und Struktur des Psalms

Psalm 69 spricht von der Zeit der großen Drangsal, eine Zeit, in der der gläubige Überrest der Juden außerhalb des Landes Kanaan ist und dort leidet. Von den ungläubigen Juden, die dem Antichristen folgen, werden sie ohne Grund verfolgt und gehasst (Verse 2–7). Der Herr versteht diesen Hass sehr gut, denn Ihm erging es nicht anders, als Er ohne Grund gehasst wurde (Joh 15,23-25). Hohn und Schmach werden tief empfunden, während zugleich das Gebet um Hilfe zu Gott emporsteigt (Vers 14–22). Die so leidenden Juden beten um das Verderben derer, die sie unterdrücken (Verse 23–29). Zugleich sehen sie nach vorne und erwarten den Tag der Befreiung, an dem der Herr durch Gericht eingreifen wird. Dieser Blick erfüllt sie mit Freude, Dankbarkeit und Lobpreis (Verse 30–37).

Damit ergibt sich folgende mögliche Struktur des Psalms:

  • Überschrift (Vers 1)
  • Ohne Grund verfolgt und gehasst (Verse 2–7)
  • Hohn und Verachtung getragen (Verse 8–13)
  • Gebet um Rettung und Befreiung (Verse 14–22)
  • Gebet um Vergeltung (Verse 23–29)
  • Lobpreis und Ausblick (Verse 30–37)

Wichtig ist festzuhalten, dass David zwar der Sprecher ist, dass er dabei allerdings nicht nur seine eigenen Empfindungen wiedergibt, sondern zum Sprachrohr des Überrestes der Juden wird, mit dem Christus sich verbindet. Anders als der Überrest, leidet der Messias allerdings nicht aufgrund eigenen Fehlverhaltens, sondern gerade deshalb, weil Er nichts getan hat, was Gott irgendwie hätte beanstanden müssen. Er war immer treu und Gott ergeben. Seine Feinde hassten Ihn ohne jeden Grund.

Teil 1: Überschrift

Die Überschrift zeigt uns erstens, wem dieser Psalm gewidmet ist, nämlich dem Vorsänger. Zweitens wird gesagt, wie der Psalm vorgetragen werden soll, nämlich nach Schoschannim, d. h. Lilien. Drittens wird David als Verfasser genannt.

Vers 1: Dem Vorsänger, nach „Schoschannim“. Von David.

Dem Vorsänger

Der Vorsänger ist derjenige, dem der Psalm gewidmet ist (wie man das bisweilen heute im Vorwort von Büchern findet). Das Wort beschreibt einen Leiter, einen Aufseher oder Vorsteher (vgl. Esra 3,8; 1. Chr 23,4). Hier bezieht es sich auf den Vorsänger beim Tempelgesang (1. Chr 15,21). Der Psalm sollte also im damaligen Gottesdienst im Tempel gesungen werden (vgl. z. B. 1. Chr 15,21; 25,6).

Der Vorsänger lenkt unseren Blick auf den Herrn Jesus. Er ist der Anfänger und Vollender. Er ist es, der in der Mitte seiner Brüder das Lob Gottes anstimmt (Heb 2,12) und zu dessen Ehre Lieder gesungen werden.

Nach Schoschannim

Schoschannim bedeutet wahrscheinlich „Lilie“. Das Wort begegnet uns noch in Psalm 45,1 und in Psalm 80,1. Die Lilie ist eine kleine Pflanze und symbolisiert an manchen Stellen die Demut oder Anmut. Es ist ein Hinweis auf die Art und Weise, wie dieser Psalm musikalisch vorgetragen werden sollte, nämlich passend zu dem Inhalt.

In Psalm 45 sind es sozusagen goldene Lilien in einem herrlichen Garten. Hier ist es eine bescheidene Lilie in einem Dornenfeld. Das lässt uns erstens an unseren Herrn denken, der einem Wurzelspross aus dürrem Erdreich gleicht (Jes 53,2). Er war wie eine Lilie mitten unter Sündern, zur Freude seines Vaters. Zweitens denken wir an den Überrest der Juden in seiner Beziehung zu dem Messias. Und drittens denken wir an uns. Gläubige sind in der Welt für Christus wie eine Lilie inmitten von Disteln (Hld 2,1.2), d. h. von Ungläubigen und Sündern. Unser Herr sieht diejenigen, die treu zu Ihm stehen wie diese Feldblumen in einer Umgebung, die von der Sünde geprägt ist. Er hat seine Freude an ihnen. Sie können sich nicht selbst schützen, aber Er kann es.

Von David

David wird als Verfasser angegeben. Es gibt nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln, wie es einige Bibelkritiker tun. Dazu benötigen wir nicht einmal die Bestätigung aus Römer 11,9, wo Paulus David als Verfasser ausdrücklich nennt.

David war ein Prophet (Apg 2,30) und zugleich ein Dichter. Wiederholt hat er Weissagungen ausgesprochen, die über seine eigenen Erfahrungen hinausgingen (vgl. besonders Psalm 22). Dennoch können wir annehmen, dass in diesem Fall ein konkretes Erleben Davids der Anlass war, diesen Psalm zu schreiben. Welche Erlebnisse es genau waren, wissen wir nicht (man könnte z. B. an 2. Sam 16 denken, wo David auf der Flucht vor Absalom ist).

Teil 2: Ohne Grund verfolgt und gehasst (Verse 2–7)

Der erste Hauptteil beschreibt die Leiden und die Not des Psalmdichters. Er ist in großen Schwierigkeiten, deren Ursache nicht sein eigenes Fehlverhalten ist, sondern Angriffe und Menschen, die ihm grundlos feindlich gegenüber stehen.

Vers 2: Rette mich, o Gott, denn die Wasser sind bis an die Seele gekommen!

Rette mich, o Gott!

Nach der Überschrift gleicht diese Aussage einer Zusammenfassung dessen, was folgt. Das Hauptthema wird beschrieben. Angesichts der Not und des Leidens, das im weiteren Verlauf beschrieben wird, richtet sich das Gebet an Gott, den Allmächtigen. „Rette mich“. Es gibt nur einen, der in diesen Schwierigkeiten retten kann.

Es ist die Stimme des gläubigen Überrestes und zugleich die Stimme dessen, der in den „Tagen seines Fleisches“ (also als Mensch) sowohl Bitten als Flehen mit „starkem Geschrei und Tränen“ dargebracht hat (Heb 5,7). Wir denken dabei besonders an den ringenden Gebetskampf in Gethsemane, als sein Schweiß wie große Blutstropfen zur Erde fiel (Lk 22,44). Man bekommt einen Eindruck davon, wie groß die Not gewesen sein muss, die dort vor Ihm stand.

Auch für uns gilt, dass wir uns in jeder Not an den wenden können, der allmächtig ist und dem nichts zu groß und nichts zu klein ist. Wir lernen von David, dass wir auch in der größten Not zu Gott um Rettung beten können. David zweifelte keinen Augenblick an der Allmacht Gottes, auch wenn die Umstände ihm menschlich keine Hoffnung ließen.

„Wenn Menschen oder Teufel uns das Bitten verböten, wie die Menge dort jenem armen Blinden, der Jesu nachrief (vgl. Lk 18,35 ff.), so wird doch derjenige, dem es mit dem Flehen ernst ist, wie dieser, nur desto mehr schreien: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein“. (T. Cobbet)

Die Wasser sind bis an die Seele gekommen

Wasser symbolisieren hier Nöte und Gefahren, in denen sich ein Ertrinkender befindet, kurz bevor er keine Luft mehr bekommt. Die Beengung nimmt ein bedrohliches Maß an. Im Zusammenhang des Psalms denken wir hier an die Fluten des Gerichts, in die unser Herr gehen musste (Ps 42,8) und die in Gethsemane vor Ihm standen. Wir denken zusätzlich an die Bedrängnis, durch die auch der Überrest gehen wird.

Die Seele steht für das Innere und die Empfindungen eines Menschen. Wenn die Wasser bis an die Seele kommen, ist der Tod nicht weit weg. Christus spürte die Not, als Er in Gethsemane daran dachte, dass Er den Tod schmecken und seine Seele in den Tod ausschütten würde (Heb 2,9; Jes 53,12). Die kurze Aussage beschreibt die Tiefe der Leiden – und zwar der inneren Leiden. Wir werden in diesem Psalm auch manche äußere Bedrängnis sehen, aber letztlich liegt der Schwerpunkt auf dem, was Christus in der Seele empfunden hat. In Johannes 12,27 sagt Er selbst: „Jetzt ist meine Seele bestürzt…“. Dann fügt Er die Frage hinzu: „… und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.“

Dem Überrest wird es weit weg von Jerusalem in abgeschwächter Form ähnlich ergehen. Die Not wird so groß sein, dass sie nicht sehen können, ob und wie Hilfe kommt. Für sie kommt hinzu, dass sie das feste Fundament der Rechtfertigung vor Gott und die Gunst, in der wir stehen, nicht kennen. Deswegen ist ihre Not besonders groß.

Und doch ist Hilfe da. Das haben zahllose Gläubige erfahren und das wird auch der Überrest erfahren. Auch Christus ist am Ende seiner Frömmigkeit wegen erhört worden (Heb 5,7). Er wurde nicht vor dem Tod gerettet, sondern durch die Auferstehung aus dem Tod gerettet.

„Der ganze weite Ozean um das Schiff her ist nicht so sehr zu fürchten wie das Wasser, das in den Kielraum eindringt. Äußere Wunden sind leicht zu ertragen gegen Herzenswunden. Unser Heiland erscheint hier vor uns als ein zweiter Jona, rufend: Wasser umgeben mich bis an meine Seele, die Tiefe umringt mich (Jona 2,6). Für uns begab er sich in solche Fluten nach des Vaters Willen; der Sturm warf die Wogen bergeshoch auf, und er sank in die Tiefe, bis seine Seele fast umkam in der Angst und Not. Nun weiß er aber auch, wie es uns in solcher Lage zumute ist, und kann uns helfen, wenn wir, gleich Petrus, untersinkend rufen: Herr, hilf mir, ich verderbe.“ (C. H. Spurgeon)

Vers 3: Ich bin versunken in tiefen Schlamm, und kein Grund ist da; in Wassertiefen bin ich gekommen, und die Flut überströmt mich.

Versunken in tiefen Schlamm

Wasser und Schlamm bedrohen den Betenden mit dem Tod durch Ertrinken und Ersticken. Im Wasser könnte man versuchen zu schwimmen, im Schlamm ist es hoffnungslos. Er zieht sein Opfer langsam und erbarmungslos in die Tiefe. Jeder eigene Versuch, sich zu befreien, macht es nur noch aussichtsloser. Es gibt keinen Halt für den Fuß. Das ist fast noch schlimmer als zu ertrinken.

So wird es einmal der Überrest erleben und so haben es viele Gläubige in ihrem Leben erfahren. Jeremia wurde tatsächlich in eine Grube geworfen, die mit Schlamm gefüllt war, in den er sank (Jer 38,6).

Wenn wir an unseren Herrn denken, mag der Schlamm ein Bild der Sünde sein, mit der unser Herr konfrontiert wurde. Es könnte zum einen ein Hinweis auf die Feindschaft der sündigen Menschen sein, die Ihn umgaben. Das scheint der Hauptgedanke zu sein. Zum anderen erinnert es uns auch daran, dass Er am Kreuz mit unseren Sünden beladen wurde und sie getragen hat (1. Pet 2,24). Wie sehr hat seine reine Seele das Unreine der sündigen Natur der Menschen empfunden. Sünde ist das Element, in das wir hineingeboren worden sind und in dem wir uns von Natur aus wohlfühlen. Für Christus war es etwas durch und durch Wesensfremdes und Verabscheuungswürdiges. Weil sein Empfinden nicht durch Sünde beeinflusst war wie bei uns, litt er viel mehr in seiner reinen, heiligen Seele als jeder andere Mensch. Und deshalb hat Er das Leid auch viel stärker empfunden als wir es tun, wenn wir in Not sind. Das wird deutlich, wenn wir an seinen Gebetskampf in Gethsemane denken.

In Wassertiefen und überströmende Flut

Diese Aussage Davids können wir in letzter Konsequenz nur auf unseren Herrn beziehen. Niemand anderes ist in diesem Sinne je in eine solche Gerichtsflut gekommen wie Er. Uns wird zugesagt, dass Ströme uns nicht überfluten werden (Jes 43,2). Es mag manchmal so scheinen, aber es ist nicht so. Für Christus hingegen war es anders.

Noch einmal wird das Bild des Wassers gebraucht, aber jetzt ist es nicht länger einfach ein Wasser (vielleicht ein stehendes Gewässer), sondern es sind Wassertiefen und eine überströmende Flut. Das Wort „Flut“ kann auch mit „Strudel“ übersetzt werden. Ein Strudel reißt die Person fort und auch dort ist man völlig hilflos den Naturgewalten ausgesetzt. Wer in einen solchen Strudel gerät, kann sich selbst nicht helfen und ist dem sicheren Tod geweiht. Diese Wogen drohen über dem Ertrinkenden zusammenzuschlagen. Genauso war es am Kreuz, als das göttliche Gericht schonungslos über unseren Herrn kam und Er zerschlagen wurde.

Ähnlich fühlte sich Jona im Bauch des Fisches. Er betete: „Denn du hattest mich in die Tiefe, in das Herz der Meere geworfen, und der Strom umschloss mich; alle deine Wogen und deine Wellen fuhren über mich hin“ (Jona 2,4). Und doch ist es ein Hinweis auf unseren Herrn, über den das göttliche Gericht kam. Gleiches gilt für die Empfindungen der Söhne Korahs in Psalm 88,7.8: „Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Tiefen. Auf mir liegt schwer dein Grimm, und mit allen deinen Wellen hast du mich niedergedrückt.“

Joseph – ein weiteres Bild unseres Herrn – wurde zwar in eine Grube geworfen, aber diese Grube war leer. Der Text sagt ausdrücklich: „Es war kein Wasser darin“ (1. Mo 37,24). Bei der Grube unseres Herrn war es anders. Sie war voller Schlamm und überströmender Flut. Es war seine göttliche Liebe, die Ihn das ertragen ließ: „Große Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme überfluten sie nicht“ (Hld 8,7).

Vers 4: Ich bin müde vom (durch mein) Rufen, entzündet ist meine Kehle; meine Augen schwinden hin, während ich auf meinen Gott harre.

Müde vom Rufen

Gemeint ist nicht, dass David des Rufens müde ist, sondern dass er aufgrund seines Rufens müde war. Ein Ertrinkender, der nicht mehr um Hilfe rufen kann und dessen Kehle entzündet (verdorrt) ist, hat keine Kraft mehr. Er ist völlig erschöpft. Das Gebet ist so intensiv, dass es den gesamten Organismus ermatten lässt.

