Lebendiger Glaube
Eine Auslegung des Briefes des Jakobus

Vorwort

Bibelausleger haben darauf hingewiesen, dass man das Neue Testament, ausgehend von den vier Evangelien, in vier „Familien“ gliedern kann. Bei den Briefen des Johannes und der von ihm aufgeschriebenen Offenbarung ist es nicht schwer, Rückbezüge auf das Johannesevangelium zu finden. Auch die paulinischen Briefe sind unschwer mit dem Lukasevangelium und der Apostelgeschichte zu verbinden. Lukas war einer der engsten Begleiter des Apostels Paulus.

Jakobus, Judas, Matthäus

Der Jakobusbrief und der Judasbrief sind mit dem Matthäusevangelium sozusagen seelenverwandt. Gerade Jakobus, der Bruder Jesu, bringt viele Zitate aus dem Matthäusevangelium. Jemand hat einmal gesagt: Jakobus schreibt weniger über den Meister als jeder andere im Neuen Testament. Aber seine Sprache ist dem Meister ähnlicher als jede andere des Neuen Testaments.

Sowohl das Matthäusevangelium als auch der Jakobusbrief zeigen den Übergang des Judentums zum Christentum. Matthäus behandelt dieses Thema im Blick auf den, der die Verkörperung wahren Christentums ist: Christus. Jakobus bezieht sich stärker auf das Leben des Volkes Gottes. Zusammen mit dem Judasbrief tragen alle drei Werke aber auch einen Endzeitcharakter. Matthäus spricht davon, dass Christus von seinem Volk abgelehnt wurde und damit die Zuwendung Gottes seinem Volk gegenüber ein Ende nahm. Jakobus spricht von der Endzeit des damaligen Judentums unter den ersten Christen. Judas wiederum zeigt uns die Endzeit des Christentums. So verbinden sich diese drei Bücher mit unserer Zeit, die ebenfalls den Charakter der Endzeit trägt. Wir stehen kurz vor dem Wiederkommen des Herrn Jesus.

Ein besonderer Brief

Der Jakobusbrief ist in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderer Brief. Er gehört vermutlich zu den unbekanntesten und damit am meisten vernachlässigten Briefen des Neuen Testaments. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass er zunächst an Israeliten geschrieben wurde. Er geht sogar noch weiter als die Petrusbriefe, die an Christen aus den Juden gerichtet waren. Jakobus wendet sich an alle zwölf Stämme Israels ausnahmslos. Das bedeutet, dass er nicht nur Gläubige im Blick hat, die somit von neuem geboren sind. Darin liegt bereits eine erste Besonderheit seines Briefes.

Dennoch kann die Tatsache, dass sich Jakobus zunächst an Israeliten richtet, keine Begründung sein, diesen wertvollen Brief beiseitezulegen. Einerseits ist er von Gott inspiriert und in den Kanon des Wortes Gottes aufgenommen worden. Andererseits spricht auch das Alte Testament zunächst in großen Teilen von der Geschichte und Prophetie Israels. Uns sollte klar sein, dass jedes Buch, das zum Kanon der Heiligen Schrift gehört, von großer Bedeutung auch für das Leben von Christen ist. Nicht, dass man jeden einzelnen Vers ohne Weiteres auf unser Leben beziehen könnte, aber Gott verbindet mit jedem Bibelbuch eine Botschaft, mit der Er uns Christen anspricht.

Der Jakobusbrief enthält fast keine (christliche) Lehre. Gott hat es für gut befunden, uns damit einen durch und durch praktischen Brief zu übermitteln. Es ist der Mühe wert, darüber einmal intensiver nachzudenken. Jakobus geht es nicht so sehr um grundlegende Dinge, obwohl er darauf im Verlauf des Briefes durchaus zu sprechen kommt. Er fokussiert sich auf die wahre Lebenspraxis von Christen. So empfinden wir die Wahrheit der Worte des Apostels Paulus in 2. Timotheus 3,16.17, die auch für den Jakobusbrief zutreffen: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt.“ Ohne das Verinnerlichen und Verwirklichen des Jakobusbriefes werden wir nicht praktisch vollkommen leben; das wird schon in den ersten Versen deutlich.

Die katholischen Briefe

Der Brief des Jakobus gehört zusammen mit den beiden Petrusbriefen, den drei Johannesbriefen und dem Judasbrief zu dem Teil des Neuen Testaments, der von vielen Auslegern mit „katholischen Briefen“ bezeichnet wird. Katholisch heißt „allgemein“ (kata lycos = für ganz/alle). Es handelt sich also nach allgemeiner Auffassung um „allgemeine“ Briefe, die sich ganz allgemein an alle Christen wenden. Relativ früh in der Kirchengeschichte ist dieser Begriff aufgekommen, möglicherweise schon bei dem Kirchenvater Origenes (ca. 185–254 n. Chr.), sicher jedenfalls bei Eusebius im 4. Jahrhundert.

Wie so oft treffen menschliche Namensgebungen nur teilweise oder überhaupt nicht den Kern der Sache. Denn tatsächlich trifft auf keinen dieser sieben Briefe zu, dass er an eine Art „allgemeine Empfängerschaft“ gerichtet wäre, vielleicht mit Ausnahme des ersten Johannesbriefes und des Judasbriefes. Natürlich ist es wahr, dass die Empfänger der „katholischen Briefe“ im Allgemeinen weiter gefasst sind als die andere Gruppe von Briefen im Neuen Testament, die Briefe des Apostels Paulus. Er wandte sich meistens an eine einzelne Versammlung oder an eine bestimmte Region (Galaterbrief). Manchmal schrieb er auch an Einzelpersonen. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Briefen und den „katholischen Briefen“ scheint aber nicht im Empfängerkreis der Briefe als vielmehr im Inhalt zu bestehen.

