Die Versammlung des lebendigen Gottes
1. Die Versammlung oder Gemeinde
„Siehe, wie gut und wie lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen! Wie das köstliche Öl auf dem Haupte, das herabfließt auf den Bart, auf den Bart Aarons, das herabfließt auf den Saum seiner Kleider; wie der Tau des Hermon, der herabfällt auf die Berge Zions. Denn dort hat Jehova den Segen verordnet, Leben bis in Ewigkeit“ (Psalm 133).
Das Wort „ekklesia“ im Neuen Testament
Es darf heute als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, daß das Wort „Versammlung“ oder „Gemeinde“ die Übersetzung des griechischen Wortes ekklesia ist. Dieses, von dem Zeitwort ekkalein = herausrufen, berufen gebildet, bezeichnet zunächst eine Versammlung von Leuten, welche in den griechischen Städten Bürgerrecht hatten, gegenüber solchen Einwohnern, die desselben ermangelten und paroikoi genannt wurden.1 Vergl. Apostelgeschichte 19,39: „Wenn ihr aber wegen anderer Dinge ein Gesuch habt, so wird es in der gesetzlichen Versammlung erledigt werden“. Weiterhin bezeichnet es eine Volksversammlung im allgemeinen Sinne, eine zusammengeströmte Volksmenge: „Und als er dies gesagt hatte, entließ er die Versammlung“ (V. 41; so auch V. 32). Dann wird die Gemeinde Israels in der Wüste ekklesia genannt (Apg 7,38). Und schließlich wird das Wort angewandt auf die Versammlung der aus Juden und Heiden berufenen Gläubigen (oder Heiligen; 1. Kor 14,33), sowohl in allgemeiner, alle Gläubigen umfassender Bedeutung, als auch in begrenztem Sinne nur die Gläubigen an irgendeinem Orte bezeichnend. Zuweilen liest man auch von einer Versammlung in irgendeinem Hause, wie z.B. in 1. Korinther 16,19: „Es grüßen euch ... Aquila und Priscilla, samt der Versammlung in ihrem Hause“ (vgl. Röm 16,5; Kol 4,15; Phlm 2). Aber daraus geht keineswegs hervor, daß in den Häusern der an den verschiedenen Stellen genannten Gläubigen besondere, selbständige Versammlungen bestanden hätten. Im Gegenteil schreibt der Apostel „der Versammlung Gottes, die in Korinth ist“, „der Versammlung der Thessalonicher“; er redet von „der Versammlung der Laodicäer“ und von „der Dienerin der Versammlung in Kenchreä“. Lukas redet in der Apostelgeschichte immer wieder von „der Versammlung in Jerusalem“, obwohl schon bald die Zahl der Gläubigen dort auf viele Tausende anwuchs und deshalb wohl niemals an dem nämlichen Orte versammelt sein konnte, von „der Versammlung in Antiochien, in Ephesus“ (vgl. Kap. 2,47; 13,1; 14,27; 15,3.4; 18,22; 20,17).
Die Einheit der Versammlung an einem Ort
Von mehreren, nebeneinander bestehenden Versammlungen an einem Orte weiß die Schrift nichts. Wohl aber werden die Gläubigen eines Ortes, wenn die wachsende Zahl es nötig machte, in mehreren Häusern zusammengekommen sein, oder auch, durch mancherlei Umstände, Verfolgungen usw. gezwungen, ihre Versammlungsstätten häufig gewechselt haben. Doch dadurch wurde nichts an der Einheitlichkeit des ganzen an einem Orte durch die Gnade Gottes errichteten Zeugnisses geändert. Auch wurde, wenn es sich um außergewöhnliche Angelegenheiten, ernste Entscheidungen und dergleichen handelte, die ganze Versammlung zusammengebracht. (Apg 14,27; 15,22; vgl. auch 1. Kor 14,23).
So war es im Anfang, und so entsprach es den Gedanken Gottes. Er selbst tat, wie wir in Apostelgeschichte 2,47 lesen, in Jerusalem täglich „zu der Versammlung“ hinzu, die gerettet werden sollten. Von der Errichtung mehrerer Versammlungen oder Gemeinden an einem Orte finden wir, wie gesagt, nirgendwo eine Spur. Steht das Wort in der Mehrzahl, so sind immer entweder alle Versammlungen oder diejenigen einer Provinz, eines Landes usw. gemeint. (So z.B. Apg 9,31; 15,41; 16,5; Röm 16,4.16; 1. Kor 7,17; 11,16 u.a.St.) Wenn man, um das Bestehen verschiedener christlicher Körperschaften oder Gemeinschaften an einem Ort zu rechtfertigen, zu beweisen sucht, es sei im Anfang der Geschichte der Kirche auch schon so gewesen, so kann man nur sagen, daß der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Man will es so, darum ist es so.