Das zeigt zum einen, wie groß die Not des Überrestes einmal sein wird. Vor allem aber sehen wir, wie sehr der Kampf in Gethsemane unseren Herrn körperlich und vor allem innerlich (geistig und seelisch) mitgenommen haben muss. Lukas gibt eine Reihe von Hinweisen (Lk 22,39-46). Er spricht von dem Engel, der kam, um Ihn zu stärken. Er erwähnt den ringenden Kampf und sagt auch, dass sein Schweiß wie große Blutstropfen wurde, die auf die Erde fielen. Markus beschreibt die Intensität des Kampfes (Mk 14,32-42). Unser Herr wurde bestürzt und hatte Angst. Dann betete Er: „Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir weg!“ Es ist eine kurze Bitte und doch unendlich tief: „Nimm diesen Kelch von mir weg!“ Dennoch unterwirft Er sich völlig dem Willen seines Vaters.

Wenn wir bedenken, dass sein Schweiß wie große Blutstropfen auf die Erde fiel und der Wasserverlust groß war, verstehen wir diese Aussage gut. Hinschwindende Augen können nicht mehr klar sehen. Das Kreuz mit all seinem Schrecken führte dazu, dass Christus müde wurde, dass seine Kehle trocken war und seine Augen ihr Sehkraft verloren.

Ich harre auf meinen Gott

Trotz allem bleibt das Vertrauen auf seinen Gott erhalten. Obwohl zunächst keine Antwort kommt, lässt das Vertrauen des Psalmdichters nicht nach. Er wartet darauf, dass Gott eingreift. Im Fall unseres Herrn griff Gott durch die Auferweckung ein.

Für uns wollen wir erstens lernen, dass wir immer auf ein Wunder der Gnade hoffen können. Obwohl alles hoffnungslos scheint, betet David weiter. Er stärkt sich im Glauben, obwohl er eigentlich schon so gut wie tot ist. Selbst wenn keine Hoffnung auf Hilfe mehr da ist, vertraut der Glaube weiter auf Gott.

Zweitens wollen wir uns fragen, was wir von der Intensität des Gebets unseres Herrn lernen können. Wie wenig folgen wir Ihm darin. Es ist eher möglich, dass wir uns in verbalen Auseinandersetzungen (auch unter Brüdern) heiser reden als im Gebet zu Gott. Sein Flehen sollte einen tiefen Eindruck auf uns machen, sodass wir uns in der Tat schämen müssen.

„Er verstand es, zu beten und zu harren, und er will, dass auch wir beides lernen. Es gibt Zeiten, wo wir beten sollten, bis der Hals uns heiser ist, und harrend ausschauen, bis die Augen uns vergehen. Nur so können wir mit ihm Gemeinschaft seiner Leiden haben. Wie, können wir nicht eine Stunde mit ihm wachen? Schrickt unser Fleisch davor zurück? Grausames Fleisch, dass du so zart bist gegen dich und so unbarmherzig gegen deinen Herrn.“ (C. H. Spurgeon)

Vers 5: Mehr als die Haare meines Hauptes sind die, die ohne Ursache mich hassen; mächtig (zahlreich) sind meine Vertilger, die mir ohne Grund feind sind; was ich nicht geraubt habe, muss ich dann erstatten.

Zahlreiche Feinde

Nun ist die Rede von den Widersachern. Sie sind erstens zahlreich und zweitens mächtig.

Die Haare des Hauptes sind – ähnlich wie der Sand am Meer und die Sterne des Himmels – im Normalfall nicht zu zählen. Deshalb ist der Ausdruck ein Synonym für die große Anzahl der Widersacher. Der Überrest der Juden wird sich solch einer großen Schar gegenübersehen, die nur eins im Sinn hat: seinen Untergang. Unser Herr hatte ebenfalls eine große Menge an Feinden. Sie kamen aus Juden und Nationen (Apg 4,27). Psalm 2 schreibt von dem Toben der Nationen und von dem Sinnen der Völkerschaften gegen den Gesalbten Gottes (gegen Christus). Könige und Fürsten standen gegen Ihn auf. Mehrfach ist in den Evangelien von einer „Schar“ die Rede, die sich gegen unseren Herrn wandte (Mt 27,27; Mk 15,16; Joh 18,3.12). Sie kamen aus allen Schichten: Arme und Reiche, Pharisäer und Schriftgelehrte, Bürger und Soldaten, Priester und Leviten, Geachtete und Verachtete, Römer und Juden.

Ohne Ursache gehasst

Auch diese Aussage können wir in ihrer Tiefe nur auf den Herrn beziehen. Er selbst zitiert in seine letzten Worten vor dem Kreuz diesen Vers und bezieht ihn auf sich: „Aber damit das Wort erfüllt würde, das in ihrem Gesetz geschrieben steht: Sie haben mich ohne Ursache gehasst“ (Joh 15,25). Der Zusammenhang der Rede des Herrn zeigt zwei Gründe für den Hass der Menschen, nämlich seine Worte und seine Taten. Worte und Taten zeugten von seiner Gnade und Liebe. Er hatte Worte der Gnade gesprochen. Er hatte gute Botschaft gepredigt. Er hatte Trostworte gesprochen. Er hatte nur Gutes getan, Kranke geheilt, Besessene befreit, Hungernde gesättigt und Tote auferweckt. Dennoch hasste man Ihn – und das ohne jeden Grund.

Wer außer unserem Herrn wollte schon behaupten, nie Anlass zu Hass, Feindschaft und Abneigung gegeben zu haben? Petrus fordert uns genau dazu auf und schreibt: „Wenn ihr im Namen Christi geschmäht werdet, glückselig seid ihr! Denn der Geist der Herrlichkeit und der Geist Gottes ruht auf euch. Dass doch niemand von euch leide als Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als einer, der sich in fremde Sachen mischt“ (1. Pet 4,14.15). Dennoch ist uns bewusst, dass nur Einer zu keiner Zeit irgendeinen Anlass gab, Ihn zu hassen. In Psalm 35,7 und 19 heißt es: „Denn ohne Ursache haben sie mir ihr Netz heimlich gelegt, ohne Ursache meiner Seele eine Grube gegraben … die mich ohne Ursache hassen.“ In Psalm 109,3 lesen wir: „… und mit Worten des Hasses haben sie mich umgeben und haben gegen mich gekämpft ohne Ursache“. Christus hat weder Gott je gelästert noch irgendeinem Menschen Unrecht getan.

Mehr noch. Christus hatte nicht nur keinen Anlass gegeben, sondern Hass war die Reaktion auf seine Liebezu den Menschen. „Für meine Liebe feindeten sie mich an; ich aber bin stets im Gebet. Und sie haben mir Böses für Gutes erwiesen und Hass für meine Liebe“ (Ps 109,4.5). Es muss Ihn sehr geschmerzt haben, das zu erleben und es zeigt zugleich, wie schlecht und boshaft das menschliche Herz ist.

Tertullian berichtet von dem Todesurteil gegen Sokrates, dass seine Frau sich darüber beschwert habe, dass er ungerecht verurteilt worden sei. Er soll geantwortet haben: „Möchtest du, dass ich gerecht verurteilt worden wäre?“

Mächtige Feinde

Das Wort mächtig kann mit zahlreich übersetzt werden. Es bedeutet aber auch gewaltig und stark. Für die Feinde traf beides zu. Es waren mächtige Feinde, die doch zugleich ihre Gewalt nur besaßen und ausüben konnten, weil Gott es zuließ. So sagt es der Herr Jesus zu dem Landpfleger Pilatus, der Ihn zum Tod verurteilte (Joh 19,11). Es war jedenfalls ein Missbrauch ihrer Macht.

Ohne Grund

Das bedeutet, dass es zu Unrecht geschah, was man Ihm antat. Das Todesurteil über Christus und der anschließende Vollzug sind die größten Ungerechtigkeiten, die es je gegeben hat. Und die Feinde wussten das auch. Es war kein „Justizirrtum“, wie manchmal gesagt wird, sondern ein bewusstes Fehlurteil. Judas wurde klar, dass er schuldloses Blut überliefert hatte (Mt 27,4). Pilatus wusste, dass Christus nichts Böses getan hatte (Lk 23,4; Joh 18,38; 19,6). Seine Frau wusste es auch (Mt 27,19). Und der römische Hauptmann bezeugte es sogar öffentlich nach dem Tod des Herrn (Lk 23,47). Dennoch haben sie den Herrn – was ihre Verantwortung betrifft – vertilgt. Das Wort wird an anderen Stellen mit „vernichten“ oder „verzehren“ übersetzt.

Nicht geraubt und doch erstattet

Wer etwas raubt, nimmt das, was ihm nicht gehört. Christus hat nie jemandem etwas weggenommen – schon gar nicht gewaltsam. Er hat weder Gott noch Menschen beraubt. Dennoch musste Er bezahlen. Man könnte auch sagen: „Ich werde behandelt, als wäre ich schuldig, obwohl ich unschuldig bin.“

Was Er nicht geraubt hatte, hatten andere getan. Zuerst war es Satan, der sich erhob und wie Gott sein wollte. Er wird dafür ewige Strafe leiden. Dann haben wir Menschen durch die Sünde Gott die Ehre geraubt. Diese Ehre hat Er Gott zurückgegeben. Gerade an dem Ort, wo eindrucksvoll sichtbar wird, wie sehr wir Menschen in Feindschaft gegen Gott sind (auf Golgatha), hat Er Gott vollkommen geehrt. Er hat es in seinem ganzen Leben getan (Joh 8,49) und ganz besonders am Kreuz (Joh 13,31). Außerdem hat Er erfüllt, was über das Schuldopfer gesagt worden war: „Und was er an dem Heiligen gesündigt hat, soll er erstatten und dessen Fünftel darüber hinzufügen…“ (3. Mo 5,16). Er hat mehr getan, als uns von unserer Schuld zu befreien. Die Segnungen, die wir haben, gehen weit darüber hinaus, was wir durch die Sünde verloren haben. Das alles wird Ihn tief bewegt haben, als Er in Gethsemane in ringendem Gebetskampf war.

„Obwohl Christus absolut kein eigenes Unrecht zu bekennen hatte, hat er doch den Platz der schuldigen Sünder eingenommen, indem er sich selbst als Opfer darbrachte, und hat so in unserem Namen volle Wiedergutmachung geleistet – und noch viel mehr.“ (L. M. Grant)

Vers 6: Du, o Gott, weißt um meine Torheit, und meine Vergehungen sind dir nicht verborgen.

Torheit und Vergehungen

Wie bereits in der Einleitung bemerkt, führt uns Psalm 69 nicht direkt in die Stunden der Finsternis und bis in das Gericht Gottes. Es geht vielmehr um das Vorempfinden dessen, was dort geschehen musste. Es ist nicht so sehr das Urteil über die Sünden, sondern das Bekenntnis (du, o Gott, weißt…), das Voraussetzung dafür ist, dass sie vergeben werden. Nur deshalb sind diese Worte angemessen für den kommenden Überrest der Juden. Sie werden erkennen, dass sie töricht gehandelt und sich an dem Gesandten Gottes vergriffen haben. Diese Erkenntnis wird sie überaus schmerzen (vgl. Jes 53). Sie werden den Zorn Gottes über ihre Verfehlungen fürchten, obwohl sie ihn, im Gegensatz zu unserem Herrn, am Ende nicht erfahren werden.

Das „du … weißt“ müssen wir hier betonen. David sieht seine Schuld aus der Sicht Gottes, vor dessen Augen nichts verborgen ist. Sie drückt ihn nieder. Seinen Feinden hatte er keinen Anlass gegeben, ihn zu hassen, aber vor Gottes Augen sieht er sein Fehlverhalten. Uns geht es nicht anders. Wir können keine einzige Sünde vor Gott verbergen. Er weiß alles. Er sieht alles. Wenn uns das bewusst ist, sollte es uns nicht schwerfallen, mit einem Bekenntnis zu Gott zu kommen. Anders als Adam, der sich vor Gott versteckte, als er in Sünde gefallen war, öffnet David sich vor Gott. Damit gibt er uns ein Beispiel.

Es ist uns klar, dass David so sprechen konnte, aber wie steht es um Davids Herrn? Ist diese Aussage prophetisch auf Ihn anwendbar? Das Zeugnis der Bibel ist völlig klar: Er tat keine Sünde (1. Pet 2,22). Er kannte keine Sünde (2. Kor 5,21). Sünde ist nicht in Ihm (1. Joh 3,5). Er war von Geburt an „das Heilige“ (Lk 1,35). Er war nicht töricht, sondern weise. Er tat nichts Böses, sondern nur Gutes.

Wir können diese Aussage prophetisch nur so verstehen, dass der Herr stellvertretend für die Gläubigen, deren Torheit und Sünden Gott kennt, spricht. Er machte sich mit ihren Sünden, die Er am Kreuz tragen würde, eins. Es waren die Vergehungen anderer, aber Er sieht sie so an, als wenn es seine Vergehungen werden. Gerade das stand in Gethsemane vor Ihm und hat sich am Kreuz erfüllt. Die Torheiten und Vergehungen derer, für die Er starb, nennt Er seine eigenen. Und Gott würde Ihn dafür bestrafen. Der Überrest wird das einmal anerkennen: „…doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden“ (Jes 53,5). Für uns gilt das analog. Jedes Kind Gottes kann hier seinen eigenen Namen einsetzen. Wir wissen, dass Er unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat (1. Pet 2,24).

Das ist es, was wir zu Recht Stellvertretung nennen (auch wenn das Wort selbst in der Bibel nicht vorkommt). Christus tut nicht so, als ob Er die Sünden von Menschen trägt, sondern Er nimmt sie wirklich als eigene Schuld auf sich und trägt das göttliche Gericht dafür.

Stellvertretung bezieht sich auf diejenigen, die Ihn als Retter annehmen. Er hat weder die Sünden der ganzen Welt getragen noch die Schuld aller Menschen bekannt. Das können nur diejenigen sagen, die an Ihn glauben. Es ist wahr, dass das Werk groß genug ist, dass alle kommen können (Sühnung im Blick auf alle Menschen). Es wird jedoch nur denen zugerechnet, die tatsächlich mit der Schuld ihres Lebens zu Ihm kommen und Vergebung erlangen (Stellvertretung für diejenigen, die sein Werk im Glauben annehmen).

„Sühnung ist das, was wir die Gott zugewandte Seite des Todes Christi nennen können. Dabei geht es um die fundamentale Frage, wie dem göttlichen Anspruch der Sünde gegenüber begegnet werden konnte. ... Wenn es um den zu Gott gerichteten Aspekt des Todes Christi geht, gehört dazu der denkbar größte Anwendungsbereich – die ganze Welt. Haben wir aber die stellvertretende Seite vor Augen, so bezieht sie sich nur auf Gläubige – dann geht es um unsere Übertretungen oder die Sünde vieler.“ (F. B. Hole)

Vers 7: Lass nicht durch mich beschämt werden, die auf dich harren, Herr, Herr der Heerscharen! Lass nicht durch mich zuschanden werden, die dich suchen, Gott Israels!