Der Wechsel zwischen den Briefen des Paulus und dem direkt vorhergehenden Hebräerbrief zum Brief des Jakobus ist tatsächlich auffallend. Das große Thema des Hebräerbriefes ist, dass Christen, die aus dem Judentum stammten, mit ihren alten Beziehungen und ihren früheren Bundesgenossen, den Juden, endgültig brachen. Die Judenchristen sollten ein für alle Mal auch praktischerweise die neuen himmlischen Beziehungen mit dem verherrlichten Christus, in die sie durch das Werk Christi eingeführt worden waren, verwirklichen. Dadurch gab es für die früheren irdischen und religiösen Bindungen keinen Platz mehr. Mit dieser Sichtweise beschäftigen sich die „katholischen Briefe“ gerade nicht.

Jüdischer Hintergrund des Jakobusbriefes

Die „katholischen Briefe“ werden in den alten Handschriften im Übrigen nicht, wie in unseren Bibelausgaben hinter, sondern vor die paulinischen Briefe gestellt. Im Fall von Jakobus ist das insofern ein passender Platz, als er von einem Zustand unter den ersten Christen spricht, wie man ihn in den Versammlungen Judäas ganz am Anfang der Christenheit fand. Er selbst war ja eine Säule in Jerusalem (Gal 2,9). So schreibt er, natürlich inspiriert durch den Geist Gottes, aus Umständen, die er von Jerusalem kannte und von Berichten, die Gläubige ihm weitergaben, die aus anderen Gegenden nach Jerusalem kamen.

In dieser Zeit hatte der Apostel Paulus noch nicht den ganzen Ratschluss Gottes über die Stellung des Christen und die Versammlung verkündigt. Viele Christen, die aus dem Judentum kamen, waren eifrig im Beobachten des Gesetzes (vgl. Apg 21,20). Gott ließ das in dieser Übergangszeit zu. Wir sollten auch nicht denken, dass die ersten Christen, die alle ursprünglich aus dem Judentum stammten, damals schon die alttestamentlichen Opfer und die damit zusammenhängenden priesterlichen Dienste aufgegeben hätten. Das mag für uns Christen aus den Nationen im 21. Jahrhundert komisch klingen. Aber wir urteilen manchmal sehr schnell aus unseren eigenen Umständen heraus. Wir sollten uns jedoch bemühen, die damalige Situation zu verstehen. Dann sind wir in der Lage, solche Ermahnungen wie die von Jakobus besser und richtig zu verstehen. Ein Bedenken der damaligen Lebensumstände ist letztlich wichtig, um den Jakobusbrief überhaupt richtig verstehen und anwenden zu können.

Wir finden zum Beispiel Hinweise auf die Synagoge, auf die Salbung und auch auf das Gesetz. Offenbar gingen die Christen zu diesem Zeitpunkt noch immer in die Synagogen. Die Versammlung (Gemeinde, Kirche) Gottes wird in diesem Brief nur einmal erwähnt. Die christliche Stellung wird uns nicht ausdrücklich vorgestellt. Vielmehr steht das Gesetz im Vordergrund. Dennoch werden wir sehen, dass Jakobus die christliche Stellung kennt. Anders ist es nicht zu verstehen, dass er von der neuen Geburt und von dem Innewohnen des Heiligen Geistes spricht. Er behandelt auch christliche Segnungen, die im Alten Testament nicht bekannt bzw. nicht gegeben waren.

Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten einzugehen, ist eine Schönheit dieses Briefes sicherlich die enge Verbindung mit Worten des Herrn Jesus, wie wir sie gerade im Matthäusevangelium finden. Man könnte fast sagen, dass dieser Brief eine Art Zusammenfassung und Auslegung der Bergpredigt (Mt 5–7) ist. Damit greift Jakobus zugleich die moralische Botschaft des Alten Testaments auf und zeigt, wie wichtig diese Belehrungen auch für uns Christen sind, wobei wir nicht unter Gesetz stehen. Das aber bedeutet nicht, dass diese Belehrung für uns zweitrangig wäre.

Martin Luther

Zum Schluss dieses Vorworts darf das bekannte Zitat des großen Reformators Martin Luther (1483–1546) nicht fehlen, der in seiner Ausgabe der Bibel im Jahr 1522 vom Jakobusbrief als von einer „strohernen Epistel“ sprach. Er meinte, dass der Brief aus seiner Sicht wenig Nützliches enthielte. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Luther später wohl nicht mehr in dieser Weise über den Jakobusbrief geschrieben hat. Jemand sagte als Antwort auf diese Aussage Luthers: Wenn der Brief strohern ist, so ist in dem Stroh viel starke, feste, nahrhafte Frucht.

Frank Binford Hole (1874–1964) sprach – ebenfalls als Antwort auf die Worte Martin Luthers im Blick auf den Jakobusbrief – vom „Vorschlaghammer Gottes“. Jeder Vers, jede Ermahnung habe eine solch direkte Wirkung auf unser Gewissen, dass Gott gewissermaßen mit einem eisernen Hammer einen Nagel nach dem anderen in unser Herz und Gewissen treibe. Man kann diese Worte bestätigen, wenn man sich einmal näher mit diesem Brief beschäftigt: Er hat einen höchst praktischen Wert für uns, wenn wir die Worte Gottes durch Jakobus kennen, darüber nachdenken und auch ernst nehmen.

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