Andererseits bedarf es kaum einer Erwähnung, daß es nicht nur eine große Anmaßung, sondern auch eine völlige Verdrehung der Wahrheit sein würde, wenn irgendeine Gemeinschaft von Gläubigen, mag ihre Zahl groß oder klein sein, sich den Namen „die Versammlung“ oder „die Gemeinde“ beilegen wollte. Sie würde damit ja alle übrigen Gläubigen als nicht zur Versammlung oder Gemeinde gehörend ausschließen. Nein, die Versammlung im weiteren Sinne besteht aus allen wahren Gläubigen auf der ganzen Erde, und die Versammlung im begrenzten örtlichen Sinne aus allen wahren Gläubigen an dem betreffenden Orte, mögen sie stehen und sich nennen, wie sie wollen, ja mögen sie in noch so viele größere oder kleinere Körperschaften und Benennungen zerteilt sein. Nach Gottes Wort und Gedanken gibt es an einem Orte nur eine Versammlung, nur eine Gemeinde, und wir sollten doch bemüht sein, mit Gottes Gedanken zu denken, und alle eigenen Gedanken und Meinungen fahren lassen.
Trennungen in der geschichtlichen Entwicklung
Aus der durch die Untreue des Menschen entstandenen Verwirrung und aus jenen eigenen Gedanken und Meinungen heraus kommen alle solche Fragen wie: „Wie nennst du dich?“ – „Wozu gehörst du?“ – „Wo hast du dich angeschlossen?“ usw. Niemand wird behaupten wollen, daß in der Zeit der Apostel irgendein Christ den anderen so gefragt haben könne. Nun, wenn es damals nicht richtig war, so zu fragen, kann es dann heute richtig sein? Ganz gewiß nicht, oder man müßte die sogenannte „geschichtliche Entwicklung“ der christlichen Kirche betrachten als von Gott gewollt und von Ihm anerkannt. Wenn man das nicht tut – und welcher einfältige, dem Wort und Willen Gottes unterworfene Christ könnte es? – kann man die vielen verschiedenartigen Körperschaften nicht als Gott wohlgefällig anerkennen.
Aber, fragt man, sind denn nicht reiche Segensströme von vielen dieser Gemeinschaften nach nahe und fern hin ausgeflossen? Haben nicht treue, wackere Gottesmänner an ihrer Spitze gestanden, oder stehen heute noch da? Haben nicht viele ihrer Glieder bis aufs Blut gelitten und gestritten für ihren Herrn? Werden sie nicht reichen Lohn empfangen für ihre Treue bis in den Tod, für ihren Fleiß, ihre Liebe, ihr Ausharren? Wieder antworten wir: Ganz gewiß! Wer könnte, wer wollte das in Frage stellen? Wer es verkleinern oder neidisch gar leugnen? Aber so laut die genannten Dinge Zeugnis geben mögen von der richtigen Herzensstellung jener treuen Männer zu Jesu, ihrem Herrn, beweisen sie doch nichts für die Richtigkeit ihrer Stellung zu ihren Mitgläubigen oder, besser gesagt, von dem Erfassen und Verwirklichen der Gedanken Gottes über „Christum und die Versammlung“, die Sein Leib ist, in welchem keine Spaltung sein sollte (1. Kor 12,25). Man mag demgegenüber einwenden: Die Trennungen und Spaltungen sind einmal da, man kann sie nicht mehr hinwegschaffen, man muß sich darum, so gut oder so schlecht es gehen mag, mit ihnen abfinden; andere mögen sie sogar zu entschuldigen oder selbst zu rechtfertigen und als nützlich und segenbringend hinzustellen suchen – aber ein zartes Gewissen, das in allem den Willen des Herrn zu tun bereit ist, wird sich dabei nicht beruhigen können.