Beschämt und zuschanden werden

Mit diesem Vers schließt der erste Teil des Psalms. Die Aussage überrascht auf den ersten Blick und wir fragen uns, was David sagen will. Er spricht von anderen, die auf den Herrn harren, d. h. Ihm vertrauen und solche, die den Gott Israels suchen. Offensichtlich handelt es sich um Gläubige. Der Wunsch ist, dass sie nicht beschämt und nicht zuschanden werden, d. h., sie sollen keinen Grund zu Scham haben und nicht geschmäht werden. Wenn David hier auf der Flucht ist und Jerusalem verlassen hat, dann ist es gut möglich, dass sein Gebet die betrifft, die seine Not sehen und dadurch in Gefahr stehen, in ihrem Vertrauen zu Gott und ihrer Hingabe erschüttert zu werden. Wenn dem Kriegsführer der Mut ausgeht, wie sollen die Soldaten kämpfen? Wenn der Anführer flieht, was tun seine Nachfolger? Wenn der Glaubensheld enttäuscht wird, was tun dann die Schwachen im Glauben?

Wenn wir prophetisch an unseren Herrn denken, so entdecken wir hier eine besondere Herrlichkeit. Selbst im tiefsten Leid denkt Er noch an andere. Bis zuletzt kümmert Er sich um sie. Das zeigt seine unendliche Liebe, die sich selbst vergisst und nur an andere denkt (vgl. Joh 13,1). Für Petrus betete Er, damit sein Glaube nicht aufhöre. In Gethsemane stellte Er sich schützend vor seine Jünger. Am Kreuz kümmerte Er sich um seine Mutter. Ein besonderes Beispiel sind die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24), die tatsächlich tief enttäuscht waren, weil ihr „Weltbild“ völlig aus den Fugen geraten war.

Der Herr will nicht, dass andere durch sein Leiden in ihrem Vertrauen auf Gott erschüttert werden. Er hatte Gott immer vertraut und musste nun so tiefes Leid erleben. Die Frage stellt sich, welche Auswirkungen das auf andere haben könnte. Sie könnten denken, dass sein Vertrauen vergeblich gewesen wäre. Deshalb äußert Er diese Bitte.

Wir erkennen auch, dass der Herr damals schon an die Situation des Überrestes dachte. Sie sollten durch das, was mit Ihm geschah, Mut bekommen und im Vertrauen auf Gott gestärkt werden – und nicht verzweifeln.

„Die Antwort auf die Bitte des erhabenen Dulders ist das klare Zeugnis, das jetzt die Grundlage des Evangeliums bildet: Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.“ (A. Pridham)

Drei Namen Gottes

Es fällt auf, dass David Gott mit drei verschiedenen Namen anredet. Damit wird klar, dass es einen gibt, der stärker ist als seine Feinde. An Ihn wendet er sich. Er richtet seine Bitte an den Herrn, an den Herrn der Heerscharen und an den Gott Israels. Alle drei drücken die Beziehung alttestamentlich Gläubiger aus, die auch der kommende Überrest haben wird.

  • Der Herr (Adonai): Das ist der Name Gottes als höchster Souverän. Er steht dafür, dass Er der Herr des Lebens ist, dem Menschen folgen, dem sie dienen und dem sie gehorchen.
  • Der Herr (Jahwe): Dieser Name ist Name des Bundesgottes Israel. Er steht dafür, dass dieser Gott sich nicht verändert, sondern immer derselbe ist. Der Zusatz „der Heerscharen“ weist auf seine große Helfermacht hin, die besonders einmal der Überrest nötig haben wird.
  • Der Gott Israels: Dieser Titel steht zum ersten Mal in 1. Mose 33,20. Kurz nachdem Jakob von Gott den Namen Israel bekommen hat, spricht er von dem „Gott Israels“. Dieser Name garantiert dem Volk die Nähe und Treue Gottes. Es ist und bleibt sein Volk, das Er nicht auf Dauer verstoßen wird. Die Bundestreue Gottes wird besonders für den Überrest ein großer Trost sein. Er wird seine Zusagen erfüllen.

Als Christen stehen wir in einer anderen Beziehung zu Gott. Wir kennen Ihn als den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Dennoch haben diese Namen eine Anwendung auf uns. Wir kennen Ihn als den höchsten Souverän, der über allem steht. Wir wissen, dass Er sich nicht verändert. Und wir bauen auf seine Treue, in der Er alles erfüllen wird, was Er zugesagt hat.

Teil 3: Hohn und Verachtung getragen (Verse 8–13)

Auch der zweite Hauptteil des Psalms beschäftigt sich mit den Leiden des Psalmdichters, die andere ihm zufügten. Jetzt geht es jedoch nicht mehr so sehr um die Tatsache, dass man ihn grundlos verfolgte und hasste, sondern darum, dass er verhöhnt, verspottet und verachtet wurde. Erneut gebraucht er drastische Worte, um dieses Leid zu beschreiben.

Vers 8: Denn deinetwegen trage ich Hohn, hat Schande bedeckt mein Angesicht.

Hohn und Schande

Als erstes macht David deutlich, warum er so schändlich behandelt wurde. Es war nicht eigenes Fehlverhalten, das der Anlass dazu war. Sein Herz verurteilte ihn nicht. Deshalb betete er freimütig zu Gott. In einem gewissen Sinn gilt das auch für uns (vgl. 1. Joh 3,21). Wenn unser Herz und Gewissen uns verurteilen, haben wir keine Freimütigkeit zum Gebet.

Wieviel mehr gilt die Aussage für unseren Herrn. In seinem Leben gab es zu keiner Zeit etwas, das Er hätte verurteilen müssen. Deswegen litt Er nicht. Er litt gerade wegen seiner perfekten Hingabe an Gott. Er vollbrachte das Werk vom Kreuz mit all seinem Leiden, weil es Gottes Wille war. Es ging Ihm um nichts anderes als um die Ehre Gottes. Und gerade das war der tiefe Grund der ganzen Feindschaft gegen Ihn. Er lebte mit Gott und suchte seine Ehre, während seine Feinde (vor allem die theologische Führungsschicht) nur die eigene Ehre suchten.

Für Gottes Ehre war Er bereit, sich mit Hohn und Schande überschütten zu lassen. Alles, was Menschen Ihm antaten, verband Er mit Gott und war bereit, es zu tragen. Er sah den Hohn und die Schmach als etwas an, was Gott angetan wurde. Die Verachtung der gottlosen Menschen für Gott, fiel auf unseren Herrn. Gott hat das hoch geschätzt.

Hohn und Schmach sind untrennbar miteinander verbunden und auch nur schwierig zu unterscheiden. Der Hohn (an anderen Stellen auch mit „Schmach“ oder „Schande“ übersetzt) verbindet sich vor allem damit, dass unser Herr gedemütigt und beleidigt wurde. Schande (an anderen Stellen wiederum mit „Hohn“ übersetzt), hat es vor allem damit zu tun, dass man Ihm ungerechtfertigt Vorwürfe machte und Ihn schmähte (Verse 10 und 11). In Psalm 22,7 heißt es z. B., dass Er der „Menschen Hohn (oder Schande) und der vom Volk Verachtete“ war. Wie sehr muss unseren Herrn das getroffen haben. Doch Er trug es als etwas, das die Menschen Gott antaten. Selbst die Jünger verstanden Ihn oft nicht. Und gerade am Kreuz wurde Er wegen seines Vertrauens zu seinem Gott verhöhnt (Mt 27,43). Die wirklichen Empfindungen unseres Herrn können wir nicht nachvollziehen, da unser Empfinden durch die Sünde beeinträchtigt ist. Diese Beeinträchtigung kannte der Herr Jesus nicht und empfand deshalb allen Hohn, alle Schande, alle Schmach und alle Ablehnung in vollem Maß.

Wenn wir daran denken, dass wir manchmal Hohn und Spott ertragen müssen, dann liegt die Ursache oft bei uns selbst. Manchmal sind wir es, die Anlass dazu geben, weil wir uns falsch verhalten haben. Davon spricht Petrus in 1. Petrus 4,15.16. Es kann vorkommen, dass wir etwas tun, wofür wir zu Recht geschmäht werden. Wenn dies aber geschieht, weil wir Christen sind (und versuchen, uns wie Christus zu verhalten), dann brauchen wir uns nicht zu schämen, sondern dürfen uns freuen, weil Gott verherrlicht wird.

Schande bedeckt das Angesicht

Es war üblich, zu Tode verurteilten Menschen das Gesicht zu verhüllen, wenn man sie vom Richterstuhl zur Exekution führte (vgl. Haman in Est 7,8). Auch unseren Herrn hat man verhüllt (Lk 22,64), allerdings, um auf diese Weise weiteren Spott mit Ihm zu treiben. Welche Schande, dass man Ihm mindestens bei zwei Gelegenheiten ins Angesicht spuckte (Mt 26,67; 27,30) und Ihn mit Fäusten schlug. Und als Er dann am Kreuz hing, war Er völlig schutzlos einer gaffenden Volksmenge ausgesetzt.

O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron,
o Haupt, sonst schön gezieret

mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret:
gegrüßet seist du mir!

P. Gerhard (Originalfassung)

Vers 9: Entfremdet bin ich meinen Brüdern, und ein Fremder (oder Ausländer) geworden den Söhnen meiner Mutter.

Entfremdung

Möglicherweise handelt es sich bei den „Brüdern“ und den „Söhnen meiner Mutter“ um dieselbe Gruppe. Es ist aber auch möglich, dass ein Unterschied gemacht wird, d. h., dass die Söhne der eigenen Mutter die nächsten Verwandten sind und die Brüder die entfernteren Verwandten. Jedenfalls spürte David in diesem Moment, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollten. Er hatte das – wie Joseph in Bezug auf seine Brüder – hautnah erlebt. Genau das wird der Überrest erleben, wenn die Juden, die dem Antichristen folgen, sich gegen ihre eigenen Brüder wenden werden. Viele Gläubige haben das auch erlebt. Besonders schmerzlich empfinden wir die Untreue unserer Nächsten (ein Bruderkrieg ist schlimmer als ein Krieg unter Fremden).

Paulus ist ein Beispiel im Neuen Testament, der ähnliches erlebt hat. Der Hass der Nationen gegen ihn war schlimm, aber viel tiefer hat er es empfunden, dass sein „eigenes Fleisch und Blut“ ihn so sehr hasste und seinen Tod wünschte.

Unser Herr hat diese Entfremdung viel tiefer als alle anderen empfunden. Gerade die Tatsache, dass Er alles aus Gottes Hand annahm, was sündige Menschen mit Ihm taten, trennte Ihn von seinen Brüdern nach dem Fleisch, die sich völlig von Ihm distanzierten.

Wir wissen aus den Evangelien, dass seine eigenen vier Brüder (die tatsächlich die „Söhne seiner Mutter“ waren) Ihn nicht verstanden, sich von Ihm distanzierten (Joh 7,3-9) und Ihn sogar als wahnsinnig bezeichneten (Mk 3,21). Es hat unseren Herrn sehr geschmerzt, dass es gerade Judas war – einer von den Zwölfen – der Ihn verriet (Ps 55,13-15). Und letztlich trifft diese Aussage auf alle Juden zu, die Ihn verachteten, schmähten, misshandelten und nicht eher ruhten, bis Er gekreuzigt wurde.

Entfremdung hat mit Einsamkeit zu tun. Nie ist ein Mensch so einsam gewesen, wie unser Herr. Nicht einmal seine eigenen Jünger haben Ihn verstanden. Der Dichter von Psalm 102 formuliert das sehr ausdrucksstark in bildlicher Sprache. Er vergleicht sich mit einem einsamen Pelikan in einer Wüste, mit einer Eule in der Einöde und einem einsamen Vogel auf einem Dach (Ps 102,7.8).

Wenn Ihn diese Abneigung seiner Brüder nicht geschmerzt hätte, würde Er nicht darüber geklagt haben; und sie würde Ihn nicht so geschmerzt haben, wenn Er nicht eine besondere Liebe gegen sie gehegt hätte.“ (W. Musculus)

Vers 10: Denn der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt, und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.

Der Eifer um das Haus Gottes

Dem Herrn Jesus ging es stets um die Ehre Gottes. Das war das tiefste Motiv für alles, was Er tat. Deshalb war Ihm auch das Haus Gottes wichtig. Als Salomo den Tempel (das Haus Gottes in Jerusalem) einweihte, erfüllte die Herrlichkeit Gottes dieses Haus, sodass die Priester ihren Dienst nicht tun konnten (1. Kön 8,11). Es war die Gegenwart Gottes, die es ihnen unmöglich machte, dort zu stehen. Später verließ die Herrlichkeit Gottes den Tempel, weil Israel untreu war (Hes 9-11). Dennoch blieb dieses Haus immer das Haus Gottes. Als der Überrest aus dem babylonischen Exil zurückkehrte und den Tempel erneut baute, nennt Gott es wieder „mein Haus“ (Hag 1,9).

Als Christus auf der Erde lebte, hatte Herodes den Tempel weiter zu einem prachtvollen und imposanten Gebäude ausgebaut. Die Jünger waren davon sehr beeindruckt (Mt 24,1). Der Dienst in diesem Haus war zu einem äußeren Dienst verkommen. Die Menschen hatten es zu einer Räuberhöhle und einem Kaufhaus gemacht (Mt 21,13; Joh 2,16). Dennoch nennt der Herr den Tempel immer das „Haus meines Vaters“. Für dieses Haus eiferte der Herr, denn Er kannte das Verlangen Gottes, mit Menschen Gemeinschaft zu haben. Deshalb trieb Er alle zum Tempel hinaus, die nicht dorthin gehörten, schüttete das Geld der Wechsler aus und warf die Tische um (Joh 2,15). Die Jünger dachten gerade bei dieser Gelegenheit an den Vers aus Psalm 69 (Joh 2,17). Später machte man Ihm seine Worte in Verbindung mit diesem Eifer zum Vorwurf und gebrauchte sie als eines der Argumente, Ihn zu verklagen (Mk 14,58).

In Psalm 84 beschreiben die Söhne Korahs ihr Verlangen nach diesem Haus. Sie sehnten sich nach seinen Vorhöfen (Vers 3) und priesen die glücklich, die dort wohnten (Vers 5). Genau das wird einmal der Überrest der Juden empfinden, wenn er fern von diesem Haus in der Fremde ist.

