Betrachtung über den Propheten Obadja (Synopsis)
Von Edom ist in den Propheten oft die Rede. Der Vater dieses Volkes war Esau. Es stammte also, ebensowohl wie Jakob, von Isaak ab, hegte aber gegen die Nachkommen des jüngeren Sohnes, denen die Begünstigung zuteil geworden war, das Volk des HERRN zu sein, einen tief eingewurzelten Hass. Dieser Hass wird in Psalm 137,7 erwähnt. In Psalm 83 beteiligt sich Edom an dem letzten Bündnis gegen Jerusalem, dessen Zweck es war, den Namen Israels vom Erdboden zu vertilgen. Hesekiel 35 beschäftigt sich ebenfalls mit dieser beständigen Feindschaft Edoms (die sich schon im Anfang in seiner Weigerung, den Kindern Israel den Durchzug durch sein Land zu gestatten, offenbart hatte) sowie mit dem Wunsch Edoms, das Land Israel in Besitz zu nehmen. Unser Prophet führt die einzelnen Züge aus, in denen sich jener Hass bei der Einnahme Jerusalems, wo er zum vollen Ausbruch kam, offenbarte. Es ist möglich, dass bei der Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar so etwas zutage trat. In Psalm 137 sehen wir Edom als unversöhnlichen Feind Jerusalems und stand mit Babel im Bund.
Augenscheinlich bezieht sich die Weissagung Obadjas noch auf andere Ereignisse. Jerusalem wird wieder von den Nationen angegriffen werden, die ihren Hass gegen die Stadt des HERRN befriedigen und ihre ehrgeizigen Pläne verwirklichen möchten. Edom spielt bei dieser Gelegenheit eine traurige Rolle. Der Größe seiner Sünde entspricht auch das Gericht. Das Volk wird gänzlich ausgerottet werden. Wenn die übrige Welt voller Freude ist, dann wird die Verwüstung Edoms vollständig sein. Es war die Absicht Edoms gewesen, den Angriff der Nationen auf Jerusalem auszunutzen, um selbst das Land in Besitz zu nehmen; es hatte sich mit ihnen zum gemeinsamen Angriff verbunden, wobei es (wie es der Natur eines Volkes entsprach, das nach den Gewohnheiten der Araberstämme lebte) sich in den Hinterhalt legte, um den Flüchtlingen den Rückzug abzuschneiden, womöglich nach ihrem Vermögen die Hand auszustrecken und sie selbst ihren Feinden auszuliefern. Die Männer von Edom wussten nicht, dass der Tag des HERRN über alle Nationen nahe war und dass ihr Verhalten nur einen besonderen Fluch auf ihre Häupter bringen würde. Das Strafgericht, das über sie kommt, wird folgendermassen geschildert: Gott beraubt sie ihrer Weisheit; ihr Übermut verführt sie; ihre Kraft entschwindet ihnen, damit sie gänzlich vertilgt werden.
Wir haben bereits gesehen, dass sie sich dem letzten Bündnis gegen Jerusalem anschließen und sich an der Zerstörung jener Stadt beteiligen. Allein sie werden, wie aus Vers 7 hervorgeht, von ihren Bundesgenossen betrogen. Edom wird somit seitens seiner früheren Verbündeten schlecht behandelt und wird infolgedessen „klein unter den Nationen“ (V. 1. 2). Demnach bedient sich der HERR zur Ausführung seiner Rache zuerst der Nationen. Indessen knüpft sich an den Namen Edom (oder Idumäa) noch ein anderes, furchtbareres Ereignis, das dem HERRN Gelegenheit gibt, sein Strafurteil an diesem Volk zu vollstrecken. In Edom werden sich nämlich die Heere der Nationen in den letzten Tagen versammeln. Den Bericht hierüber finden wir in Jesaja 34 und Jesaja 63. Hier, in den Versen 5 und 6, namentlich aber in dem Rest des erstgenannten Kapitels (Jes 34) wird die Verwüstung, von der Edom betroffen werden wird, in Ausdrücken geschildert, wie sie nicht stärker sein können. Jesaja 63 zeigt uns, wie der HERR selbst zurückkehrt, nachdem er das Gericht vollzogen und die Kelter allein getreten hat. Von den Völkern waren keine bei ihm.
Schließlich wird Israel selbst in der Hand des Herrn als Werkzeug dienen, um das Gericht an Edom zu vollführen (V. 18). Die Vernichtung, von der bei Jesaja die Rede ist, betrifft besonders die Heere der Nationen, die sich in Edom zusammengezogen haben. Der Anteil an der Vollstreckung des Gerichts, der Israel zufällt, hat es mit dem Volk im allgemeinen zu tun; jedoch bin ich der Meinung, dass derselbe erst nachher zur Ausführung kommt, wenn Christus als Messias an der Spitze Israels stehen wird (vgl. V. 17 und 18). Für diese Auffassung der Stelle spricht auch Jesaja 11,14. Jedenfalls wird in jenem Augenblick Israel seiner Segnung bereits teilhaftig geworden sein.
Dass von Edom niemand übrigbleiben wird, geht auch aus den Versen 5, 6, 9 und 18 unseres Propheten sowie aus Jeremia 49,9; 10–22 hervor. Man wird ferner bemerken, dass bezüglich dieses Volkes nicht von Wiederherstellung eines Überrestes die Rede ist wie bei Elam und anderen Völkern. Die zuletzt erwähnte Weissagung enthält einen Abschnitt, in dem dieselben Tatsachen wie bei Obdaja, und zwar mit fast genau denselben Worten, angekündigt werden. In Hesekiel 35 und dem bereits angeführten Kapitel Jesaja 34 wird das nämliche Gericht angekündigt. Aus den beiden letztgenannten Kapiteln sowie aus Jesaja 63 geht hervor, dass es sich um die Rechtssache Jerusalems handelt, und dass der HERR mit Edom einen Rechtsstreit führt (Hes 35,11; Jes 34,8; 63,4). Zugleich bezeugen diese Stellen, dass die Liebesgedanken des HERRN, die er gegen Zion und gegen sein Volk hegt, nicht vergisst.
Am Schluss der Weissagung Obadjas zeigt Gott klar, was die Frucht von seinem Aufruf zur Buße sowie von seinem treuen, unerschütterlichen Festhalten an seinen Verheißungen und seiner nie ermüdenden Liebe sein wird. Kraft und Macht gegen jene furchtbaren Feinde sollen Israel gegeben werden, und es wird das Gebiet, in das seine Feinde eingedrungen waren, in Frieden besitzen. Auf dem Berg Zion wird Errettung sein; von dort aus wird das Gebirge Esaus gerichtet werden, und das Reich wird dem HERRN gehören. So, wie in Babel die in Verderben geratene Macht gerichtet wurde, so wird in Edom der Hass gegen das Volk Gottes gerichtet.