Man sagt auch oft: Der Herzenszustand eines Gläubigen ist viel wichtiger als seine äußere christliche Stellung, seine Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu irgendeiner religiösen Körperschaft. Aber ohne die Grade der Wichtigkeit dieser beiden Dinge gegeneinander abwägen zu wollen, ist das Wort des Herrn doch jedenfalls auch in dieser Hinsicht wahr: „dies hättet ihr tun und jenes nicht lassen sollen.“ Falsch ist es jedenfalls, das eine auf Kosten des anderen abzuschwächen.
Das schriftgemäße Heilmittel
Aber um auf die oben angeführten Fragen zurückzukommen, ist es allerdings, nachdem einmal die große Verwirrung eingetreten ist, bei dem besten Willen oft schwer, sich richtig auszudrücken, um so schwerer, weil der Gedanke, irgendeiner religiösen Körperschaft angehören, „Anhänger“ irgendeines Mannes, eines Lehrsystems oder eines Bekenntnisses sein zu müssen, den meisten Christen (echten und unechten) so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß sie sich eine andere Möglichkeit gar nicht denken können. „Das Kind muß doch einen Namen haben!“ sagt man. So redet man sogar von „Anhängern der Versammlung“ oder der „Versammlungen“! Nun ist es ganz gewiß wahr, daß Gott nicht will, daß Seine Kinder ein jedes für sich allein stehen. Im Gegenteil, wir sind ermahnt, Gemeinschaft miteinander zu pflegen und unser Zusammenkommen nicht zu versäumen. Christus ist gestorben, „auf daß Er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte“ (Joh 11,52). Aber wird jener Ermahnung oder dieser Liebesabsicht des Herrn in Seinem Tode dadurch entsprochen, daß man je nach Belieben oder vermeintlichem Bedürfnis selbständige, unabhängige Gemeinden mit Namen, Glaubensbekenntnis und eigener Verfassung gründet? Oder wird dadurch etwas gebessert, daß man diese Gemeinden „biblische Gemeinde“ nennt? Sind sie wirklich biblisch? In dem vorliegenden Sinne gewiß nicht. Denn wenn Christus gestorben ist, um die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln, kann es nicht biblisch sein, wenn die Kinder Gottes an einem und demselben Orte sich in zehn, zwölf oder gar noch mehr Gruppen mit verschiedenen Benennungen, Bekenntnissen usw. aufgelöst haben. Wo ist da die Einheit, von welcher in Johannes 17,21 die Rede ist, infolge derer die Welt glauben soll, daß der Vater den Sohn gesandt hat? Die Einheit, von welcher der Herr sagt: „gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir“?
Indem ich dies schreibe, denke ich keineswegs daran, die Schuld an diesem traurigen Zustand anderen zuzuschieben. Nein, wir haben gesündigt, wir alle, die wir zu der großen Schar der Erretteten, der mit Blut-erkauften Familie Gottes gehören, die wir uns Brüder und Schwestern in Christo nennen, aber vielfach einander so fremd geworden sind, daß wir einer des anderen Sprache nicht mehr verstehen. Schreiber und Leser dieser Zeilen, – wir alle sind schuldig. Unser ist die Beschämung des Angesichts. Aber wo ist das Heilmittel? Es besteht nicht darin, daß wir das Übel verdecken, beschönigen, oder von Zeit zu Zeit für einige Tage so tun, als wären wir alle ein Herz und eine Seele, und sind es doch nicht; daß wir rufen: Friede, Friede! und da ist doch kein Friede. Nein, das Heilmittel liegt in einer persönlichen ernsten Beugung vor Gott und einer persönlichen aufrichtigen Umkehr zu dem, was wir aufgegeben und verloren haben. „Gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast, und bewahre es und tue Buße“ (Off 3,3)!