Für uns ist dieses Haus kein materielles, sondern ein geistliches Haus – die Versammlung des lebendigen Gottes (1. Tim 3,15). Es ist der Ort, an dem wir Gott begegnen, wo wir Ihm dienen, wo wir zu Ihm beten und Er zu uns redet. Eifern wir für dieses Haus? Ist uns die Versammlung wichtig? Oder muss Gott uns den Vorwurf machen, den Er damals den aus dem Exil zurückgekehrten Juden machte: „Ist es für euch selbst Zeit, in euren getäfelten Häusern zu wohnen, während dieses Haus wüst liegt? … Ihr habt nach vielem ausgeschaut, und siehe, es wurde wenig; und brachtet ihr es heim, so blies ich hinein. Weshalb das? … Wegen meines Hauses, das wüst liegt, während ihr lauft, jeder für sein eigenes Haus“ (Hag 1,4-9).

Schmähungen

Die Entehrung des Hauses Gottes durch die Juden war eine besondere Schmähung Gottes. Im Haus Gottes muss alles seiner Heiligkeit und Herrlichkeit entsprechen (3. Mo 10,3; Ps 29,9; 93,5). Diese – und alle anderen Schmähungen der Menschen gegen Gott – nahm der Herr auf sich, d. h., Er identifizierte sich damit. In einem gewissen Sinn wird es dem Überrest ebenso ergehen. Fern der Heimat empfinden sie es tief, dass der Tempel in Jerusalem durch ein Götzenbild (einen Gräuel) entheiligt wird (Dan 11,31).

Der Versteil wird darüber hinaus in Römer 15,3 zitiert. Dort macht Paulus zum einen klar, dass alles im Alten Testament eine Belehrung für uns ist (Röm 15,4), um uns im Glauben zu motivieren. Zum anderen zeigt der direkte Zusammenhang, dass es für uns wichtig ist, nicht uns selbst zu gefallen, sondern dem Nächsten zum Guten (Röm 15,2). Paulus zeigt das Beispiel des Herrn, der nicht sich selbst gefallen hat, sondern Gott. Das tat Er, indem Er die Schmähungen Gottes auf sich nahm. Der Herr hatte immer die Ehre Gottes im Auge. Dafür lebte Er. Er wollte Gott ehren und Ihm Freude machen. Deshalb fühlte Er jeden Vorwurf gegen Gott als Vorwurf gegen sich. Davon sollen wir lernen. Wir sollen nicht uns selbst gefallen, sondern bereit sein, die Schwachheiten der Schwachen zu tragen (Röm 15,1). Gott sagt sozusagen: Macht es so wie mein Sohn, der bereit war zu leiden und zu verzichten, um mir zu gefallen. Die Schwachen mögen eure Freiheit einschränken und das mag euch nicht gefallen. Aber was ist das im Vergleich zu dem, was Christus für mich auf sich genommen hat.

Vers 11: Als ich weinte und meine Seele fastete, da wurde es mir zu Schmähungen;

Weinen und Fasten

Der Psalmdichter spricht nun vom Weinen und Fasten. Beides nahmen andere zum Anlass, sich über Ihn zu mokieren. Beschimpft zu werden ist schon schlimm genug. Wenn es aber aus einem solchen Grund geschieht, ist es viel schwieriger zu ertragen.

Einige Verse aus Psalm 35 helfen uns zu verstehen, was gemeint ist. David schreibt dort: „Sie vergelten mir Böses für Gutes; verwaist ist meine Seele. Ich aber, als sie krank waren, kleidete mich in Sacktuch; ich kasteite mit Fasten meine Seele, und mein Gebet kehrte in mein Inneres zurück; als wäre es mir ein Freund, ein Bruder gewesen, so bin ich umhergegangen; wie trauernd um die Mutter habe ich mich Leid tragend niedergebeugt. Aber sie haben sich über meinen Fall gefreut und sich versammelt; Schmäher haben sich gegen mich versammelt, und ich kannte sie nicht; sie haben gelästert und nicht aufgehört“ (Ps 35,12-15).

Offensichtlich werden wir darauf hingelenkt, dass Christus getrauert hat, weil andere in Not waren. Darüber hat Er geweint und in seinem Inneren gefastet. Dreimal lesen wir davon, dass unser Herr tatsächlich geweint hat. Erstens in Gethsemane, als der Schrecken des Todes vor Ihm stand, zweitens am Grab seines Freundes Lazarus und drittens über die Stadt Jerusalem (Heb, 5,7; Joh 11,35; Lk 19,41). Mindestens die beiden letzten Gelegenheiten zeigen, dass es die Not anderer war, die Ihn weinen ließ. Allerdings müssen wir bei den Tränen nicht nur daran denken, dass unser Herr tatsächlich geweint hat. Die Tränen stehen hier für seine Trauer. Gleiches gilt für das Fasten seiner Seele. Es ist ein Ausdruck seiner inneren Betroffenheit. Körperlich hat Er nicht gefastet (Mk 2,19), aber in seiner Seele sehr wohl. Er hat sich dem entzogen, was Ihm eigentlich zustand.

Die Trauer und das Mitleid mit der Not anderer riefen bei dem Volk kein Mitleid hervor. Im Gegenteil. Sie schmähten Ihn deshalb. In Lukas 23,35 lesen wir: „Und das Volk stand da und sah zu; es höhnten aber auch die Obersten und sagten: Andere hat er gerettet; er rette sich selbst, wenn dieser der Christus ist, der Auserwählte Gottes.“

„Seine Feinde verachteten seine Tränen und sein Fasten. Seine Erniedrigung war wie ein Kleid aus Sackleinen, und sie verhöhnten ihn dafür. Sie verhöhnten diese inneren Übungen, die von seiner Aufrichtigkeit und Gottesfurcht zeugten.“ (J. Flanigan)

Vers 12: als ich mich in Sacktuch kleidete, da wurde ich ihnen zum Sprichwort.

Zum Sprichwort geworden

Auch Sacktuch ist ein Ausdruck innerer Betroffenheit. Wir wissen nicht, ob der Herr jemals zu Lebzeiten wirklich in Sacktuch gekleidet war. Darum geht es auch nicht. Er trug Leid wegen des Volkes und wurde gerade dafür verachtet. Sein Schmerz für die Schmach, die man Gott antat, ließ sie Menschen kalt. Im Gegenteil. Man hielt Ihn für den Schuldigen, den Gott für seine Schuld bestrafte (Jes 53,4).

Die Tatsache, dass Er dem Volk zum Sprichwort (oder Schimpfwort) wurde, ist vielleicht so zu erklären, dass seine Feinde sein Leid zum Anlass nahmen, andere zu warnen, es nicht so zu machen, wie Christus es gemacht hatte.

„Den Namen eines Dulders in ein spottendes Sprichwort zu verweben, ist der höchste Grad der Bosheit, und jemand zu verhöhnen, ob der Tränen, die er um andere weint, und ob des Fastens, mit dem er seine Seelenkämpfe vor Gott durchringt, ist nicht allein grausam, sondern eine Schändung des Heiligen.“ (C. H. Spurgeon)

Vers 13: Die im Tor sitzen, reden über mich, und ich bin das Saitenspiel der Zecher.

Die um Tor sitzen und die Zecher

In ihrem Hohn und Spott waren sich die Juden einig. Es besteht ein großer Kontrast zwischen denen, die im Tor sitzen und den Zechern. Beide Gruppen verkehrten üblicherweise nicht miteinander. Im Tor saßen die Würdenträger und Richter des Volkes – also die Oberschicht (Mt 27,41; Jos 20,4; Rt 4,1.2; Klgl 5,14). Im Tor saßen auch die Mitglieder des hohen Rates, während die Zecher (die Trinker starken Getränks) zur unteren Schicht des Volkes gehörten. Doch in ihrem Hohn und Spott über Christus vereinigten sich alle Gruppen des Volkes (vgl. Mk 15,29-32). Die Hochgestellten und Edlen des Volkes verspotteten Ihn ebenso wie diejenigen, die sich nach Genuss von Alkohol nicht mehr kontrollieren konnten und ihre Spottlieder über Ihn sangen. Selbst die Kriminellen, die mit Ihm gekreuzigt wurden, verspotteten Ihn (Mt 27,44). Prophetisch hören wir den Überrest durch Jeremia klagen – und auch das trifft in Wirklichkeit auf Christus zu: „Meinem ganzen Volk bin ich zum Gelächter geworden, bin ihr Saitenspiel den ganzen Tag... Du hast gesehen all ihre Rache, alle ihre Pläne gegen mich. Herr, du hast ihr Schmähen gehört, alle ihre Pläne gegen mich, das Gerede derer, die gegen mich aufgestanden sind, und ihr Sinnen gegen mich den ganzen Tag. Schau an ihr Sitzen und ihr Aufstehen! Ich bin ihr Saitenspiel“ (Klgl 3,14.60-63).

Teil 4: Gebet um Rettung und Befreiung (Verse 14–22)

Ab Vers 14 tritt ein erkennbarer Wechsel ein. Während das Leid bisher im Wesentlichen beschrieben wurde, wendet der Psalmdichter sich in seiner Not nun ganz konkret im Gebet an seinen Gott. Aus der Wehklagewird Gebetsklage. Er bittet darum, erhört und gerettet zu werden – und zwar zum einen vor dem drohenden Tod und zum anderen vor denen, die ihn hassen.

Vers 14: Ich aber, mein Gebet ist zu dir, Herr, zur Zeit der Annehmung. O Gott, nach der Größe deiner Güte, erhöre mich nach der Wahrheit deines Heils!

Mein Gebet ist zu dir, Herr

Allem zum Trotz richtet der Psalmdichter sein Gebet zu dem Herrn. Die Betonung liegt auf dem Wort „ich aber“. Damit wird ein Kontrast zu denen hergestellt, von denen vorher die Rede war und die den Psalmdichter bedrängten. Er sucht Zuflucht nur bei Gott und weiß, dass Gott sein Gebet annehmen wird. Der Weg des Gebets steht immer offen. Wohin sonst sollte er gehen? David antwortete nicht den Spöttern. Er resignierte auch nicht, sondern öffnete seinen Mund vor Gott. Das Gebet ist immer ein Ausweg für den, der bedrängt wird. In jeder Situation hilft es denen, die in einer Notsituation sind. Im Neuen Testament werden wir aufgefordert, mit „Freimütigkeit hinzuzutreten zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe“ (Heb 4,14). Wir sollen mit Gebet und Flehen alles vor Gott bringen, was uns bewegt (Phil 4,6).

Die Zeit der Annehmung

„Annehmung“ wird häufig mit „Wohlgefallen“ oder „Gunst“ übersetzt. Nur in Jesaja 49,8 wird es noch einmal mit „Annehmung“ wiedergegeben (vgl. das Zitat von Paulus in 2. Kor 6,2). Dort ist von der „Zeit der Annehmung“ die Rede. Gemeint ist nicht die Erhörung des Gebets, sondern dessen Annahme bei Gott. David fühlte sich frei zu Gott zu reden, weil sein Gewissen ihn nicht verurteilte. Johannes schreibt: „Geliebte, wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott, und was irgend wir erbitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und das vor ihm Wohlgefällige tun“ (1. Joh 3,21.22). Wenn unser Gewissen uns hingegen verurteilt, weil Sünde den Genuss der Gemeinschaft mit Gott unterbrochen hat, ist keine Zeit der Annahme.

Für unseren Herrn gilt, dass sein ganzes Leben lang die „Zeit der Annahme“ war. Niemand konnte sich der Annahme bei Gott so gewiss sein wie unser Herr als Mensch auf der Erde. Niemand hat jederzeit Gottes Wohlgefallen gehabt und in seiner Gunst gestanden wie Er. Er war der geliebte Sohn des Vaters, zu dem Gott sich mehrfach bekannt hatte. Deshalb finden wir Ihn auch in Gethsemane in ringendem Gebetskampf. Auch dort hörte der Vater sein Gebet. Nur in den Stunden der Finsternis am Kreuz war diese Annehmung nicht möglich. Dort schwieg der Himmel (Klgl 3,44). Es kam keine Antwort (Ps 22,3). Das Sühnungswerk musste erst geschehen sein. Das macht einmal mehr klar, dass es in Psalm 69 nicht um die drei Stunden geht, in denen Christus von Gott verlassen war.

Wir müssen hier jedoch nicht nur an Gethsemane denken. Wie oft mag der Herr sich vorher im stillen Gebet an Gott gewandt haben, wenn die Feinde sich gegen Ihn wandten. In Matthäus 11,26 hören wir Ihn nach einem Angriff auf seine Person sagen: „Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir“, und wir können uns gut vorstellen, dass Er darüber vorher im Gebet mit seinem Vater gewesen ist. Diese Verse geben uns einen Einblick in das Gebetsleben unseres Herrn, von dem die Evangelien wiederholt sprechen, ohne uns zu sagen, was der Inhalt dieser Gebete war.

Er richtete sein Gebet an den Herrn, d. h. an den Bundesgott Israels, an den „Ich bin der ich bin“, der sich nicht verändert (Mal 3,6) und der treu zu dem steht, was Er verspricht. Wir können freimütig zu dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus beten, weil wir in Christus wohlgefällig vor Gott stehen und Er unser Gebet gerne hört.

Oh Gott, erhöre mich

David wendet sich nicht nur an den unveränderlichen Herrn (Jahwe), sondern Er ist sich bewusst, es zugleich mit dem allmächtigen Gott zu tun zu haben. Gott (Elohim) ist der Schöpfer, der höchste und einzige Gott, die Quelle des Lebens und der Kraft und der unbegrenzten Größe. Die Güte und das Heil (die Rettung) dieses Gottes kannte er.

Er spricht von der „Größe deiner Güte“ und der „Wahrheit deines Heils“. Das ist der Maßstab, an dem sich dieses Gebet ausrichtet. Er wusste, dass die Güte Gottes groß und das Heil (die Rettung) Gottes wahr (d. h. real) sind. Sein Vertrauen in die grenzenlose Güte und die rettende Macht wird durch sein Leiden und seine Bedrängnis nicht getrübt. Er fleht um Antwort und Erlösung aus der Not, in der Er sich befindet.

Was unseren Herrn betrifft, so wissen wir, wie und wann Gott sein Gebet beantwortete. Er wurde schließlich durch den Tod dem Zugriff seiner Feinde entzogen (Jes 53,8) und durch die Auferweckung aus dem Tod gerettet (Heb 5,7). Gott erhörte dieses Gebet auf seine Weise und zu seinem Zeitpunkt.

Vers 15: Zieh mich heraus aus dem Schlamm, dass ich nicht versinke! Lass mich errettet werden von meinen Hassern und aus den Wassertiefen!