Seit Jahrzehnten haben viele Gläubige durch Gottes Gnade dies als einziges Heilmittel erkannt und, unter Aufgebung aller Parteiunterschiede und mit Abreißung der Zäune und trennenden Schranken, sich bemüht, nach Gottes Gedanken einfach als Brüder, als Kinder Gottes, als Glieder des Leibes Christi, ohne irgendwelche Sonder-Benennung, sich in dem Namen, der allein vor Gott Wert hat, in dem Namen Jesu, zu versammeln. Man hat sie deshalb viel angefeindet. Sie selbst haben auch durch Untreue, durch Mangel an Demut und Wachsamkeit, durch Eigenwille und Lieblosigkeit viel Anlaß zu berechtigtem Tadel gegeben. Gott hat sie infolge dieser ernsten Verfehlungen in den Staub geworfen. An manchen Orten sind gerade sie, die viel und mit Recht von der Einheit der Kinder Gottes gezeugt und dafür gelitten haben, geradezu zu einem Sprichwort geworden. Alles das ist leider nur zu wahr. Aber was beweist es? Daß das, was sie bekannt und darzustellen gesucht haben, falsch ist? Nein, sondern daß sie das anvertraute Gut nicht treu verwaltet haben. Sie haben von neuem gezeigt, was in der Geschichte der Menschen sich schon so oft wiederholt hat, daß alles, was Gott dem Menschen anvertraut, von diesem veruntreut und verdorben wird. Aber Gott sei gepriesen! Seine Treue wankt nicht, und Seine Wahrheit verändert sich nicht. Mögen die von Ihm benutzten Gefäße und Werkzeuge auch wechseln – Seine Gedanken und Ratschlüsse sind unveränderlich. Er kann einen Leuchter, einen Lichtträger, hinwegtun und einen anderen an dessen Stelle setzen, aber das Licht bleibt dasselbe.
Ein weiteres Bekenntnis, eine zusätzliche Körperschaft?
Wir haben vorhin gesagt, daß die Gläubigen, welche wünschen, in der angegebenen Weise zusammenzukommen und ein einheitliches Zeugnis von der kostbaren Wahrheit darzustellen, daß da ein Leib und ein Geist ist, keine Sonder-Benennung angenommen haben; und wir fragen: Sollen sie, können sie irgendeinen Namen, eine Benennung suchen, die sie von den anderen Gläubigen unterscheidet, die aus ihnen eine neue Gemeinschaft oder Genossenschaft macht? Würden sie damit nicht sofort das, was sie darstellen und bezeugen wollen, wieder umstoßen? Sie sind Kinder Gottes und deshalb Brüder, sie sind Glieder am Leibe Christi, durch einen Geist zu einem Leibe getauft; das Wort nennt sie Heilige und Geliebte. Ist das nicht genug? Sollen sie dem noch irgendeinen anderen Namen, ein anderes Bekenntnis hinzufügen?
Wozu gehören sie? Sie sind, wie bereits gesagt, Glieder am Leibe Christi, sie sind Christi Eigentum, sie gehören zu der Versammlung des lebendigen Gottes (1. Tim 3,15), sind lebendige Steine in dem geistlichen Hause, dem heiligen Tempel Gottes, sie sind heilige und königliche Priester (Eph 2 und 1. Pet 2), Anbeter Gottes in Geist und Wahrheit usw. Sind das denn nicht auch die übrigen Gläubigen, alle Kinder Gottes? Selbstverständlich! Oder sind jene es mehr oder in einem anderen Sinne als diese? Keineswegs! Haben sie irgendetwas voraus vor anderen Kindern Gottes? Nicht das Geringste! Was scheidet sie denn von diesen? Von ihrer Seite nichts; die Scheidungsgründe liegen auf der anderen Seite, in den vielen menschlichen Zutaten, Namen, Bekenntnissen, Statuten, Einrichtungen, die sie nicht als von Gott kommend anerkennen und deshalb auch nicht annehmen können.
Und wenn nun einer von ihnen gefragt wird: „Was bist du?“ was soll er dann antworten? Der Lutheraner sagt: „Ich bin Lutheraner“; der Methodist: „Ich bin Methodist“; der Baptist: „Ich bin Baptist“; der Freigemeindier: „Ich gehöre zur freien Gemeinde“ usw. Wenn er antwortet: „Ich bin ein Christ“, so muß er sich sagen lassen: „Das sind wir alle; wir wollen wissen, wie du dich nennst, wozu du gehörst“. Antwortet er dann: „Ich gehöre zur Versammlung Gottes“, so ist es wieder nicht recht. Was soll er nun tun? Und wer trägt die Schuld an der Schwierigkeit? Warum ist der Name „Christ“ und die Zugehörigkeit zum „Hause Gottes, welches die Versammlung des lebendigen Gottes ist“, nicht mehr genügend? Jene, welche die Fragen stellen, mögen die Antwort hierauf geben.