Ziehe mich heraus aus dem Schlamm

David empfand die Feindschaft und den Widerstand der Menschen wie Schlamm, in dem er zu versinken drohte. Anders als zu Beginn des Psalms handelt es sich hier nichts so sehr um eine Wehklage, sondern die Klage wandelt sich in eine Bitte. Ansonsten ist die Parallele zu Vers 3 auffallend (auch wenn für „Schlamm“ ein anderes Wort gebraucht wird). Wenn wir das beachten, dann ist der Schlamm hier nicht so sehr ein Bild des Gerichts über die Sünde, sondern ein Bild der Feindschaft sündiger Menschen gegen Christus. Wie ekelhaft muss es für Ihn gewesen sein, gerade von solchen Menschen körperlich und seelisch misshandelt zu werden. Er konnte nur wünschen, von diesem grausamen Hassen errettet zu werden.

Dem Überrest wird es ähnlich ergehen und viele Christen haben es auch erlebt. Die Bosheit von feindseligen Menschen kann uns so sehr belasten und das Herz so bitter machen, dass das geistliche Leben völlig zu ersticken droht. Dann wird das Gebet verständlich: „Ziehe mich heraus“.

Meine Hasser

Der Psalmdichter will von denen errettet (befreit) werden, die ihn hassen. David wurde von seinen Feinden gehasst und dem Überrest wird es ebenso ergehen. Doch nie ist ein Mensch so sehr gehasst worden wie Christus – und das ohne jeden Grund. In Psalm 38,20 heißt es: „Meine Feinde aber leben, sind stark, und zahlreich sind die, die ohne Grund mich hassen.“ Der Hass der Menschen war es, der Ihm am Ende das Kreuz einbrachte.

Aus Wassertiefen

Ausleger verbinden den Schlamm mit den feindseligen Menschen (den Hassern) und die Wassertiefen mit dem Gericht Gottes, das vor Christus stand. Dieser Gedanke ist sicher nicht von der Hand zu weisen und sollte wohl bedacht werden. Das war für Christus die zweite – und schlimmste Form – seines Leidens. Er wusste, dass das Gericht Gottes über Ihn kommen würde. Im nächsten Vers wird dies in drei Bildern illustriert. Sie zeigen, wie schwer das Gericht Gottes, das über Ihn kommen würde, sein würde. Er würde ertränkt, verschlungen und vom Leben der Gemeinschaft mit Gott abgeschnitten werden. Dieser Gedanke hat Ihn zutiefst erschüttert.

Vers 16: Lass die Flut der Wasser mich nicht überströmen und die Tiefe mich nicht verschlingen; und lass die Grube ihren Mund nicht über mir verschließen!

Die Flut der Wasser

David gebraucht drei Bilder, die in dieselbe Richtung weisen. Das erste ist die „Flut der Wasser“. Wasser ist an vielen Stellen in der Bibel ein Bild vom Gericht (wir denken nur an die große Flut). David bittet darum, nicht überströmt zu werden. Gemeint ist ein Strudel, der nicht nur überströmt, sondern zugleich herunterzieht. Dieses Gericht hat Christus ohne jede Schonung getroffen. „Tiefe ruft der Tiefe beim Brausen deiner Wassergüsse; alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen“ (Ps 42,8).

Die Tiefe

Hier denken wir an Jona, der klagte: „Die Wasser umfingen mich bis an die Seele, die Tiefe umschloss mich, das Meergras schlang sich um mein Haupt“ (Jona 2,6). Was Jona erlebte, war – wie bei David – ein Hinweis auf das, was vor unserem Herrn stand. Er drohte, von dem Gericht verschlungen zu werden.

Die Grube

Die Grube (ein Brunnen oder eine Zisterne) ist ein natürlicher unterirdischer Wassertank, der mit einem Stein verschlossen werden kann, um zu verhindern, dass das Wasser verdirbt oder ein Tier hineinfällt. Eine solche Grube wurde manchmal – wenn sie kein Wasser mehr enthielt – als Gefängnis benutzt (1. Mo 37,23.24; Jer 38,6). Wenn dann noch Schlamm darin war, drohte der Erstickungstod. Jedenfalls konnte der Gefangene sich unmöglich selbst befreien und war dem sicheren Tod ausgeliefert. Das Bild zeigt einen Menschen, der in seinem Kummer lebendig begraben und seiner Not hilflos preisgegeben ist. Deshalb wird die Grube auch als Bild für das Totenreich benutzt (Ps 55,24; 88,6). Niemand ist je in eine solche Not gekommen wie unser Herr, vor dem die Grube ihren Mund zu schließen drohte.

Vers 17: Erhöre mich, Herr, denn gut ist deine Güte; wende dich zu mir nach der Größe deiner Erbarmungen!

Erhöre mich

Wieder wendet sich der Psalmdichter an den Herrn, den treuen und unwandelbaren Gott seines Volkes. Er appelliert an die gute (heilsame) Güte und die Größe der Erbarmungen dieses Gottes. Er kennt die liebende Güte, die Größe seiner Barmherzigkeit (seines Mitgefühls mit dem Elend anderer) aus eigener Erfahrung.

Wenn wir an unseren Herrn denken, dann freuen wir uns darüber, dass Gott sein Gebet erhört hat. Ja, Christus musste den Tod schmecken. Seine Seele ging in den Hades (das Totenreich). Aber Gott hat Ihn nicht dort gelassen. Er hat nicht einmal zugelassen, dass Er die Verwesung sah (Ps 16,10; Apg 13,35). Die Grube hat ihren Mund nicht endgültig über Ihm verschlossen. Gott hat geantwortet – und zwar nach seiner Güte und der Größe seiner Erbarmungen. Gott handelt in Übereinstimmung mit dem, was Er ist.

Ähnliches wird der Überrest erleben. Christus kann diese bedrängten Juden gut verstehen – so wie Er heute jeden gut versteht, der in große innere Not durch das kommt, was von außen auf ihn zukommt und ihn zu ersticken droht.

Nach der Größe deiner Erbarmungen

David traut seinem Gott Großes zu. Er bittet nicht um Hilfe seiner Not entsprechend, sondern legt einen anderen Maßstab an. Es ist die Größe des göttlichen Erbarmens. Dieser Maßstab ist unendlich höher als der seiner eigenen Not. Ähnlich betet er in seinem Bußpsalm nach dem Fall mit Bathseba. Dort sagt er: „Sei mir gnädig, o Gott, nach deiner Güte! Nach der Größe deiner Erbarmungen tilge meine Übertretungen“(Ps 51,3). Wenn wir an uns denken, dann wissen wir, dass Gott uns nicht der Größe unserer Schuld entsprechend vergeben hat (was schon gewaltig groß gewesen wäre), sondern nach dem „Reichtum seiner Gnade“ (Eph 1,7). Das sollten wir nie vergessen.

Die Größe der Erbarmungen Gottes

Es lohnt sich, bei diesem Ausdruck kurz stehen zu bleiben. Wir haben dieses Erbarmen Gottes nicht nur bei unserer Bekehrung erlebt, sondern auch immer wieder danach. Wir erleben in unserem Leben als Christen wiederholt Situationen, in denen wir große Angst und Not haben. Genau dann kommt der Teufel und will Zweifel säen. Er möchte, dass wir an der Güte und den Erbarmungen Gottes zweifeln. Dann erinnern wir uns an Aussagen aus Gottes Wort, wie z. B.: „Es sind die Gütigkeiten des Herrn, dass wir nicht aufgerieben sind; denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende; sie sind alle Morgen neu, deine Treue ist groß“ (Klgl 3,22). In Psalm 23,6 schreibt David: „Nur Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens“ und in Psalm 36,8 heißt es: „Wie köstlich ist deine Güte, o Gott! Und Menschenkinder nehmen Zuflucht zum Schatten deiner Flügel.“ Selbst wenn wir uns in großen Schwierigkeiten befinden –unter den Flügeln Gottes finden wir immer einen sicheren Platz.

Vers 18: Und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knecht, denn ich bin bedrängt; eilends erhöre mich!

Der Knecht des Herrn

David wird mehrfach ein „Knecht des Herrn“ genannt (Ps 18,1; 36,1; Jes 37,35), der Gott diente. Auch der Überrest trägt diesen Titel (Jes 41,8; 44,1). Doch auf niemand trifft dieser Ausdruck so zu wie auf Christus. Er war in Wahrheit Gottes „heiliger Knecht Jesus“ (Apg 4,27). Er hat alles erfüllt, was im Alten Testament über Ihn vorausgesagt war. Ein ganzes Evangelium – das des Markus – ist Ihm in seiner Würde als Knecht gewidmet.

Verbirg dein Angesicht nicht

Als Knecht hat Er seinem Gott treu gedient. Daran denkt Er jetzt, wenn Er betet. Der Gedanke, dass Gott sein Angesicht abwenden und Ihm nicht helfen würde, war Ihm unerträglich. Ein abgewandtes Angesicht wäre ein Zeichen des Missfallens und des Zornes Gottes (vgl. 5. Mo 31,17; Jes 64.6). Er hatte – mehr als Daniel – seinem Gott ohne Unterlass gedient und hatte – mehr als Elia – vor seinem Angesicht gestanden (Dan 6,17; 1. Kön 17,1). Deshalb betet Er mit Nachdruck und bittet darum, eilends erhört zu werden.

Vers 19: Nahe dich meiner Seele, erlöse sie; erlöse mich um meiner Feinde willen!

Erlöse meine Seele

Die Bedrängnis war äußerlich und innerlich. Die körperlichen Qualen, die Menschen unserem Herrn zugefügt haben, waren brutal und schmerzhaft. Er hat sie tief empfunden. Und doch war das innere Leiden (das der Seele) schlimmer. Deshalb spricht Er von seiner Seele und bittet darum, dass Gott sich seiner Seele nahen und Ihn erlösen möge.

Es mag auf den ersten Blick irritieren, dass der Erlöser hier selbst darum bittet, erlöst zu werden. Wir sind mit dem Gedanken vertraut, dass unsere Seelen erlöst werden müssen. Erlösen bedeutet hier so viel wie „loskaufen“. Dabei geht es nicht – wie in dem uns geläufigen Fall – um Erlösung durch Blut, sondern um Erlösung oder Befreiung durch Macht (vgl. z. B. Hiob 33,28; Ps 72,14). Christus appelliert an die Macht und das Eingreifen Gottes, um Ihn aus dieser aussichtslosen Lage herauszunehmen.

Erlöse mich um meiner Feinde willen

Der Hinweis, dass Gott dies um seiner Feinde willen tun soll, zeigt einmal mehr, wie sehr es unserem Herrn um die Ehre Gottes ging. Er wollte verhindern, dass sie ein Argument hätten, Gott sei nicht in der Lage oder nicht willens, Ihn zu befreien. Genau das haben sie Ihm am Kreuz vorgeworfen: „Und das Volk stand da und sah zu; es höhnten aber auch die Obersten und sagten: Andere hat er gerettet; er rette sich selbst, wenn dieser der Christus ist, der Auserwählte Gottes“ (Lk 23,35). Sie wurden wenig später eines Besseren belehrt.

Vers 20: Du kennst meinen Hohn und meine Schmach und meine Schande; vor dir sind alle meine Bedränger.

Du kennst meinen Hohn, meine Schmach und meine Schande

Hohn, Schmach und Schande haben es unserem Herrn sehr schwer gemacht. Der Gottesmann Hiob war bereit, eine Menge an Leid und Schmerzen zu ertragen. Doch als seine Freunde ihn bedrängten und ihm vorwarfen, sein Leid sei eine Folge seines Fehlverhaltens, konnte er es nicht mehr ertragen. Er knickte ein. Nicht so unser Herr. Niemand wurde so verhöhnt, geschmäht und verspottet wie Er. Die Evangelien berichten ausführlich darüber. Doch der Herr blieb standhaft und ließ sich nicht beirren.

Es ist schwierig – wenn nicht gar unmöglich – zwischen Hohn, Schmach und Schande zu unterscheiden. Alle drei Begriffe weisen in dieselbe Richtung. Es ging darum, Ihn zu verspotten und sich über Ihn lustig zu machen. Für die Menschen war es ein „Schauspiel“ (Lk 23,48). In Matthäus 27,39-44 finden wir das bestätigt, was David hier schreibt. Auch dort werden drei Begriffe gebraucht, nämlich Lästerung, Spott und Schmach. Unser Herr hat das schweigend hingenommen. Aber Er wusste, dass Gott davon Kenntnis nahm. Wenn Ihn auch keiner der Menschen verstand, Gott kannte seinen Hohn, seine Schmach und seine Schande.

Hohn, Schmach und Schande beschreiben das, was Menschen dem Herrn außer den physischen Leiden angetan haben. Es war ohne Frage ein furchtbarer körperlicher Schmerz, als man Ihm z. B. die Dornenkrone auf das Haupt Kopf setzte und mit einem Rohr darauf schlug und die Dornen tief in die Kopfhaut eindrangen. Doch zugleich hat der Herr es schmerzlich empfunden, dass man sich damit über Ihn als König lustig machte und vor Ihm niederfiel.

„So blickt er auf Gott allein an dem Tag, an dem die Vorwürfe der Menschen sein Herz gebrochen hatten. Anderswo Trost zu suchen, war sinnlos, denn in dieser Welt gab es niemanden, der sich seiner erbarmte. Er suchte in der Tat nach jemandem, der sich erbarmte, der tröstete, aber er fand keinen.“ (H. Smith)

Nie ist ein Mensch so sehr verspottet worden wie unser Herrn. Wenn wir heute – im deutlich abgeschwächten Maß – von Menschen verachtet werden und man sich über uns mokiert, dann denken wir an unseren Herrn, der für uns gelitten hat, um uns ein Beispiel zu hinterlassen. Er wurde gescholten und hat nicht wiedergescholten. Er litt und drohte nicht. Er übergab sich dem, der gerecht richtet (1. Pet 2,23). Für den kommenden Überrest wird das ebenfalls eine Quelle des Trostes und der Kraft sein. Hinzu kommt, dass wir uns wie der Psalmdichter auf die Allwissenheit Gottes berufen können, der alles „kennt“ und weiß – auch das, was böse Menschen uns antun.

Vor dir sind alle meine Bedränger

Alles das, was unserem Herrn angetan wurde, wurde Ihm von Menschen angetan, die als Geschöpfe aus seiner Hand hervorgegangen waren. Sie waren es, die Ihn bedrängten. Das Wort wird an anderen Stellen mit „Widersacher“ übersetzt. Es geht um Menschen, die Ihn in die Enge trieben. Es waren viele Bedränger, die gegen den Herrn waren. Die Obersten, die Juden, die Römer, das gemeine Volk, die Verbrecher, die mit Ihm gekreuzigt waren und sogar einer seiner Jünger, der Ihn so schmählich verraten hatte. Von Ihm sagt der Herr an anderer Stelle prophetisch: „Denn nicht ein Feind ist es, der mich höhnt, sonst würde ich es ertragen; nicht mein Hasser ist es, der gegen mich großgetan hat, sonst würde ich mich vor ihm verbergen“ (Ps 55,13).