Zuweilen hat man auf die Frage: „Wozu gehörst du?“ einfach geantwortet: „Zur Versammlung“, und dadurch allerdings der Möglichkeit eines Mißverstandenwerdens den Weg bereitet, als wäre „Versammlung“ nur eine Bezeichnung mehr, um eine bestimmte Anzahl oder eine Genossenschaft von Christen von anderen Benennungen zu unterscheiden. In den meisten Fällen wird dieser Gedanke dem Auskunftgebenden aber ganz fremd gewesen sein; denn wenn jemand den Ausdruck so verstehen würde, als ob die Wenigen oder Vielen, mit denen er sich an seinem Wohnort versammelt, mit Ausschluß der übrigen Gläubigen an jenem Orte, die Versammlung bildeten, so würde er sehr verkehrt denken und reden. Möglich ist es ja, daß, aus Mangel an Verständnis, bei Einzelnen je einmal solche Gedanken gewesen sind, aber es wäre doch unrecht, die Fehler Einzelner der Gesamtheit zur Last zu legen.
Ach! Wenn die Verwirrung nach außen und innen, in den Erscheinungen und in den Begriffen, nicht so groß wäre, so würde eine solche Frage überhaupt nicht gestellt werden und niemand in Gefahr kommen, eine unrichtige Antwort zu geben. Könnten wir uns wohl den Fall denken, daß der Herr Jesus die Frage: „Wozu gehörst du?“ an einen Gläubigen richten könnte? Wahrlich nicht, es sei denn, daß Er ihn von der Verkehrtheit seiner Zugehörigkeit zu irgendeiner von Menschen errichteten Körperschaft überzeugen wollte.
„Versammlung“ oder „Gemeinde“?
Über die beiden Ausdrücke „Versammlung“ und „Gemeinde“ ist schon viel und doch völlig ohne Grund gestritten worden. Weshalb die Übersetzer der „Elberfelder Bibel“ den ersten vorgezogen haben, geht aus der Vorrede zum Neuen Testament hervor. Irgendeine tendenziöse Absicht hat ihnen völlig fern gelegen. Als die erste Ausgabe der Übersetzung des Neuen Testaments erschien, gab es ja überhaupt nur ein verschwindend kleines Häuflein von Christen in Deutschland, die sich in der bekannten Weise versammelten. Hätten die Übersetzer ahnen können, zu welch falschen Auslegungen und welchen Unterstellungen die Wahl jenes Ausdrucks im Laufe der Jahre führen würde, möchten sie vielleicht, trotz ihrer Bedenken, die Übersetzung „Gemeinde“ gelassen haben,2 obwohl die Bedeutung von ekklesia in dem Worte Gemeinde nicht zum Ausdruck kommt. Wären wir in der glücklichen Lage, ein aus ekklesia gebildetes Wort zu besitzen, wie z.B. die Franzosen (eglise), so wäre jeder Streit beendet. Die englische Bibel hat church (Kirche), die holländische, gleich den meisten deutschen Ausgaben (außer den katholischen, welche „Kirche“ übersetzen): gemeente (Gemeinde).
Man wendet gegen das Wort „Versammlung“ ein, daß es nur die Bedeutung eines „einmaligen Sichzu- sammenfindens“, einer Zusammenkunft, habe; „gehen die Versammelten auseinander, so ist die Versammlung aus“. – Dem ist doch wohl nicht so. Daß das Wort diesen Sinn hat, ist zweifellos; aber es hat noch eine andere Bedeutung und ähnelt darin dem Worte „Gemeinschaft“. Man könnte sonst z.B. nicht von einer „gesetzgebenden Versammlung“, einer „Reichs-Versammlung“ und dergleichen reden, auch nicht an eine zu irgendeinem Zweck zusammengekommene Schar von Menschen sich mit der Anrede „Geehrte Versammlung“ wenden. Außerdem geht hervor, daß man unter Versammlung auch eine Körperschaft, die Versammelten, nicht nur das jeweilige Zusammensein, das Zusammenkommen verstehen kann. So ist „die Versammlung Gottes“ jene aus allen Völkern der Erde gesammelte und berufene Schar, die Versammlung der Berufenen, die allezeit vor Gottes Augen steht, obwohl sie über die ganze Erde hin zerstreut ist, und die ihren jeweiligen Ausdruck, ihre örtliche Darstellung, da findet, wo Gläubige sich einfach als solche, als Glieder des Leibes Christi, um Christum, ihr Haupt, scharen.