Diese Bedränger standen vor dem Herrn. Sie gafften Ihn an, als Er – seiner Kleider beraubt – am Kreuz hing. Dennoch sagt der Psalmdichter nicht: „Vor mir sind alle meine Bedränger“, sondern er sagt: „Vor dir sind sie“. Gott nahm es wahr, was man seinem Sohn antat. Er war Ihm nahe und stand Ihm bei.

Vers 21: Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden.

Der Hohn hat mein Herz gebrochen

David zeigt deutlich, dass er nicht emotionslos war. Dieser Hohn brach sein Herz. Das dürfen wir nicht – weder im Blick auf David noch im Blick auf unseren Herrn – im medizinischen Sinn verstehen. Der Herr ist nicht an Herzversagen gestorben, sondern hat sein Leben selbst gegeben. Das gebrochene Herz zeigt vielmehr, wie sehr Ihm der Hohn innerlich zugesetzt hat. Er machte ihn elend (oder krank).

Beim Lesen der Evangelien fällt auf, dass Menschen Ihn gerade in dem verhöhnten, was Ihn besonders auszeichnete.

  • Er war der Prophet, von dem Mose gesprochen hatte (5. Mo 18,15). Doch statt auf Ihn zu hörten, machten sie sich über Ihn lustig. Man schlug Ihn und fragte dann scheinheilig: „Weissage uns, Christus, wer ist es, der dich schlug?“ (Mt 26,68).
  • Vor dem Kreuz und am Kreuz wurde Er als König Man gab Ihn dem Gespött preis, indem man Ihm einen Mantel anzog und die Dornenkrone aufsetzte. Er war der rechtmäßige König, doch man lehnte Ihn ab. Er wollte sein Volk segnen, doch Er endete als ein Gefangener in einem Königsmantel mit einem Zeichen des Fluches auf seinem Haupt. Wie muss Ihn diese Beleidigung seiner Königswürde getroffen haben, als man Ihm zurief: „Der Christus, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben“ (Mk 15,32).
  • Die mit Ihm gekreuzigten Verbrecher scheuten sind nicht, Ihn als den Christus zu verspotten. „Einer aber der gehängten Übeltäter lästerte ihn und sagte: Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns!“ (Lk 23,39). Der Herr hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass Er der Christus war, der Gesalbte Gottes (der Messias). Das nimmt dieser selbst zum Tod verurteilte Mann nun zum Anlass, Ihn zu verspotten.
  • Schließlich lästerten die Menschen Ihn als den Sohn Gottes. Vielfach hatte Er sich als solcher erwiesen. „Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn Er ihn begehrt; denn Er sagte: Ich bin Gottes Sohn“ (Mt 27,43). Das scheint der Höhepunkt des Spottes gewesen zu sein. Höhnend riefen sie ihm zu: „Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuz!“ (Mt 27,40). So haben sie seine Gottessohnschaft verspottet. Wie dankbar sind wird, dass Er in diesem Moment nicht bewiesen hat, dass Er Gottes Sohn war. Sonst wäre niemand errettet worden.

Wir können gut verstehen, dass der Hohn das Herz des Heilandes gebrochen hat. Andere Aussagen in den Psalmen sprechen ebenfalls von dem Herz des Heilandes und zeigen uns etwas von seinen Empfindungen:

  • „Wie Wachs ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten meiner Eingeweide“ (Ps 22,15).
  • „Mein Herz pocht, verlassen hat mich meine Kraft“ (Ps 38,11).
  • „Mein Herz brannte in meinem Innern“ (Ps 39,4).
  • „Mein Herz hat mich verlassen“ (Ps 40,13).
  • „Mein Herz ängstigte sich in meinem Innern“ (Ps 55,5).
  • „Wie Kraut ist versengt und verdorrt mein Herz“ (Ps 102,5).
  • „Denn ich bin elend und arm, und mein Herz ist verwundet in meinem Innern“ (Ps 109,22).
  • „Und mein Geist ermattet in mir, mein Herz ist betäubt in meinem Innern“ (Ps 143,4).

Es lohnt sich, diese Verse in Ruhe zu überdenken und dabei Gemeinschaft mit dem Herrn in seinen Leiden zu haben.

Was fühltest Du, als dort am Kreuze,
in der entwürdigenden Schmach,
Dich hasserfüllte Blicke trafen
und Hohn Dein liebend Herze brach!
R. Brockhaus

Kein Mitleid und keine Tröster

Mitleid ist Mitempfinden in einer Not. Mitleid drückt Bedauern über die Not eines anderen aus. Wenn einerMitleid verdient hatte, dann war es der Herr. Doch es gab kein Mitleid für Ihn. Es gab keine Tröster. Von seinen Feinden konnte Er kein Mitleid und keinen Trost erwarten. Aber die, die Ihm tröstend hätten beistehen sollen, versagten ebenfalls. Das waren in erster Linie seine Jünger. Wo waren sie, als die Not so groß war? Waren sie nicht seine Freunde, die mit Ihm ausgeharrt hatten? (Lk 22,28). Keiner war da. Als Er bei der letzten Passahfeier von seinem bevorstehenden Leiden sprach, stritten sie darüber, wer von ihnen der Größte sei (Lk 22,19-24). In Gethsemane rang Er im Gebet und die drei Jünger, die bei Ihm waren, schliefen ein – und das, obwohl Er sie ausdrücklich gebeten hatte, mit Ihm zu wachen (Mt 26,37-40). Tief im Inneren verwundet wandte der Herr sich auch mit dieser Not an seinen Gott. Die Tatsache, dass Er keine Tröster fand, zeigt, dass Er sie gesucht hat.

„Er suchte nach Mitgefühl, aber es gab niemanden, der es Ihm gab, keinen Trost, der den Schmerz und die Trauer seiner Leiden in gewissem Maß erträglicher machte. Wurde jemals jemand so überwältigt wie der treue, gnädige, heilige Herr der Herrlichkeit…? Weil der Herr Jesus wahrhaftig Mensch ist, spürte Er die Schmach, die Schande und die Entehrung … genauso stark wie jeder andere“.  (L. M. Grant)

Für uns bleiben zwei Fragen:

  1. Sind wir in der Lage, im Nachhinein ein wenig mit unserem Herrn zu empfinden? Nein, heute benötigt Er keinen Trost und kein Mitleid mehr, aber wenn Er uns auffordert, das Mahl zu seinem Gedächtnis zu nehmen, dann sollten wir gerade in diesen Momenten wach sein, um ein wenig an Ihn zu denken, wie sehr Er gelitten hat. Sind wir nicht manchmal mit unseren Gedanken völlig woanders und schlafen zumindest geistlich ein?
  1. Sind wir bereit, andere zu trösten, die Trost brauchen oder lassen wir sie allein, so wie man unseren Herrn allein ließ? Paulus schreibt: „…der uns tröstet in all unserer Bedrängnis, damit wir die trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, durch den Trost, mit dem wir selbst von Gott getröstet werden“ (2. Kor 1,4). Jeder von uns hat einmal Trost von Gott empfangen. Diesen Trost sollen wir weitergeben, wenn andere ihn nötig haben.

Vers 22: Und sie gaben in meine Speise Galle, und in meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken.

Die Speise eines Menschen mit Galle zu vergiften (das Wort „Galle“ wird auch mit „Gift“ oder „Bitterkeit“ übersetzt), ist mehr als perfide und gemein. Gleiches gilt, wenn man jemand in seinem Durst mit Essig tränkt, statt ihm Wasser zu geben.

Genauso sind die Feinde mit dem Herrn umgegangen. Statt Ihn zu trösten, haben die Menschen sein Leiden nur größer gemacht. Was Er aß und trank, wurde mit Galle und Essig vermischt. So gottlos waren seine Feinde, dass sie es dem Herrn unendlich bitter gemacht haben. Man kann es nur als „Sadismus“ bezeichnen. Sie hatten Freude daran, Ihn absichtlich zu quälen und zu erniedrigen. So blieb unserem Herrn nichts erspart.

Zweimal bot man Ihm am Kreuz etwas zu trinken an. Zu Beginn der sechs Stunden am Kreuz gab man Ihm einen Trunk aus Wein und Galle. Er lehnte diesen Trunk ab, der vermutlich eine Art Betäubung sein sollte (Mt 27,34). Am Ende der sechs Stunden – als alles schon vollbracht war – rief Er dann aus: „Mich dürstet!“ Er sagte dies ausdrücklich, um „die Schrift (das Alte Testament) zu erfüllen“. Es besteht wenig Zweifel daran, dass Er an diese Aussage aus Psalm 69 dachte. Daraufhin gab man Ihm Essig zu trinken. Erst nachdem Er diesen Essig getrunken hatte, sagte Er: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,28-30). So finden wir in der Kreuzigungsgeschichte beide Elemente dieses Verses zusammen: Galle und Essig.

Teil 5: Gebet um Vergeltung (Verse 23–29)

Der nun folgende Teil des Psalms basiert auf dem gerechten Gericht Gottes, so wie wir es im Alten Testament häufig finden. Es ist nicht das typische Gebet eines Gläubigen in der Zeit der Gnade. Schon in der Bergpredigt sagt der Herr seinen Jüngern: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44). Paulus schreibt den Römern: „Rächt nicht euch selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn; denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr. Aber wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen; wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken; denn wenn du dieses tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln“ (Röm 12,19.20). Unser Herr selbst hat es uns vorgelebt, als Er, am Kreuz hängend, für seine Feinde bat: „Vater, vergibt ihnen“ (Lk 23,34) und der erste Märtyrer Stephanus folgte den Fußspuren seines Meisters, als er ebenfalls für seine Mörder betete (Apg 7,60).

Was bedeutet nun dieses Gebet um Vergeltung, wenn es nicht „unser Gebet“ ist? Es besteht kein Zweifel, dass David diese Worte unter der Leitung des Heiligen Geistes aufgeschrieben hat. Sie werden sogar ausdrücklich im Neuen Testament zitiert und gerade dieses Zitat hilft uns, sie richtig zu verstehen. In Römer 9 bis 11 schreibt Paulus u. a. über Israel, wie es das Angebot der Gnade Gottes zurückgewiesen hatte. Gott hatte seine Hände den ganzen Tag zu diesem widerspenstigen Volk ausgestreckt (Röm 10,21). Doch sie lehnten Ihn ab. Römer 11,7 spricht von ihnen als denen, die verhärtet worden sind (nicht durch Gott, sondern durch ihr eigenes Verhalten). Das Gebet des Herrn am Kreuz: „Vater, vergibt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, hatte ihnen die Tür der Vergebung geöffnet, indem der Herr sie auf die Stufe eines Totschlägers – und nicht eines Mörders – stellte, für den es Gnade geben konnte (4. Mo 35,11ff). Doch sie nutzten diese Tür der Gnade nicht. Deshalb zitiert Paulus dann in Römer 11,9 und 10 die Verse 23 und 24 aus Psalm 69. Weil dies so ist, bleibt nur das Gericht für das, was sie ihrem Messias angetan haben. Das wird in der Endzeitrede des Herrn Jesus bestätigt. In Matthäus 23,38 spricht Er von dem Haus Israels, das öde gelassen wird. Das ist ein versteckter Hinweis auf Psalm 69,26, wo von dem verwüsteten Zeltlager die Rede ist.

Dieses Gericht, das dem widerspenstigen Israel bleibt, wird in Psalm 69 beschrieben. Vor diesem Gericht hat der Herr die Juden – und besonders die Stadt Jerusalem – mehrfach gewarnt (Lk 19,42-44; 21,20-24; 23,28-31). Es wird in der kommenden Zeit der Drangsal über sie kommen. Es geht in diesem Psalm nicht um die Gnade für die Wenigen (den Überrest) aus dem Volk Israel, die das Angebot Gottes angenommen haben (wie in Psalm 22), sondern um das Gericht für diejenigen, die es ablehnen. Sie haben das Angebot Gottes mit Füßen getreten und werden die Konsequenzen dafür tragen müssen. Eine Vorerfüllung davon haben sie 70 n. Chr. erlebt, als die Römer Jerusalem zerstörten. Die endgültige Erfüllung steht noch aus, wenn die Gläubigen der Gnadenzeit entrückt sein werden. In der Endzeit trifft es vor allem den Antichristen und seine Anhänger, das abgefallene Israel.

Es geht prophetisch in Psalm 69 nicht um Menschen, die das Evangelium der Gnade gehört und abgelehnt haben. Dennoch gilt der Grundsatz auch heute, dass jeder, der die Botschaft der Versöhnung ablehnt, einmal gerichtet werden wird. Insofern sind die Verse durchaus anwendbar.

„Hier wir die Vergeltung gezeigt, die über die Feinde Christi und die Feinde seines Volkes kommen wird. Und wie buchstäblich haben sich diese Worte in der Geschichte der Juden bis in die Gegenwart erfüllt. Aber diese Worte haben noch eine breitere Anwendung. Alle Feinde Christi, die ihn ablehnen, sind darin eingeschlossen.“  (A. C. Gaebelein)

Vers 23: Ihr Tisch werde vor ihnen zur Schlinge, und ihnen, den Sorglosen, zum Fallstrick!

Man hatte David Essig und Galle auf den Tisch gestellt. Nun bittet er darum, dass der Tisch der Feinde ihnen zur Schlinge und zum Fallstrick werde. Statt glückliche Freude der Gemeinschaft und des Segens zu genießen (wovon der Tisch spricht), werden sie in der Schlinge gefangen und fallen. Das wird unerwartet und plötzlich geschehen, denn sie werden als Sorglose bezeichnet, die sich der Gefahr offensichtlich nicht bewusst sind. Es sind diese Sorglosen, die den Messias verspottet und verachtet haben und das gleiche mit dem gläubigen Überrest tun werden (Ps 123,4).

Wenn man an die Vorerfüllung dieses Verses bei der Zerstörung Jerusalems durch die Römer denkt, so hat sich das tatsächlich fast wörtlich erfüllt. Die Stadt war zum Zeitpunkt des Überfalls voller Menschen, die das Passah feiern wollten. Gerade diese Festfeier wurde ihnen zur Falle, aus der es kein Entrinnen gab.

Was hier von den Feinden des Messias und des Überrestes gesagt wird, hat eine allgemeine Anwendung. Gott segnet die Menschen (der Tisch), aber dieser Segen verwandelt sich in einen Fallstrick, wenn man Gott ablehnt. Das trifft zuerst auf Ungläubige zu. Es gibt viele Menschen, die sorglos in den Tag leben und das genießen, was sich ihnen bietet. Das Wort des Evangeliums interessiert sie nicht. Sie gleichen dem reichen Landwirt, den der Herr einen „Toren“ nennt (Lk 12,20). Doch auch für uns Gläubige liegt darin eine Warnung. Gottes Segen in äußeren Dingen kann uns leicht dahin bringen, sorglos ohne Ihn in den Tag zu leben. Deshalb warnt Paulus uns, dass wir mit dem, was Gott uns gibt, verantwortungsbewusst umgehen sollen. Es gilt, dass die Gottseligkeit mit Genügsamkeit ein großer Gewinn ist (1. Tim 6,6).