Doch genug. Der Leser wird verstehen, daß es weniger auf das Wort, den Ausdruck, ankommt, als auf das Wesen der Sache und auf das Erfassen und Verwirklichen des göttlichen Gedankens, der in dem Worte liegt. Darum, wer die Übersetzung „Gemeinde“ vorzieht, benutze sie ruhig; wenn er nur das Richtige darunter versteht. Aber er verurteile auch den nicht, der die Übersetzung „Versammlung“ als genauer und dem Sinne mehr entsprechend betrachtet. „Wenn es aber jemanden gut dünkt, streitsüchtig zu sein, so haben wir solche Gewohnheit nicht, noch die Versammlungen Gottes“ (1. Kor 11,16).
Zulassung zu den Vorrechten der Versammlung
Zum Schluß noch ein Wort über die Zulassung zu der Gemeinschaft und den Vorrechten der Versammlung oder Gemeinde. Diese war in den ersten Tagen der christlichen Kirche sehr einfach. Der Herr tat hinzu, und die bereits gesammelten Gläubigen erkannten freudigen und dankbaren Herzens die an, welche so in den Kreis eingeführt wurden. Die Gefahr des Eindringens unlauterer Elemente war auch schon deshalb gering, weil die Annahme des christlichen Bekenntnisses in jenen Tagen meist mit ernsten Schwierigkeiten und äußeren Verlusten verbunden war. Zugleich wirkte die Kraft des Heiligen Geistes inmitten der Versammlung noch ungeschwächt, daß etwa eindringendes Böses sogleich als solches erkannt und entfernt wurde.
Heute, in der Zeit des Verfalls, liegen die Dinge bekanntlich ganz anders. Es ist heute nötig, diejenigen, welche die Zulassung begehren, auf die Echtheit ihres Glaubens und ihre Reinheit in Wandel und Lehre hin zu prüfen. Wenn man sagt, die einzige Forderung, welche gestellt werden dürfe, sei die, daß ein Mensch durch den Glauben an Jesum Vergebung der Sünden erlangt habe, so geht das nicht weit genug. Verlangt man eine Unterwerfung unter gewisse Formen und Einrichtungen, eine genaue Übereinstimmung in allen Punkten der Lehre, so geht das zu weit. Wir haben kein Recht, ein menschliches Joch aufzuerlegen, und – wir sollen einander ertragen in Liebe. Worin bestehen denn die unerläßlichen Bedingungen? Wir haben sie schon genannt: Echtheit des Glaubens und Reinheit in Wandel und Lehre. Denn ein Mensch kann wirklich wiedergeboren sein und doch nicht dementsprechend wandeln; und ein Mensch kann wiedergeboren sein und einen tadellosen Wandel führen und doch ungesund sein in der Lehre. Gottes Wort aber gebietet uns, jeden Sauerteig, ob in Wandel oder Lehre, von uns fernzuhalten, denn „ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig“ (1. Kor 5,6; Gal 5,9). Selbstverständlich soll damit nicht gesagt sein, daß abweichende Meinungen über diesen oder jenen Punkt, verschiedene Auslegungen dieser oder jener Stelle nicht vorhanden sein dürfen – solche werden bis zum Ende hin bleiben – wohl aber, daß hinsichtlich der Grundwahrheiten des Christentums, wie z.B. über die Gottheit Christi, die Auferstehung des Leibes, über das völlige Verderben des Menschen, die Lehre von der ewigen Verdammnis und andere ähnliche Dinge, volle Klarheit bestehe. Ist ein Christ in einem solchen Kardinalpunkte ungesund, so kann von einer Zulassung keine Rede sein. Von solchen Leuten sollen wir uns „wegwenden“, sie „abweisen“, sie nicht einmal „grüßen“. (Vergl. Röm 16,17; 1. Tim 6,20; Tit 3,10; 2. Joh 10 u.a.St.) Solche nennt das Wort „Männer, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her“, „böse Arbeiter“, „Sektierer“ usw. (Apg 20,30; Phil 3,2; Tit 3,10).
Wie verhängnisvoll es ist, wenn ein einzelner Christ oder eine ganze Versammlung diese ernsten und bestimmten Weisungen des Wortes nicht beachtet, hat die Erfahrung hundertfach gelehrt. Nicht hat der gesunde Teil den ungesunden geheilt, sondern er ist von dem Gift mitangesteckt worden; der „Sauerteig“ hat seine verderbliche Wirkung immer wieder gezeigt. Vergessen wir darum nicht: „Die Furcht Jehovas ist: das Böse hassen“ (Spr 8,13), und „der Aufrichtigen Straße ist: vom Bösen weichen“ (Hiob 16,17).
Fußnoten