„Wie die Vögel und das Wild durch den Köder, der ihre Esslust reizt, in der Schlinge gefangen werden, so werden auch die Menschen oft durch Speise und Trank ins Verderben verstrickt. Wer die himmlischen Güter der Gnade verschmäht, wird finden, dass die irdischen Genüsse ihm ein Gift werden.“ (C. H. Spurgeon)

Vers 24: Lass ihre Augen dunkel werden, damit sie nicht sehen; und lass ihre Lenden beständig wanken!

Mit ihren Augen hatten sie das Leid des Psalmdichters gesehen und sich daran geweidet. Nun bittet er darum, dass die Augen seiner Feinde dunkel werden sollten. Das ist nichts anderes als Verstockung und Verblendung des Herzens – eine Folge des eigenen Handels. Wenn Gott – wie bei Pharao – ein Herz verhärtet, dann tut Er es nur, wenn das Herz sich zuvor selbst verhärtet hat. Eine ähnliche Bitte finden wir in Jesaja 6,10: „…verklebe seine Augen: damit es mit seinen Augen nicht sieht und mit seinen Ohren nicht hört und sein Herz nicht versteht und es nicht umkehrt und geheilt wird.“ Die Juden hatten das Licht der Welt abgelehnt und die Finsternis vorgezogen (Joh 1,5). Der Tag kommt, an dem es um sie dunkel werden wird.

„Mit ihren Augen haben sie sich an dem Leidenden gefressen, und mit der Kraft ihrer Lenden haben sie ihn schlecht behandelt. Diese Augen mit ihrem blutrünstigen, bösartigen Aussehen sollen blind werden. Diese Lenden voller trotzigem Selbstvertrauen sollen zittern.“ (F. Delitzsch)

Für jeden Menschen, der das Licht der Welt ablehnt, gilt, dass er einmal in der äußersten Finsternis sein wird und das Licht nie wieder sehen wird.

Hinzu kommt, dass ihre Lenden beständig wanken. Die Lenden sprechen von Kraft (Hiob 40,16; Spr 31,17; Nah 2,2). In ihnen wird keine Kraft mehr sein. Sie können nicht mehr richtig gehen, sondern torkeln umher. Geistlich gesehen trifft das auf Israel zu. Das Volk ist bis heute blind und kraftlos. Erst wenn ein Überrest Christus annehmen wird, gehen die Juden „von Kraft zu Kraft“ (Ps 84,8).

Vers 25: Schütte deinen Grimm über sie aus, und die Glut deines Zorns erreiche sie!

In Psalm 79,6 bittet Asaph darum, dass Gott seinen Grimm über die Nationen ausgießen möge, die Gott nicht kennen. Doch hier geht es um solche, die sich zum Volk Gottes zählten. Sie hatten ihren Grimm und ihre Wut an dem Messias ausgelassen. Nun kommt der Grimm Gottes über sie. Mehr noch. Die Glut des Zornes Gottes wird sie erreichen. Diese Glut ist am Kreuz über Christus gekommen (Ps 88,17). Nun wird sie diejenigen treffen, die sein Werk nicht annehmen wollten. Auch das haben die Juden in ihrer Geschichte in den letzten fast 2000 Jahren erlebt und werden es vollumfänglich erleben, wenn die große Drangsal über sie kommen wird.

Offenbarung 6,16 spricht von dem „Zorn des Lammes“, der einmal über die ungläubigen Menschen kommen wird. Wer das Werk des Lammes am Kreuz mit Füßen tritt, wird einmal den berechtigten Zorn des Lammes erleben müssen. Für jeden Menschen gilt, dass es furchtbar ist, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen (Heb 10,31) und Strafe zu erleiden, „ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke (2. Thes 1,9). Wer den Sohn Gottes „mit Füßen getreten“ und „den Geist der Gnade geschmäht hat“, wird schlimmerer Strafe wert geachtet werden (Heb 10,29).

Vers 26: Verwüstet sei ihr Zeltlager, in ihren Zelten sei kein Bewohner!

Dieser Vers wird in Apostelgeschichte 1,20 von Petrus zitiert und auf den Verräter Judas angewandt. Er ist ein Bild des kommenden Antichristen, des Anführers der abtrünnigen Juden. Das gleiche Schicksal werden die verhärteten Juden teilen. Sie hatten den abgewiesen, der als der Herr seines Hauses (seines Tempels) zu ihnen gekommen war (Mal 3,1), der unter ihnen „gezeltet“ hatte (Joh 1,14). Nun sollte ihr Haus „öde gelassen“ werden (Mt 23,38). Genau das ist mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer eingetroffen und es wird eintreffen, wenn in den kommenden Gerichten die überflutende Geißel (Assyrien) als Zuchtrute Gottes durch das Land fährt und alles wegschwemmen wird (Jes 10,5; 28,18.19). Es ist ein ähnliches Gericht, wie es über Babel kommen wird (Jes 13,20).

Das Zeltlager mag auch daran erinnern, dass es nicht nur um die Juden und um Jerusalem geht, die den König abgelehnt und gekreuzigt haben, sondern das ganze jüdische System als solches und der alte Bund haben keine Zukunft. Dieses System wird mit einem „Lager“ verglichen (Heb 13,11.13), das nicht mehr bewohnt sein wird.

Vers 27: Denn den du geschlagen hast, haben sie verfolgt, und vom Schmerz deiner Verwundeten (Durchbohrten) erzählen sie.

Das Gericht wird in diesem Zwischensatz noch einmal begründet. Es ist die Strafe dafür, dass sie den verfolgt haben, den Gott geschlagen hatte. Außerdem ist von dem Schmerz der Verwundeten die Rede. Beides trifft sowohl auf den gläubigen Überrest als auch auf den Messias zu. Jesaja schreibt, dass der Messias in all der Bedrängnis des Überrestes bedrängt war (Jes 63,9). Er war – mehr als alle anderen – derjenige, den Gott geschlagen und den die Menschen verwundet hatten. Jemanden zu verfolgen, der ohnehin schon geschlagen und verwundet ist, ist besonders niederträchtig. Doch genau das haben die Juden getan. Sie hielten Ihn für bestraft, „von Gott geschlagen und niedergebeugt“ (Jes 53,4), doch das hinderte sie nicht daran, Ihn ihrerseits zu quälen.

Dieser Vers zeigt noch einmal die beiden Seiten der Leiden des Herrn, nämlich die Seite Gottes (Er hat Ihn geschlagen und durchbohrt) und die Seite der Menschen (sie haben Ihn verfolgt). Es ist fraglich, ob sich dieses Schlagen und Durchbohren auf die sühnenden Leiden des Herrn beziehen (vgl. Jes 53,10; Sach 13,7). Man kann es nicht ganz ausschließen. Allerdings ist zu bedenken, dass die Feinde Ihm in den Stunden der Finsternis (und auch danach) nichts mehr antun konnten. Das Verfolgen müsste sich dann auf die Zeit vorher beziehen.

„Die Abscheulichkeit ihres Verhaltens wird in diesem Vers hervorgehoben ... sie richteten ihre Bosheit gegen einen, den er züchtigte, und wählten als Opfer ihrer Grausamkeit einen Mann, der sich nicht wehren konnte, weil er unter Gottes Zorn stand.“ (A. Cohen)

Vers 28: Füge Ungerechtigkeit (Schuld) zu ihrer Ungerechtigkeit (Schuld), und zu deiner Gerechtigkeit lass sie nicht kommen!

Der Wunsch des Überrestes erinnert uns an Offenbarung 22,11: „Wer unrecht tut, tue noch unrecht, und wer unrein ist, verunreinige sich noch, und wer gerecht ist, übe noch Gerechtigkeit, und wer heilig ist, sei noch geheiligt.“ Diese Menschen haben Schuld aufgehäuft und werden die Gerechtigkeit Gottes (hier wohl ein Hinweis auf das Reich, in dem Gerechtigkeit herrscht) nicht erreichen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesen Satz zu übersetzen:

  1. Man kann es so verstehen, wie die Elberfelder Übersetzung es wiedergibt: „Füge Schuld (Ungerechtigkeit) zu ihrer Schuld.“
  2. Man kann es so verstehen, wie Luther übersetzt: „Lass sie in eine Sünde über die andere (nächste) fallen“, was so viel bedeutet wie: „Gibt sie in ihren Sünden dahin“ (vgl. Röm 1,24).
  3. Man kann es so verstehen, dass auf die Ungerechtigkeit (Schuld) eine Strafe folgt. Dann müsste es heißen: „Lass Strafe auf ihre Ungerechtigkeit folgen“. Diese Lesart ist vielleicht die naheliegendste.

Welche Lesart auch immer man bevorzugt, das Prinzip von Römer 1,27 trifft auch hier zu. Letztlich werden alle – Juden wie Heiden – den „gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst empfangen.“ Niemand sollte sich irren: Gott lässt sich nicht ungestraft verspotten (vgl. Gal 6,7). Jeder Mensch wählt selbst – entweder die Sünde oder die Gerechtigkeit. Beides ist nicht vereinbar. Wer die Sünde wählt, schließt sich selbst von der Gerechtigkeit Gottes aus. Letzteres ist in der direkten Bedeutung ohne Frage ein Hinweis auf das kommende Reich. Es gilt jedoch im Prinzip für jeden Menschen. Sünde trennt von Gott.

„Das Gebet, dass Ungerechtigkeit zu ihrer Ungerechtigkeit hinzukommen möge, scheint darauf hinzudeuten, dass es diesen bösen Menschen erlaubt war, in ihren gewählten bösen Wegen fortzufahren, um schließlich eine gerechte Belohnung für die Anhäufung ihrer Sünden zu erhalten und von jeglichem Anteil an der Gerechtigkeit Gottes ausgeschlossen zu sein“. (J. Flanigan)

Vers 29: Lass sie aus dem Buch des Lebens ausgelöscht und nicht mit den Gerechten eingeschrieben werden!

David denkt daran, dass man ihn töten wollte und nun bittet Er darum, dass seine Feinde aus dem Buch des Lebens ausgelöscht werden sollten. Wie viel mehr gilt das für den „Urheber (Fürst) des Lebens“, den die Juden getötet hatten (Apg 3,15).

Das „Buch des Lebens“ ist hier das Buch der Lebendigen (also aller lebenden Menschen). Darauf bezieht sich das Buch in Psalm 139,16, in das ebenfalls alle Lebenden eingeschrieben werden. Auch der Wunsch Moses: „ … so lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast“ (2. Mo 32,32), ist so zu verstehen. Mose wollte anstelle des Volkes sterben.

Der Psalmdichter wünscht in diesem Vers, dass die Sünder nicht mit den Gerechten zusammen leben, sondern sterben sollen. Ein anderer Gedanke wäre ihm unerträglich.

Es geht in diesem Vers nicht darum, dass ihre Namen je im Himmel angeschrieben gewesen wären. Das war tatsächlich nie der Fall. Das Buch des Lebens (der Lebendigen) in Psalm 69 ist nicht zu verwechseln mit dem Buch des Lebens, so wie wir es im Neuen Testament finden, in die alle eingeschrieben sind, die Leben aus Gott haben (z. B. Phil 4,3; Off 3,5; Off 20,15; 21,27). Aus diesem Buch kann man nicht ausgelöscht werden, wenn man einmal eingeschrieben ist.

Aus dem „Buch des Lebens“ ausgelöscht zu werden, bedeutet hier also erstens, dass diese Menschen sterben werden. Aber nicht nur das. Es bedeutet zweitens, dass sie im Gericht nicht bestehen werden. Denn die Sünder können in der Gemeinde der Gerechten nicht bestehen (Ps 1,5). Natürlich braucht Gott kein Buch – Er weiß ohnehin alles – aber die bildliche Sprache hilft uns, diesen Sachverhalt besser zu verstehen. Auch vor dem großen weißen Thron wird ein Buch geöffnet werden. Dann wird deutlich, dass die Namen der Ungläubigen nicht dort verzeichnet sind, sondern ihre bösen Taten (Off 20,12). Deshalb werden sie in den Feuersee geworfen (Off 21,15).

Um jede Unsicherheit im Blick auf das ewige Heil der Gläubigen wegzunehmen, ist es gut, wenn wir sorgfältig zwischen dem „Buch des natürlichen Lebens“ und dem „Buch des ewigen Lebens“ unterscheiden. Das Buch des natürlichen Lebens kann man mit einem Einwohnerregister vergleichen. Man wird dort bei der Geburt eingetragen und nach dem Tod ausgelöscht. In das Buch des ewigen Lebens hingegen wird man bei der Neugeburt (Bekehrung) eintragen und aus diesem Buch kann niemand ausgelöscht werden.

Teil 6: Lobpreis und Ausblick (Verse 30–37)

Der Psalm endet mit einem herrlichen Lobpreis Gottes und einem Ausblick auf das kommende Reich. Das Leid und die Not werden dem ewigen Frieden und der Freude der Erlösten weichen. „Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten“ (Ps 126,5). Das gilt für den Überrest ebenso wie für den Messias. Doch der nächste Satz gilt nur für unseren Herrn: „Er geht hin unter Weinen und trägt den Samen zur Aussaat; er kommt heim mit Jubel und trägt seine Garben“ (Ps 126,6). Diese Garben sind in erster Linie die Erlösten seines irdischen Volkes (vgl. Jes 53,11), die in diesem Teil des Psalms als „Sanftmütige“, als „Arme“, als „Gefangene“ und als „Knechte“ und als solche, „die seinen Namen lieben“ bezeichnet werden. Im weiteren Sinn denken wir natürlich an die „ganze Ernte“, die aus dem in die Erde gelegten Weizenkorn hervorkommt (Joh 12,24) – die Gläubigen der Gnadenzeit eingeschlossen.

Vers 30: Ich aber bin elend, und mir ist wehe; deine Rettung, o Gott, setze mich in Sicherheit!

Mit diesem Vers leitet der Psalmdichter den letzten Teil seines Gedichtes ein. Er ist zugleich ein Abschluss des vorherigen Teils.

In seinem tiefen Leid wendet sich der Psalmdichter noch einmal an Gott und bittet um seine Rettung. Prophetisch spricht der Messias noch einmal von dem Elend und dem Schmerz, die sein Teil waren.

Mit dem flehenden „o Gott“ bittet Er Gott, Ihn durch seine Rettung „in Sicherheit“ zu setzen (vgl. Ps 20,2; 59,2; 91,14). Andere übersetzen hier „rücke mich hoch“ oder „hebe mich empor“ (J. N. Darby verbindet beides und übersetzt: „set me secure on high = setze mich sicher in der Höhe). Durch dieser Rettung wird Er von seiner Not und seinem Schmerz befreit. Gott hat dieses Gebet erhört, indem Er Ihn aus den Toten auferweckt hat. Er hat Ihn nach Jesaja 52,13 erhoben (auferweckt) und erhöht (aufgenommen in die Herrlichkeit) und sehr hoch gemacht (den höchsten Platz gegeben). Das ist die Antwort Gottes auf das eindringliche Gebet des Herrn Jesus.

„Der Bedrängte, der durch tiefe Wasser gegangen ist, der Gehasste und Verachtete, der unsere Leiden getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen hat, wird nun erhöht gesehen. Durch seine glorreiche Auferstehung aus dem Tod ist Er gerettet und auf den höchsten Platz gesetzt. Alles, was das Neue Testament so ausführlich offenbart (Eph 1; Phil 2; Heb 1), wird in diesem einen Satz angedeutet. Der Sieg ist errungen. Sünde und Teufel sind ebenso besiegt wie Tod und Grab. Alles ist nun Lobpreis.“ (A. C. Gaebelein)

Vers 31: Rühmen will ich den Namen Gottes im Lied und ihn erheben mit Lob.

Mehrfach hatte David um Rettung gebeten. Doch bisher folgte auf jede Bitte eine weitere Klage. Das ist jetzt anders. Es gibt keine Klage mehr, sondern Lobgesang. David ging davon aus, dass Gott sein Gebet hören würde. Für den Herrn Jesus gab es nicht den geringsten Zweifel daran. Er wusste, dass Gott Ihn erhören würde. Er wusste im Voraus um die Antwort Gottes in der Auferstehung. Deshalb folgt nun Lobgesang.

Der Herr wurde wegen seiner Frömmigkeit erhört (Heb 5,7). Dafür gibt Er Gott die Ehre. Er rühmt Ihn und lobt Ihn dafür, dass Er Ihn durch die Auferstehung aus dem Tod errettet hat. Für das Lob wählt Er die Form des Liedes.

Der gerettete Überrest kommender Tage wird ebenfalls ein solches Loblied anstimmen. Und auch wir wollen uns motivieren lassen, nach erlebter Rettung (grundsätzlich sowie im konkreten Einzelfall) den Namen Gottes im Lied zu rühmen und Ihn mit Lob zu erheben. Der Psalmdichter hat dazu einen festen Herzensentschluss gefasst („ich will“). Es wäre unrecht, nur die Not vor Gott auszuschütten und das Danken zu vergessen (vgl. Phil 4,6; Kol 4,2). Der Name Gottes steht für alles, was in Gott zu finden ist. Wer diesen Namen rühmt, spricht von dem, was Er in Gott gefunden hat. Wer Gott erhebt, macht Gott nicht objektiv größer als Er ohnehin ist (das wäre unmöglich), aber er spricht davon, wie groß und erhaben Gott ist.

Vers 32: Und es wird dem Herrn wohlgefälliger sein als ein Rind, ein Stier mit Hörnern und gespaltenen Hufen.

Diese Aussage zeigt, dass schon im Alten Testament das Lob dem Herrn wohlgefälliger war als ein Tieropfer – und selbst wenn es das größte Opfer war, nämlich ein Rind oder ein Stier mit Hörnern und gespaltenen Hufen. Rind und Stier mit Hörnern sprechen von Reife und Kraft; die gespaltenen Hufe von zeremonieller Reinheit. Erst das Neue Testament zeigt uns, warum das so ist. Alle Tieropfer waren nur ein Schatten der Wirklichkeit, d. h. des Opfers unseres Herrn. Sie konnten aus Gewohnheit und ohne innere Anteilnahme gebracht werden, während Gott die Wertschätzung und die Anbetung der Herzen sucht. „Wer Lob opfert, verherrlicht mich“ (Ps 50,23).

Was für Israel gilt, gilt noch weitaus mehr für uns. Er ist es, der in der Mitte seiner Brüder das Lob anstimmt: „Ich will deinen Namen meinen Brüdern kundtun; inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen“ (Heb 2,12). Dieses Lob seiner Erlösten, das Christus selbst anstimmt, ist Gott mehr wert als die höchsten Opfer im Alten Testament. Hebräer 13,15 erwähnt ein solches Opfer des Lobes ausdrücklich und verbindet es mit dem Lobpreis der Erlösten: „Durch ihn nun lasst uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.“

„Selbst das stattlichste, ausgewachsenste und reinste Tier, das als Opfer dargebracht werden kann, steht in den Augen Jahwes weit unter dem Opfer dankbaren Lobes, das von Herzen kommt.“ (Delitzsch)

Vers 33: Die Sanftmütigen werden es sehen, sie werden sich freuen; ihr, die ihr Gott sucht, es lebe euer Herz!

Was die Feinde und Widersacher nicht wahrnehmen, sehen die Sanftmütigen. Es löst bei ihnen Freude aus. In Vers 7 hatte David noch Sorge, die Gottesfürchtigen könnten durch sein Leiden beschämt und verwirrt werden. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Er weiß, dass es nicht so ist.

Von den Sanftmütigen (eigentlich den Elenden oder Erniedrigten) ist in den Psalmen mehrfach die Rede. Es sind diejenigen, die das Land erben werden, das Gott den Vätern versprochen hat (Mt 5,5), also der gläubige Überrest. Sie „werden ihre Freude in dem Herrn mehren“ (Jes 29,19). Sie werden „essen und satt werden; es werden den Herrn loben, die ihn suchen“ (Ps 22,27). Sie werden sich „in dem Herrn rühmen und sich freuen“ (Ps 34,3). Sie werden sich „ergötzen an Fülle von Frieden“ (Ps 37,11). Das alles wird nur möglich sein, weil der Herr die Sanftmütigen mit Rettung schmückt (Ps 149,4).

Die Sanftmütigen sind es auch, die Gott suchen, d. h. sich für Ihn interessieren. Ihr Herz wird aufleben, wenn sie an die herrliche Zukunft denken, die vor ihnen liegt. Genau dazu fordert der Psalmdichter sie auf.

Vers 34: Denn der Herr hört auf die Armen, und seine Gefangenen verachtet er nicht.

Der Herr hört auf die Armen

Der Überrest gehört zu diesen Armen, deren Gebet der Herr hört. Es sind die „Armen im Geist“, von denen der Herr Jesus in der Bergpredigt spricht (Mt 5,3). Sie wurden lange Zeit unterdrückt und waren wie Gefangene. Nun gehen sie in der Nachfolge des Messias in das Reich ein, das ihnen gehört.

Diese Armen können kein großes Opfer bringen – kein Rind und keinen Stier, vielleicht nicht einmal ein Schaf, eine Ziege oder eine Taube. Aber was sie bringen können, ist das Lob ihrer Herzen. Das ist Gott wohlgefälliger als jedes andere Opfer. Asaph schreibt: „… lass den Elenden und Armen deinen Namen loben“ (Ps 74,21).

Es ist ein Grundprinzip, dass Gott Arme und Schwache nicht verachtet. Er hat ein besonderes Auge auf sie. Paulus erinnert die Korinther – die große Stücke auf sich selbst hielten – dass Gott nicht „viele Weise nach dem Fleisch“ und nicht viele Mächtige und Edle beruft, „sondern das Törichte der Welt hat Gott auserwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt, damit er das Starke zuschanden mache; und das Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt und das, was nicht ist, damit er das, was ist, zunichtemache, damit sich vor Gott kein Fleisch rühme“ (1. Kor 1,26-29).

Seine Gefangenen verachtet Er nicht

Diese Armen sind zugleich „seine Gefangenen“. Sie werden unterdrückt und für eine Zeit in die Gefangenschaft weggeführt. Dennoch verliert Gott sie nicht aus den Augen. Er verachtet sie nicht, sondern wird sie einmal befreien. David nennt sie „seine Gefangenen“. Tatsächlich waren sie Gefangene der Nationen – und werden es wieder sein – doch in erster Linie sind es immer „seine Gefangenen“ geblieben. Es ergeht ihnen ähnlich wie Paulus, der sich als Gefangener der Römer doch „Gefangener Christi Jesu“ nennt (Eph 3,1; Phlm 1.9). Er nahm die Gefangenschaft aus der Hand seines Herrn.

Wir denken daran, wie der Herr Jesus in der Synagoge aus dem Propheten Jesaja las: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen und Blinden das Augenlicht, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn“ (Lk 4,18-20). Was der Herr in der Synagoge vorlas, wird sich vollständig erfüllen, wenn Er sein Reich aufrichten wird. Es gilt heute für jeden, den Er aus der Gewalt Satans befreit.

Erneut wird klar, wie sehr der Messias sich mit diesem geringen Überrest identifiziert und ihn versteht. Denn in Wahrheit war Er „der Arme“ und „der Gefangene“. Er war reich und ist arm geworden, so arm, dass Er am Ende völlig mittellos an einem Kreuz hing. Wir hören Ihn klagen: „Ich aber bin elend und arm; der Herr denkt an mich. Meine Hilfe und mein Erretter bist du; mein Gott, zögere nicht“ (Ps 40,18). Die Antwort bleibt Ihm nicht verwehrt. Gott hatte auf diesen Armen acht und hat Ihn am Tag des Unglücks errettet. Das ist die Antwort im nächsten Psalm (Ps 41,2). Gott hat Ihn nicht verachtet, sondern hoch erhoben.

Vers 35: Ihn sollen loben Himmel und Erde, die Meere und alles, was in ihnen wimmelt!

Dafür gilt Gott das Lob, und zwar von allem, was Gott geschaffen hat, von den Himmeln und der Erde und dem Meer. Der letzte Psalm endet mit den Worten: „Alles, was Odem hat, lobe Jah! Lobt den Herrn!“ (Ps 150,6). Was Gott in Christus getan hat und einmal für den Überrest tun wird, hat solche Segensfolgen für die Schöpfung, dass alles Ihn dafür einmal loben und preisen wird. In Offenbarung 5 sehen wir das geschlachtete Lamm inmitten des Thrones. Dann folgen die anbetenden Heiligen, dann die Engel und zum Schluss die ganze erlöste Schöpfung. Dann erfüllen sich die Worte: „Und jedes Geschöpf, das in dem Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer ist, und alles, was in ihnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm die Segnung und die Ehre und die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ (Off 5,13). Die Rettung des Überrestes wird nicht nur Folgen für Israel haben, sondern für Himmel und Erde. Alles auf der Erde läuft auf diesen Punkt hin, dass Gott gelobt und Christus verherrlicht wird.

„Nicht nur die Demütigen und die Armen werden gesegnet sein, wenn sie den Herrn preisen, sondern das Endergebnis wird sein, dass Himmel und Erde ihn preisen werden, wie es bei Anbruch des 1000-jährigen Reiches wunderbar zu sehen sein wird. Die Meere werden hinzukommen, mit allem, was sich darin bewegt. Denn an jenem Tag werden viele Menschen im Himmel sein und auf der Erde, die für Israel steht, und auf den Meeren, den Heidenvölkern. Sie werden alle gemeinsam Gott loben… Die erbitterte Feindschaft der Völker gegen Zion und Juda wird sich auf wunderbare Weise in Lob verwandeln, weil Gott die Stadt Gottes (Zion) und das Volk, das so lange gehasst wurde, segnet. Die Juden werden dort in Frieden leben und das Land besitzen, das Gott ihnen versprochen hat. Ihre Nachkommen werden von Generation zu Generation dieses Land erben, ohne Angst, jemals enteignet zu werden. Denn sie werden den Namen ihres Gottes, des Herrn Jesus Christus, lieben.“ L. M. Grant

Vers 36: Denn Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen; und sie werden dort wohnen und es besitzen.

Der Bezug zu dem Ende der großen Drangsal ist offensichtlich. Wenn Christus sichtbar auf der Erde erscheinen wird, wird ganz Israel gerettet werden. Zion (Jerusalem) wird aus der Hand der Feinde befreit werden. Das Volk wird in seinen Städten wohnen, so wie Gott es von Anfang an vorgesehen hatte. „Der Herr baut Jerusalem, die Vertriebenen Israels sammelt er“ (Ps 147,2). Von Zion aus wird sich der Segen bis an die Enden der Erde ergießen.

Wie oft ist es in der Geschichte Israels anders gewesen. Jerusalem war wiederholt in der Hand der Feinde, die Städte Judas waren zerstört und die Juden vertrieben. Das alles wird dann ein Ende haben. Das von Gott zugesagte Land wird den Juden gehören und sie werden dort in Frieden wohnen.

Vers 37: Und die Nachkommenschaft seiner Knechte wird es erben; und die seinen Namen lieben, werden darin wohnen.

Die Nachkommenschaft seiner Knechte

Mit diesem Blick auf das kommende Friedensreich schließt der Psalm. Der Messias bleibt nicht ohne Nachkommen. Die Frucht der Mühsal seiner Seele in Israel wird groß sein. Als Gott Abraham berief, hatte Er ihm versprochen: „Deiner Nachkommenschaft will ich dieses Land geben“ (1. Mo 12,7). Diese Nachkommenschaft sollte sein wie der Staub der Erde, den niemand zählen kann (1. Mo 13,16). Gott hat ihnen das Land als Erbe versprochen und dieses Land werden sie einmal in Besitz nehmen: „Und ich werde aus Jakob einen Nachkommen hervorgehen lassen und aus Juda einen Erben meiner Berge; und meine Auserwählten sollen es besitzen, und meine Knechte sollen dort wohnen“ (Jes 65,9).

Es ist völlig klar, dass sich diese Voraussage in der Geschichte Israels bisher zu keinem Zeitpunkt erfüllt hat. Israel ist immer ein Zankapfel der Nationen gewesen und wird es in der Zeit der Drangsal in einem bisher nicht gekannten Ausmaß sein. Aber im kommenden Reich wird das alles ein Ende haben.

Die seinen Namen lieben

Die Angehörigen des Volkes werden hier einerseits als „seine Knechte“ bezeichnet, also solche, die Gott treu gedient haben. Das Erbe wird ihr Lohn sein. Andererseits sind es diejenigen, die Gott lieben. Darin gleichen sie ihrem Messias, dem wahren Knecht Gottes, der alles, was Er tat, aus Liebe getan hat. Er war der „Knecht Gottes“ und zugleich derjenige, der sagen konnte: „… damit die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und so tue, wie mir der Vater geboten hat“ (Joh 14,31).

Die Anwendung für uns liegt auf der Hand. Auch wir sind zum einen Knechte des Herrn, die Ihm Gehorsam schulden. Zugleich dienen wir Ihm aus Liebe und als Antwort auf seine Liebe.

So schließt dieser Psalm, der uns so eindrucksvoll mit den Leiden des Christus beschäftigt hat, mit einem Ausblick auf die Ruhe des kommenden Reiches und die Freude der Erlösten.

„Besser das Ende einer Sache als ihr Anfang; besser der Langmütige als der Hochmütige“ (Salomo in Prediger 7,8)